Twos - Ein Märchen von Sommer...

Autorstwa MaraPaulie

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Als die Herrscher Twos verliessen, kein Ende nahm das Blutvergiessen. Wohin kein Blick der Spinne fällt, ihr... Więcej

Prolog
Kapitel 1 - Es war einmal...
Kapitel 2 - Von Wahnsinn...
Kapitel 3 - ... und Zorn
Kapitel 4 - Buntes Blut
Kapitel 5 - Die Herrscher der Hamronie
Kapitel 7 - Der Sommermacher
Kapitel 8 - Die Hochburg der Rebellen
Kapitel 9 - Das Attentat von LaRuh
Kapitel 10 - Hüter und Homunculus
Kapitel 11 - Die Last des Schicksals
Kapitel 12 - Tanz der Vampire
Kapitel 13 - Die Verlorenen
Kapitel 14 - Klyuss' Kind
Kapitel 15 - Wunschhandel
Kapitel 16 - Kaitous Winde
Kapitel 17 - Die Schlacht um Aramesia
Kapitel 18 - Lupus memoria
Kapitel 19 - Dom Askur
Kapitel 20 - Das verkaufte Schicksal
Charakterverzeichnis
Götterverzeichnis
Die Prophezeiung von Sommer und Winter

Kapitel 6 - Schicksalsfäden

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Autorstwa MaraPaulie

Wem das Blut in Schwarz gerinnt, in der Spinne Netz gespinnt.
Und wer sich nach Bestimmung sehnt, Spiegel werden abgelehnt.
Die Schuld der Eltern, vererbte Sünde, nur die Spinne kennt die Gründe.
Die Rettung kommt mit einem Preis. Folgt dem Ruf nach Feuer und Eis.

~Sabrina~
3. Haluk 80'024 IV - Ertrunkener Wald, Keo, Twos

Ihr Schlitten glitt durch den Schnee, der Morgen graute durch die Plane, noch immer war es bitterkalt.

Es hatte Sabrina Überwindung gekostet, wieder in ihr altes Gefängnis zu steigen. Der Schrecken der Nacht steckte ihr noch immer in den Knochen. Doch Reds Wahl, den Transporter für die Weiterreise zu nutzen, war nachvollziehbar; die Planwägen hätten nicht genug Platz für den verletzten Oskar geboten, der nun zwischen vier Kisten, Futtersäcken und der in die Filzdecke gewickelten Kinderleiche lag. Der Wolf rang sichtlich mit dem Tod. Seine Flanke hob und senkte sich bebend, leise winselte er vor sich hin. Drei Pfeile ragten aus seinem Bauch.

Red hatte wieder ihre Medizintasche hervorgeholt. Eben zog sie sich die Samthandschuhe ab und goss sich etwas Zwergenschnaps über die Finger. Mit einer riesigen, alten Spritze verabreichte sie Oskar eine grosse Dosis Schlummertulpenextrakt. Dann zog sie ihm mit routinierten Griffen die Pfeile aus dem Fleisch und versuchte, die tintenschwarze Blutung zu stoppen.

Die Geschwister Beltran sahen ihr dabei schweigend zu. Mile wurde irgendwann von der Erschöpfung übermannt, doch Sabrina konnte nicht schlafen. Sie war zwar mindestens so erschöpft, doch ihr Geist war zu ruhelos.

Schlussendlich schaffte die Rote es, ihren Wolf zu retten – jedenfalls fürs Erste. Dann erlaubte sie sich eine kleine Pause. Müde lehnte sie sich neben Sabrina an die Gitterstäbe und bettete die blutigen Hände in ihrem Schoss. »Nur ein Moment, ich kümmere mich gleich um deine Brandwunde.«

»Danke, lass dir den Moment«, antwortete Sabrina leise, um ihren Bruder nicht zu wecken. »Wird Oskar durchkommen?«

Müde nickte die Rote Frau. »Er hatte Glück. Die Pfeile haben seine Organe nicht verletzt, doch er hat viel Blut verloren. Aber wenn die Rebellen innerhalb einer Woche erreichen, wird er es schaffen. So lange sie dort einen Wiruri haben. Einen Elfenheiler

»Kann es sein, dass du auch Heilerin oder so was bist? Es sah aus, als hättest du so was schon mal gemacht.«

»Ich kenne mich ein wenig aus«, antwortete die Rote knapp.

»Du sprichst nicht besonders gern von dir, nicht wahr?«

Red taxierte sie mit ihren silbernen Augen. »Ich bevorzuge es, die Vergangenheit ruhen zu lassen«, brummte sie und rappelte sich wieder auf die Knie. »Komm, lass mich noch nach deiner Wunde sehen, danach können wir uns auch etwas aufs Ohr legen.« Sie brach einen Eiszapfen von der Decke und schrubbte sich damit Oskars Blut von den Fingern.

»Das ist okay, es ist dein Recht, doch da du nun an mir herumdokterst, wüsste ich schon gern, ob du weisst, was du tust.«

Das liess Red matt schmunzeln, während sie sich wieder ihre Samthandschuhe überstreifte. »Du bist in guten Händen. Ich habe neun Semester an der irdischen Universität in Lexika Medizin studiert.« Sie griff nach ihrer Medizintasche und suchte ein paar getrocknete Kräuter daraus hervor, um sie in einen kleinen Mörser zu geben.

»Dann bist du Ärztin?«, hakte Sabrina nach.

»Nicht ganz. Ich darf mich keine Medix nennen. Ich habe ein Jahr vor dem Abschluss abgebrochen, aber davor war ich eine hervorragende Studentin.« Für einen Moment liess Red ein wenig Stolz durch ihre Fassade schimmern.

Skeptisch musterte Sabrina die junge Frau. »Wann hast du zu studieren begonnen? Mit siebzehn?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Ich bin älter, als ich aussehe.«

»Und warum hast du abgebrochen?«

Darauf blieb die Rote ihr eine Antwort schuldig. Sie begann, die Zutaten im Mörser zu einem Brei zu mahlen.

»Na gut, andere Frage: Warum hast du zugestimmt, dass diese Leiche im Käfig bleibt?«, versuchte Sabrina es nach einer Weile des Schweigens, um ihr Gespräch nicht versiegen zu lassen. Sie deutete mit dem Kinn auf den eingewickelten Körper. »Wird sie keine Ghule anlocken?«

Red schüttelte den Kopf, ohne mit dem Mahlen aufzuhören. »Das ist ein totes Tintenwesen. Diese Körper verwesen nicht wie die Leichen von Normalsterblichen. Wenn Tintenwesen sterben, ereilt sie der Tod auf Zeit. Der Körper wird heilen und dann wird der Animus des Tintenwesens in den Körper zurückkehren.«

»Du bist auch so ein Tintenwesen, nicht? Deine Lippen haben die gleiche bläuliche Färbung wie die von Hänsel und Gretel.«

Die Rote nickte seufzend und strich sich das Haar zurück, das ihren Hals verhangen hatte. Auch sie trug alte Brandwunden. Sie waren besser verheilt als Gretels, sodass Sabrina das Motiv erkennen konnte. Das eine war das gleiche, was wohl auch sie verpasst bekommen hatte: Eine zerbrochene Feder, über der ein A schwebte, umgeben von einem Kreis. Das untere zeigte die Lilie der Inker.

Red war also auch schon einmal den Inkern zum Opfer gefallen...

Sie liess das dunkle Haar zurückfallen und deutete auf den Brei in dem Mörser. »Diese Salbe wird der Narbenbildung entgegenwirken, verschwinden wird dein Mal jedoch nicht. Ich habe aber etwas Schlummertulpe dazugemengt. Das wird die Schmerzen lindern.«

Sabrina schluckte und fuhr sich nahe des noch immer pochenden Mals über den Hals. Zu gerne würde sie einen Blick darauf werfen. »Du hast nicht zufällig einen Ersatzspiegel für mich? Meinen hast du ja geschrottet.«

Die Rote schüttelte den Kopf und schabte die Salbe auf ein Holzblättchen. »Halte dich von Spiegeln fern. Nur Häretiker und Unruhestifter umgeben sich mit ihnen. Keine gute Gesellschaft für dich, glaub mir.«

»Was für Unruhe kann man denn mit Spiegeln stiften?«, fragte Sabrina weiter. »Sind Spiegel in Twos magisch oder so? Drück dich doch bitte mal weniger kryptisch aus!«

»Sie sind nicht magisch.« Red rutschte näher an sie heran, um ihr die Salbe auf dem Holzplättchen am Hals aufzutragen. - Was auch immer in dem Zeug drin war, sobald es die Wunde berührte, dämpfte sie den Schmerz und kühlte das Brennen ab. Währenddessen erklärte die Rote: »Die dritte Lehre des Enigmanums besagt, dass es unser aller Pflicht ist, unser Schicksal zu erfüllen. Ohne Rechtfertigung, ohne zu fragen, verwebt die Schicksalsspinne unsere Schicksalsfäden in ihr Netz, um diese Welt und um uns herum. Und wir müssen das akzeptieren, nach den Fäden der Spinne tanzen. Denn tun wir das nicht, werden die Fäden reissen und das Schicksalsnetz, das diese Welt zusammenhält, wird zerfallen. Und mit ihm diese Welt.«

»Klingt eigentlich ähnlich wie da, wo ich herkomme«, meinte Sabrina. »Da glauben viele Menschen an einen allmächtigen Mann im Himmel, der das Weltgeschehen bestimmt. Und wer nicht mitmacht, muss auf ewig unter Qualen in der Hölle schmoren.«

»Ist er auch dein Gott?«, fragte Red, während sie ihren Medizinkram aufräumte.

Sabrina schnaubte. »Nö.« Dazu hatte der Pastor sie nie gekriegt...

Die Rote runzelte die Stirn. »Du klingst abschätzig? Keine Angst vor dieser Hölle?«

»Warum sollte ein guter, allmächtiger Gott so viel Ungerechtigkeit in der Welt tolerieren? Wenn es ihn also wirklich geben würde, wäre er ein riesen Arsch. Warum sollte ich so einen Gott verehren? Und das mit der Hölle ist mir zu viel Aberglaube. Ich glaube nur, was ich auch sehen kann.«

Die Rote gluckste. »Ausser du willst blind dafür sein...«

Sabrina zog die Schultern hoch und verdrehte die Augen. »Okay, verdient... Aber was hat das mit den Spiegeln zu tun?«

»Anders als der Gott aus deiner Welt ist das Schicksal nicht allmächtig. Spiegel befreien einen von der Bestimmung. Doch das gilt als Sakrileg, ein Verrat am Enigmanum und somit als eine Gefahr für das Schicksalsnetz und Twos. Ungläubige werden deshalb von der Gesellschaft verstossen.«

»Mit einem Spiegel wird man also immun gegen das Schicksal?«

»Sozusagen.«

Sabrina hob die Brauen. Was für eine seltsame Religion... »Und du glaubst an dieses Enigmanum?«

»In Twos ist das keine Glaubensfrage. Das Schicksal existiert, das ist unumstritten. Die Frage ist mehr, ob man das Schicksal akzeptieren kann.«

Sie schüttelte den Kopf. »Woher will man denn wissen, was das Schicksal ist?«

»Die meisten kennen ihre Bestimmung nicht, das ist wahr. Der Grossteil aller Schicksalsfäden ist auch nur dünn gesponnen und im Einzelnen unbedeutende Schicksale. Doch je mehr dieser dünnen Fäden reissen, desto instabiler wird das gesamte Netz, denn alles hängt miteinander zusammen. Und dann sind da die grossen Geschichten, die wichtigen Schicksalsfäden, die diese Welt tragen und beschützen.« Red hielt inne. Einen Moment schien sie zu zögern, doch dann fuhr sie fort: »Für diese Geschichten gibt es Prophezeiungen. Rätsel der Orakel; die Sprachrohre der Schicksalsspinne. Manchmal vergehen Jahrhunderte, bis sie sich erfüllen. Es gilt als Sakileg, sie aufzuschreiben oder zu lesen, weshalb sie nur mündlich überliefert wird. Diese Prophezeiungen sind sehr lang und deshalb werden sie über die Zeit verwaschen oder uminterpretiert. Die Zeit verwäscht die Worte.«

Sabrina schloss die Augen und schüttelte den Kopf. »Hänsel hat gesagt... Mile... wäre das Zeichen, dass eine Prophezeiung sich erfüllt. Und er nannte uns Herrscher der Harmonie. Heisst das... Mile und ich sind Teil einer solchen... Schicksalsspinnen-Prophezeiung?«

Die Rote wandte den Blick ab und lehnte sich wieder an das Gitter. »Ja... Ihr seid dem Anschein nach Lichterlord und Eiszarin, also nehme ich es an.«

Sabrina kniff die Augen zu Schlitzen. »Hast du uns deshalb mitgenommen?«

Red schien einmal mehr zu schweigen, doch schliesslich nickte sie.

»Aha«, machte sie. »Dann kennst du diese Prophezeiung?«

Die rote Frau verschränkte die Arme vor der Brust. »Es ist lange her. An viel davon kann ich mich nicht erinnern. Und wie gesagt: Diese Worte könnten von der Zeit verwaschen sein.«

»Und was wird mit uns geschehen?«, fragte Sabrina und ihr Herz schlug schneller. Ein Teil von ihr wollte es gar nicht wissen, doch ihre Furcht machte sie neugierig.

Aber Red Farkash schüttelte den Kopf. »Es ist besser, wenn du deine Bestimmung nicht kennst«, erklärte sie ernst. »Das macht alles nur viel komplizierter.« Ehe Sabrina einwenden konnte, zog sie sich die Kapuze ihres Umhangs über den Kopf. »Schlaf jetzt! Du übernimmst mit Hänsel die Mittagsschicht. Gute Nacht.«

Und damit schwieg Red wieder.

~Mile~
5. Haluk 80'024 IV - Delánsee, Turdidey, Twos

Die Reise wurde von Tag zu Tag härter. Die Kälte zehrte an ihnen. Wenn sie nicht Wache schoben, schliefen sie die meiste Zeit.

Nach zwei Tagen hatten sie die Grenze von Keo nach Turdidey überquert. Das war laut Hänsel gut, denn in Turdidey gab es keine Grauen. Dieses Reich war das letzte der Menschen, das noch nicht unter Kontrolle der Antagonisten stand. Die natürliche Grenze zwischen Keo und Turdidey war der Verlauf der Namida, eines breiten Flusses, der schliesslich in den Delánsee mündete. Über die zugefrorene Oberfläche dieses Gewässers setzten sie nun ihre Reise fort.

Mile hatte so seine Mühe mit gefrorenen Seen; seine Eltern waren tot auf einem gefunden worden. Die ›Twosi‹, wie Red, Hänsel und Gretel sich selbst bezeichneten, schienen aber noch ein viel grösseres Problem damit zu haben.

»Du weisst nicht, was darunter lauert«, hatte Hänsel ihm beim Frühstück im Käfig, dessen Plane sie vor dem Schneegestöber draussen schützte, leise zugemurrt, während er auf seinem Trockenfleisch gekaut hatte. »Weisse Kelpies, Eis-Kraken, Nixen...« Deshalb mussten sie auch so leise wie möglich sein, während sie über das Eis fuhren. Selbst die sechs Zugtiere schienen das zu spüren, denn nur sehr selten gaben sie noch ein Schnauben von sich.

Hänsel musste wissen, wovon er sprach, denn von Beruf waren die Geschwister Björkson Monsterjäger. Früher hatten die beiden jedes Untier kaltgemacht, für dessen Kopf der Preis stimmte. Doch seit der Machtübername der Antagonisten hatte sich das Blatt gewendet und aus dem Jäger war der Gejagte geworden. Doch da die beiden den Garraeli, dem kriegerischen Freien Volk vom Freien Land Garrael angehörten, hatten sie sich nicht von den Inkern fangen lassen und sich den Rebellen angeschlossen. Das hatten sie den Beltrans jedenfalls erzählt.

Als wäre die nagende Stille, in die sie sich hüllen mussten, nicht schon genug, hatte sich das Wetter sehr verschlechtert. Immer wieder mussten sie anhalten, sich im Käfig zusammenkauern, die Wände mit Decken isolieren und warten, bis die Schneestürme, regelrechte Blizzards, vorüberzogen.

So auch jetzt, als sie mal wieder zu fünft in dem Käfig kauerten. Die Björksons versuchten mit dem Kompass auf Hänsels Hand herauszufinden, ob sie noch den richtigen Kurs hatten, Red untersuchte Oskars Wunden, die sich zum Leidwesen der beiden entzündet hatten, die Leiche lag noch immer in der Ecke und die Geschwister Beltran sassen nutzlos daneben.

»Wir sollten unser Blut nutzen, um dem Rat der Rebellen eine Nachricht zu senden«, zischte Hänsel nun schon zum x-ten Mal in dieses Tagen. »Sie werden jemanden schicken, der uns abholt.«

»Nein«, antwortete Red so knapp wie bestimmt, während sie Oskars Wunde mit einem feuchten Lappen abtupfte. Die Schlummertulpe war bis auf die allerletzte Notration aufgebraucht, weshalb sie nun so sparsam wie möglich damit umging. Somit gab Oskar bei jeder Berührung ein herzzerreissendes Winseln von sich.

»Warum nicht? Was wäre die Alternative? Unsere Möchtegern-Herrscher ihre Götter dazu zwingen lassen, dass sie uns helfen?«, wollte Gretel wissen.

Ihr Bruder schnaubte . »Das wäre Wahnsinn! Den Göttern sind sie, mit Verlaub, noch nicht gewachsen!«

»Was?«, mischte Sabrina sich ein, doch wie immer, wenn es um Herrscher-Angelegenheiten ging, liessen die Twosi sie im Dunklen tappen und vermieden das Thema.

»Es wäre nicht wahnsinniger, als hier weiter durch die Kälte zu stapfen! - Warum benutzen wir das Blut nicht?«, fauchte Gretel. An Red gewandt bohrte sie boshaft lächelnd nach: »Willst du dir die Schmach ersparen, Deserteurin?«

Mile horchte auf. ›Deserteurin?‹

Die Rote tat so, als hätte sie nicht zugehört und streichelte ihrem Wolf beruhigend das Fell.

»Du wirst dich dem Rat ohnehin stellen müssen«, zündelte Gretel unerbittlich weiter. »Ich bin zwar kein Medix, aber dass deine Töle Fieber hat, sehe sogar ich. Du musst uns bis nach Turdus begleiten, an der Narbe sind die nicht gut genug ausgerüstet. Dem können nur noch die Elfen helfen, sonst ist er Ghulfutter!«

»Gretel!«, mahnte Hänsel seine Schwester mit Nachdruck, doch die liess nicht locker.

»Kommt schon, Kommandant. Habt Ihr etwa Angst davor, dass man Eure Erinnerungen nimmt und Euch in den Kerker steckt? Man wird Euch mit Sicherheit begnadigen. Schliesslich bringt Ihr den Rebellen die Herrscher der Harmonie! Jedenfalls den Lichterlord. Bei dem blonden Häuflein Elend da drüben bin ich mir noch nicht so sicher, ob sie als Eiszarin taugt.« Sie schenkte Sabrina einen abschätzigen Blick, den diese jedoch gekonnt mit gleicher Münze heimzahlte.

»Du kannst so nicht mit ihr reden, Gretel!«, zischte Hänsel seiner Schwester zu, was diese jedoch nur noch mehr aufzupeitschen schien.

»Pha!«, machte sie so laut, wie Mile es sich längst nicht mehr zu sein getraute. »Sie hat es selbst gesagt. Wir sind nicht mehr bei der Armee. Sie hat aufgehört, unser Kommandant zu sein, als sie sich entschied, uns im Verlies der Kristalltürme zurückzulassen und einfach abzuhauen!«

Das schienen ins Schwarze zu treffen, denn Red erstarrte.

»Manchmal frage ich mich echt, wie du mein Zwilling sein kannst«, brummte Hänsel grimmig und liess sich mit verschränkten Armen gegen die mit Decken behangenen Gitter fallen.

»Jetzt tu nicht so, als würdest du dich nicht verraten fühlen!«, schnaubte Gretel leise und gab ihm einen Klaps gegen den Oberarm.

»Hey, jetzt macht mal halblang«, versuchte Mile, Red zu helfen. »Worum geht es denn hierbei?« Er hatte genug davon, dass er ständig mit Halbwissen und -wahrheiten abgespeist wurde!

»Lass gut sein«, seufzte Red und widmete sich wieder ihrer Arbeit.

»Pha!«, machte Gretel wieder, nur nicht so laut wie zuvor, aber genauso trotzig. Wäre sie gestanden, hätte sie nun sicher mit dem Fuss aufgestampft. »Hättest du wohl gern, dass dein leicht entzündlicher Verehrer davon nichts zu hören kriegt!«, fauchte sie, und Mile wurde rot. Sie formte die Hände zu einem Trichter und hielt sie sich vor den Mund, um so zu tun, als würde sie es in die Welt hinausschreien. »Red Farkash war der Oberst - bekannt als Roter Kommandant - des Stützpunktes in Aramesia, bis die Grauen ihn vor rund dreissig Jahren eingenommen haben.«

»D-dreissig?«, wiederholte Mile und musterte Red. So alt konnte sie nie und nimmer sein!

»Alle Buntbluter wurden versklavt oder umgebracht und die Tintenwesen haben sie nach Tempus gebracht und ins Verlies geworfen, um ihnen ihr Blut zu stehlen«, fuhr Gretel fort, ohne auf ihn Acht zu nehmen. »Und sobald sich die erste Gelegenheit bot, ist sie abgehauen. Sie hat nicht einmal versucht, ihren Kampfgefährten, ihren Verbündeten, ihren Freunden zu helfen! Und als sie frei war, ist sie zu den Rebellen zurückgekehrt? Nein! Lieber hat sie sich im Wald versteckt. Und nun traut sie sich nicht mehr, vor die Rebellen zu treten, kann nicht einmal gradestehen für ihre Entscheidungen.« Sie liess die Hände sinken und mit treffend ehrlichen Enttäuschung zischte sie: »Wie feige!«

Nun schien es auch Red zu viel zu werden. Mit peitschendem Umhang wirbelte sie herum. »Ich... Was hätte ich-« Sie stockte, schluckte, ihr Blick flackerte. »Hätte ich euch mitnehmen können, hätte ich es getan, glaubt mir.«

Hänsel seufzte. »Ach komm, ist schon in Ordnung. Gretel und ich haben es gerade so lebendig da raus geschafft, aber allzu weit sind wir nicht gekommen, wie du sehen kannst. Wir haben auch nicht mehr als uns selbst und den Kleinen befreien können.« Traurig deutete er auf die Leiche in der Ecke. »Wenn der nicht gerade wie durch Zufall in die gleiche Zelle wie wir gesperrt worden wäre...« Er liess die Schultern sinken. »Ach was, vielleicht wäre er dann wenigstens noch am Leben...«

»Wer war er?«, hakte Sabrina betroffen nach. »Ihr sagtet, er wäre noch ein Kind.«

»Er war noch nicht tot, als wir abgehauen sind.« Hänsel machte ein so grimmiges Gesicht, dass seine tätowierte Narbe sich wie ein Fluss zwischen dem Gebirge aus Falten auf seiner Stirn schlängelte. »Wir wurden aus unserem Gefängnistrakt evakuiert, da sich dort einige Insassen mit der Pestilenz infiziert hatten. Deshalb wurden wir in andere Zellen gesperrt, mit anderen Leuten. So lernten wir den Kleinen kennen. Pinocchio hiess er.«

»Pinocchio? Der Junge aus Holz? Der, der ein ›richtiger Junge‹ werden wollte?«, fragte Mile aufgeregt. Nun wollte er doch zu gern das Laken von der Leiche ziehen. Wie lang wohl seine Nase war?

»Aus Holz war er nicht«, antwortete der Hüne langsam und sah ihn dabei an, als wäre er derjenige, der gerade Märchen erzählte.

»Ein richtiger Junge aber auch nicht«, ergänzte Gretel. »Der Knirps sah aus wie ein fleischgewordener Flickenteppich. Er ist ein Homunculus. Nur leben solche Viecher eigentlich nur ein paar Tage, aber diesen haben wir Wochen leben sehen. Lag vielleicht an seinem Tintenblut – wer weiss?«

»Ein Homunculus ist ein künstlich erschaffener Mensch, ein Mensch ohne Seele«, erklärte Hänsel den Geschwistern Beltran freundlicherweise. »Solche zu erschaffen, ist eigentlich verboten, da es ein grausiges Werk ist. Man setzt den Körper aus Leichenteilen zusammen. Dass jemand so etwas mit einem Kind gemacht hat, ist ... widerwärtig! Oft geht dabei etwas schief und die Kreatur leidet Qualen bis zu ihrem Tod. Dass so ein Wesen Tintenblut haben kann, hätte ich, bevor ich den Jungen sah, nicht für möglich gehalten...«

»Jedenfalls kam eines Abends der Kleine auf uns zu und verlangte, dass wir fliehen und ihn mitnehmen müssten«, schilderte Gretel weiter. »Er behauptete, er habe wichtige Informationen, die den Verlauf des Krieges bestimmen würden.«

»Und ihr habt ihm geglaubt?«, fragte Red und betrachtete mit gerunzelter Stirn die in Leinen gewickelte Leiche.

»Anfangs nicht«, brummte der Hüne. »Doch irgendwas war mit dem Jungen, denn die Antagonisten liessen ihn immer wieder zu sich bringen. Wir versuchten, ihn auszufragen, mehr zu erfahren, doch der Junge verriet uns nichts. Er beharrte darauf, dass wir ihn befreien und zu seinem Vater, einem sogenannten Geppetto, bringen sollten. Der sei bei den Rebellen in Turdidey zu finden. Und so begannen wir, unsere Flucht zu arrangieren.«

»Wie?«, wollte Red wissen. »Ich habe nie von jemandem gehört, der es noch da raus geschafft hat.«

»Es waren auch weniger wir, die das in der Hand hatten«, gab Hänsel zu, der einer giftigen Bemerkung seiner Schwester zuvorkam. »Der Widerstand hat mit uns Kontakt aufgenommen.«

»Lass es, Hänsel. Wie sie geflohen ist, wird sie uns bestimmt nicht verraten«, funkte Gretel dazwischen, doch sowohl ihr Bruder als auch Red ignorierten sie.

»Es gibt in Tempus noch einen Widerstand?« Die Rote schüttelte ungläubig den Kopf. »Ich dachte, die Antagonisten hätten diese Bewegung längst im Keim erstickt.«

»Nicht alle«, schmunzelte Hänsel. »Sie sind nicht viele, aber genug, um zwei Garraeli lebendig aus der Hölle zu schleusen.«

»Tja, für den Homunculus ist es leider nicht so glatt gelaufen«, spottete Gretel. »Eines Tages brachten die Soldaten ihn im Koma liegend zurück.«

»Im Koma? Was haben sie mit ihm gemacht?«, fragte Sabrina betroffen. Was hatte es wohl mit der Twos-Variante von Pinocchio auf sich?

»Das wissen wir nicht. Doch es war für uns klar, dass da mehr dahinterstecken musste«, erklärte der Hüne mit etwas abwesendem Blick. »Deshalb haben wir ihn trotz des Komas mitgenommen, als die Widerstandskämpfer uns aus der Zelle schleusten. Sie hatten eine Lücke im Patrouillennetz der Grauen entdeckt und dieses genutzt. Durch die Kanalisation und ein paar einsturzgefährdete, uralte Zwergentunnel sind wir aus der Stadt gelangt.« Hänsel seufzte. Sichtlich berührte berichtete er weiter: »Der Junge war zäh. Er hielt fast eine Woche durch. Wir hatten versucht, in Sywarn einen Medix oder Magier aufzutreiben, aber wir haben keinen gefunden. Als der Kleine dann tot war, konnten wir ihn nicht einfach dort lassen. Wir hatten vor, ihn nach Palyas zu bringen, um ihn dort von einem Nekromanten, einem alten Bekannten von uns, seine Geheimnisse von der toten Zunge zu locken. Wir stiegen in Sywarn auf ein Schiff nach Parall, doch dort erwarteten uns bereits die Inker.«

»Der verfluchte Bastard von Nekromant hat uns verraten. Wir hätten ihn und seine Machenschaften nie tolerieren dürfen. Ein Schwarzmagier bleibt ein Schwarzmagier, egal ob er ganz nett wirkt und einen mal auf einen Kessel Gulasch eingeladen hat.« Gretel spuckte verächtlich zu Boden.

»Jetzt sind wir klüger«, bestätigte sie ihr Zwillingsbruder. Dann wandte er sich Red zu. »Wir hatten Glück, dass die Inker eigentlich auf dem Weg nach Villeverre waren, sonst hätten die uns gleich wieder nach Tempus gebracht und wir wären noch eine weitere Ewigkeit im Kerker der Kristalltürme vermodert. Wir können uns nur dafür bedanken, dass du uns das erspart hast.«

Glücklicherweise verstand die Rote, dass dies wohl die Art des Garraelis war, den Konflikt zu begraben und sie willigte ebenfalls mit einem Nicken und einem schmalen Lächeln ein.

»Toll!«, rief Gretel, die genauso viel Taktgefühl wie Lautstärkeregulation besass. »Und da wir uns ja jetzt alle wieder liebhaben, schlage ich vor, wir benutzen endlich die verdammte Tinte, um den Rat der Rebellen um Hilfe zu bitten, damit wir nicht auf diesem verschissenen See erfrieren!«

Das Lächeln auf Reds Lippen erstarb. »Nein!« Sie stapfte zur Käfigtür und spähte hinaus. »Es hat zu schneien aufgehört. Wir können weiter.« Schon sprang sie in den Schnee und liess zwei frustrierte Gaerraeli, zwei verwirrte Berliner, einen fiebrigen Wolf und eine Kinderleiche auf ihren Fragen sitzen.

~Sabrina~

Ein paar Stunden später fand Sabrina sich allein mit Red im Inneren des Transporters. Mile und Hänsel schoben Wache, Gretel hatten etwas an die Sonne gewollt. Entschlossen, diese Gelegenheit zu nutzen, packte Sabrina ihr Akhlutfell fester und schob sich näher an Red heran, die dösend an den Kisten lehnte.

»Hey... Red!«

»Hmm?«, machte sie und blinzelte sie müde an.

Sabrinas Hand glitt in ihre Jackentasche, wo sie ihr Tablettendöschen verstaut hatte. Ihr leeres Tablettendöschen. Vor drei Stunden hatte sie die Letzte geschluckt, nun fürchtete sie, jeden Moment von den Stimmen heimgesucht zu werden. »Dürfte ich mir deinen Obsidian ausleihen?«

Erstaunt setzte Red sich auf und musterte sie skeptisch. »Wozu brauchst du denn den?«

Sabrina seufzte tief. Sie zog das Döschen aus ihrer Tasche und reichte es ihr. »Das ist ein Medikament, das ich nehme, seit ich klein bin. Ich...«, sie zögerte, es kostete Überwindung, doch dann fuhr sie fort: »Ich leide unter einer psychischen Krankheit namens Schizophrenie. Da hört man Stimmen, die gar nicht da sind, hat Halluzinationen und üble Albträume. Ohne meine Medikamente bin ich... richtig am Arsch, okay? Nun ist es so, dass ich vor einigen Tagen herausgefunden habe, dass Obsidian gegen die Schizophrenie hilft. Genaugenommen ist gemahlener Obsidian mein Medikament. Darum brauche ich einen und du hast doch welche dabei, da dachte ich...«

Da machte die Rote ein ganz eigenartiges Gesicht. »Ist dir jemals in den Sinn gekommen, dass du gar nicht krank sein könntest?«

Sabrina blinzelte überrascht, dann verhärtete sich ihre Miene. »Du willst darauf hinaus, dass meine Verrücktheit irgendwas mit Magie zu tun hat, oder? Nein, Red Farkash, nein. Ich habe Miles Feuerspuckerei auch gesehen, aber das heisst noch lange nicht, dass meine Krankheit eine Superkraft ist. Darf ich jetzt bitte den Obsidian haben?«

Die Rote biss sich auf die leicht bläuliche Lippe. Sie holte Luft und sagte dann klar und deutlich: »Nein.«

Sie stöhnte auf. »Warum?!«

Red richtete sich auf und gab ihr das Döschen zurück. »Du musst lernen, auch Dinge zu glauben, die du nicht sehen kannst.«

Fassungslos schüttelte Sabrina den Kopf. »Was weisst du schon! Du kennst mich nicht und Mile auch nicht und... Weisst du eigentlich, wie beschissen Schizophrenie ist?!«

Red liess sich auf die Knie und streichelte Oskar, der im Fiebertraum zu fiepen begonnen hatte, beruhigend über die Flanke. »Das stimmt, Sabrina, ich kenne euch Beltran-Geschwister nicht. Doch ich weiss, was ihr seid.«

»Bullshit!«, krächzte sie und spürte, wie sich ein Kloss in ihrem Hals bildete. Ein grosser, panischer Kloss, der schmerzlich gegen das Brandzeichen an ihrem Hals drückte. »Und komm mir jetzt nicht mit deiner Schicksals-Sekte!«

Die Rote zog sich wieder ihre Kapuze über den Kopf und legte sich neben Oskar. »Schicksal hin oder her; in dir schlummern Kräfte, Sabrina. Du wirst wie die Zarinnen vor dir lernen, mit ihnen umzugehen. Vertrau mir, es ist besser, dich so schnell wie möglich vom Obsidian unabhängig zu machen. Und jetzt lass mich weiterschlafen.«

~Mile~

»Red war also dein Kommandant?«, fragte er unschuldig und liess die Beine über den Rand des Kutschbocks baumeln.

Hänsel sass neben ihm, die Zügel in den Händen und den düsteren Blick starr auf die ewige Wolkendecke gerichtet. Am Horizont ragten die Baumwipfel des Turdus-Waldes auf. - Immerhin ein Hoffnungsstreif. »Eigentlich der Oberst, aber das ist lange her«, brummte er grimmig und starrte weiter.

Vorsichtig spähte Mile über die Schulter auf den Käfig, auf dem Gretel hockte und Ausschau nach Gefahr hielt. Sie schien mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt zu sein, also wagte Mile, weiter zu bohren: »Dreissig Jahre hat Gretel vorhin gesagt.« Er fühlte sich wie ein Idiot, wie ein verfluchter Idiot, doch er wollte unbedingt mehr über die geheimnisvolle rote Frau erfahren. Die vergangenen Tage hatte er immer wieder versucht, sie besser kennen zu lernen, doch sie machte es einem mehr als schwer. Jeder Frage, die etwas mit ihr und ihrem Leben zu tun hatte, wich sie aus und wenn man zu oft nachhakte, begann sie gar nicht mehr zu antworten. Noch nie war Mile jemandem begegnet, der einen so gut anschweigen konnte wie Red. Dank Gretel endlich etwas um die mysteriöse rote Frau zu erfahren, war wie ein Geschenk. Da die Garraeli ihm jedoch irgendwie einschüchterte, hielt er sich lieber an ihren Zwillingsbruder.

»Ich würde es vorziehen, nicht weiter darüber sprechen zu müssen.« Missmutig kratzte sich der Hüne am Kinn, das er ziemlich schlecht rasiert hatte, denn so ohne Spiegel war das verständlicherweise nicht so einfach.

»Du siehst selbst nicht älter als dreissig aus. Und obwohl du diese Schlacht in diesem ›Aramesia‹ nicht als Baby geschlagen haben kannst, auch nicht älter. Red scheint mir sogar jünger als Gretel und du. Woran liegt das?«, fuhr Mile unbeirrt fort.

Mit einem Blick auf seinen Kompass-Tattoo zog der Monsterjäger ein wenig an den Zügeln, um den Kurs der Rentiere zu korrigieren. »Das weisst du nicht? Wie viel ist den Modi denn über Twos bekannt?« Hänsel war der einzige, der wirklich Rücksicht auf ihre Herkunft nahm und ihnen ab und an Begriffe wie ›Jeshin‹ oder ›Kielnarbe‹ übersetzte, wenn sie im Gespräch fielen. – Bei Ersterem handelte es sich übrigens um ein Reich nördlich von Turdidey. Letzteres war die Bezeichnung für die Narben, die Tintenwesen an Stellen trugen, von denen man leicht Blut zapfen konnten. Diese konnten von Inkern, aber auch selbst zugefügt worden sein. Beispielsweise, um das eigene Blut es für etwas Geld auf dem Schwarzmarkt zu verticken – Laut Gretels Geschichten ein gefährliches Geschäft...

»Gar nichts«, antwortete Mile und warf die Hände in die Luft. »In Modo weiss man nicht einmal von Twos' Existenz!«

»Dann solltest du als erstes erfahren, dass Twos die Welt der Märchen, Sagen, Fabeln und Legenden ist. - Die sogenannten Tintenwesen.«

»Hänsel und Gretel, Rotkäppchen und nun auch noch Pinocchio? Ist mir nicht aufgefallen! Aber was hat es dann mit diesen ganzen Märchen auf sich?«, wollte er wissen. Er kam sich fast wieder wie ein neugieriges Kind vor, doch alles hier war so remd, aufregend und spannend. »Was sind Tintenwesen?«

Er gluckste. »Nun, die Ramos - also jene, die sich ganz und gar dem Enigmanum verschrieben haben - glauben, dass alle Tintenwesen mit Fäden des Schicksalsnetzes verwoben sind.«

Mile runzelte die Stirn. »Aber ich habe kein Tintenblut und ich scheine ja auch wichtig in dieser Prophezeiung zu sein, nicht wahr?«

Der Garraeli rutschte auf dem Kutschbock herum, auf einmal schien er sich unwohl zu fühlen. »Also... ich denke schon...« Er räusperte er sich und erklärte schnell: »Deshalb denke ich auch, dass die Ramos hierbei falsch liegen. Diese Spinner überinterpretieren wohl auch einfach ihre ganzen alten enigmanischen Schriften. Die Elfen haben eine viel logischere Erklärung dafür gefunden: Wer zu einer Geschichte wird, dem fliesst fortan Schwärze durch die Adern. Man wird zu einem Tintenwesen, gebunden an Twos, wird ein Teil dieser Welt und steht in Verbindung mit Modo, wo wir niedergeschrieben sind. Wir leben so lange, bis wir vergessen werden oder man uns umbringt. Der Tod ist aber nur vorrübergehend, Tintenwesen erstehen nach einer gewissen Zeit wieder auf.«

»Dann seid ihr ja beinahe unsterblich! Okay, aber... warte mal, wie funktioniert das? Jemand schreibt eine Geschichte und die taucht dann in dieser Welt auf? Oder umgekehrt? Ihr erlebt hier eure Abenteuer und dann hat irgendjemand einen Geistesblitz und schreibt einen Bestseller?«

Er schüttelte den Kopf. »Das kam beides vor, aber es ist lange her.«

»Warum? Ist das denn heute nicht mehr so?«, fragte Mile, der schon damit geliebäugelt hatte, sich vom Sprechenden Hut in Gryffindor einteilen zu lassen oder eine Safari durch Mittelerde zu machen.

»Genau weiss ich das nicht, das geschah alles lange vor meiner Geburt. Mein Vater erzählte mir jedoch einmal, dass die Herrscher Aodhan und Berfin während des Rabenkrieges beinahe alle Portale zerstört hatten. Da sie die Verbindung zu Modo sind, nehme ich an, dass diese dadurch verschlechtert wurde. Darum kommen kaum noch neue Geschichten nach Twos durch. Wenn man dem Sakratum, der ersten Lehre des Enigmanums, Glauben schenkt, war Twos' Ursprung die Fantasie. Als die Menschen begannen, Geschichten zu erzählen und zu erfinden, war die Macht der Vorstellungskraft geboren und diese reichte aus, um am Weltenbaum einen neuen Zweig – die Welt Twos – aus Modos Ast spriessen zu lassen.«

Mile runzelte die Stirn und sah zu der fremden Sonne auf, an die er sich fast schon gewöhnt hatte. »Aber so wie ich es in der Schule gelernt habe, gibt es Menschen erst seit etwa 300'000 Jahren und das waren auch nicht mehr als Primaten... Sozusagen Affen mit spitzen Steinen bewaffnet. Und die haben sich schon Geschichten erzählt?«

»Die Zeit in Twos vergeht anders als in Modo. In einem Monat deiner Welt vergeht hier ein Jahr.«

»Ach, dann sind Sabrina und ich nur für einen Monat in Modo verschwunden. Das ist ja mal eine verhältnismässig gute Neuigkeit.« Bei dem Gedanken an die Heimkehr musste er wieder an die Schrecken ihrer letzten Tage bei den Tallos denken. Und an Wilhelm Zorn, der sich als Wilhelm Grimm offenbart hatte. »Nun sag schon Hänsel: Wie alt bist du eigentlich?« Das Märchen Hänsel und Gretel musste vor rund 200 Jahren in Modo geschrieben worden sein...

»Hmm ...« Der Hüne knirschte nachdenklich und deutlich hörbar mit den Zähnen. »Ich habe irgendwann aufgehört die Jahre zu zählen. Doch Gretel und ich wurden in etwa zur Zeit der letzten grossen Pestilenz-Epidemie im Westen geboren und das wird nun rund 2500 Jahre her sein.«

Mile nickte. Je nachdem, nach welcher Version sich diese Welt, das Universum oder seinetwegen auch das Schicksal orientierte, war Rotkäppchen wie die Björkson-Zwillinge um die 2500 Jahre alt, wenn nicht älter. Wie konnte ein Mensch, der bereits so lange lebte, so wenig von sich zu erzählen haben?

~Sabrina~

Heute war Sabrina das erste Mal mit der Nachtschicht dran und hätte sie behauptet, dass ihr das nichts ausmachte, wäre es gelogen. Twos' Dunkelheit barg zu viele Schrecken. Vor allem teilte sich Gretel die Schicht mit ihr. Die Garraeli war irgendwie gruselig, aber sie wagte nicht, sich zu beschweren. Es war weder die Zeit noch der Ort für so was.

Am Himmel zogen die Polarlichter ihre grün glimmenden Bänder über die Monde und Sterne und erhellten die Nacht. Ein kalter Hauch strich über das Weiss und wirbelte den Pulverschnee auf.

»Schieb dir das Fell über den Kopf«, riet ihr Gretel im Flüsterton. »So verlierst du zu viel Wärme.«

Sabrina gehorchte, obwohl sie nicht fror. Sie wollte Diskussionen mit Gretel lieber vermeiden. Ob die schon immer so gewesen war? Oder hatten sie die zweieinhalb Jahrtausende, die sie bereits auf dem Buckel hatte, so griesgrämig werden lassen? Als Mile ihr vor dem Abendessen die Sache mit der Unsterblichkeit und dem Modo-Monat-Twos-Jahr-Verhältnis erzählt hatte, war ihr das sofort einleuchtend erschienen. Ewig leben. - Kein Wunder, dass hier alle eins an der Klatsche hatten!

Mit einem Mal rutschte Gretel von ihrer Seite des Käfigdachs, auf dem sie ihre Schichten hielten, zu ihr herüber. »Ich habe dich heute mit Farkash streiten hören«, flüsterte sie ihr zu und im Licht der Laterne, die sie zwischen sie stellte, lächelte sie verschlagen. »Du brauchst also ein Mittel gegen deine Dämonen?«

Sofort schoss Sabrina die Röte ins Gesicht. »Das geht dich nichts an!«

»Hey, ganz ruhig, Kleine«, beschwichtigte Gretel, die Hinterlist wich jedoch nicht aus ihrer Miene. »Du hast recht, es geht mich nichts an. Ausserdem ist es mir egal. Jeder von uns hat doch den ein oder anderen Schatten im Kopf, dem er zu entrinnen sucht.«

Sabrina antwortete nicht. Sie zog sich das Fell nur noch tiefer ins Gesicht und rutschte von Gretel weg.

»Ich weiss ja nicht, wie lange du es aushältst, aber ich hoffe für dich, dass du es bis zur Langen Narbe schaffst. Allein bis zu diesem Stützpunkt brauchen wir mindestens noch vier Tage.«

Vier Tage. Vier. Eine Psychose hielt sie keine halbe Stunde aus, wie sollte sie da ganze vier Tage aushalten?

»Was ist denn? Alles okay? Du bist auf einmal so blass geworden.« Die Gehässigkeit in ihrer Stimme war unüberhörbar.

»Verpiss dich, Gretel!« Ihre Hand klammerte sich so fest um das Medikamentendöschen in ihrer Tasche, dass sie fürchtete, es müsse bersten.

»Hey, keine Angst, kleine Eiszarin. Ich will dir helfen.«

»Ach? Willst du?« Ihre Stimme zitterte und sie hasste, wie hilflos sie sich fühlte.

»Ja doch.« Gretel deutete auf den Käfig unter ihnen. »Ist dir aufgefallen, dass die Gitterstäbe schwarz lackiert sind?«

Langsam nickte Sabrina.

»Die Inker kippen gemahlenen Obsidian in die Farbe. Somit halten sie magiebegabte Wesen davon ab, ihnen was anzuhexen. Wenn es also ganz schlimm wird, musst du nur den Käfig berühren, dann bist du okay.«

Das erstaunte Sabrina. Sie hatte nicht erwartet, einen brauchbaren Tipp von der Monsterschlächterin zu bekommen. »D-danke«, stammelte sie und vergass vor lauter Überraschung zu flüstern.

»Nun habe ich dir geholfen, jetzt hilfst du mir. Was meinst du?«

Klar, die Sache hatte einen Haken, doch so leicht würde Sabrina sich nicht von Gretel zu einer Schuld zwingen lassen. »Kommt darauf an, was du willst.«

Gretel sah sich um, wie um auch ganz sicher zu gehen, dass Red nicht aus der nächsten Schneedüne springen und »Erwischt!«, brüllen würde, doch unter ihnen waren die leisen Schlafgeräusche dreier Personen und eines Wolfes zu hören und selbst die Rentiere schlummerten friedlich in ihrem Bett aus Schnee. »Kannst du schreiben?«

Sabrina nickte. »Klaro. Du nicht?«

»Die Vorurteile, die Garraeli bestünden aus einer Horde Wilder, sind nicht frei erfunden. Im Freien Land gibt es nur wenige Schulen. Und für die Kinder eines armen, verwitweten Holzfällers gab es keine freie Bank.« Sie schien sich für diese Schwäche rechtfertigen zu wollen und Sabrina machte nicht den Fehler, sie deshalb aufzuziehen.

Stattdessen nickte sie nur und fragte: »Und wie kann ich dir jetzt helfen?«

»Du musst die Nachricht an den Rat der Rebellen schreiben.«

»Was? Aber Red-«

»Farkash kann mich mal!«, unterbrach die Jägerin sie barsch. »Ich bin nicht nach drei Jahrzehnten Gefangenschaft aus dem Verlies der Antagonisten ausgebrochen, um auf dieser Reise zu erfrieren! Mir egal, dass Farkash keine Lust mehr auf die Rebellion hat. Wir lassen den Rat wissen, dass wir dich und deinen Bruder dabeihaben und sie uns schleunigst abholen sollen.«

Sabrina schüttelte den Kopf. »Was soll das mit mir und Mile? Was will der Rat mit uns?«

Gretel schien mit sich zu ringen. Ihre dunklen Augen suchten Sabrinas Gesicht ab. Schliesslich seufzte sie entnervt und zischte: »Pass auf; ich erzähle dir, was du wissen willst und du schreibst den scheiss Brief.« Sie spuckte sich in die Hand und hielt sie ihr hin. »Abgemacht?«

Natürlich hätte Sabrina einen Fingerschwur bevorzugt, doch der Wissensdurst liess sie ihren Ekel vergessen. Herzhaft spuckte sie sich ebenfalls in die Rechte und schüttelte Gretels. »Na dann, lass hören!«

Wieder seufzte Gretel, um ihre Demotivation Kund zu tun. »War ja klar, dass ich es bin, die dich über diesen ganzen Scheiss aufklären muss. Farkash - Feige wie immer.« Sie spuckte den Namen aus, als wäre er eine faule Frucht. Dann begann sie zu erzählen: »In der Nacht der roten Kronen schlugen die Antagonisten zu, liessen jeden bunt blutenden Monarchen ermorden und entführten die, die Tintenblut hatten. Und dann überfielen sie Tempus – die Hauptstadt des Kontinents – und die Tore standen ihnen offen, denn die Herrscher der Harmonie, waren verschwunden.«

»Diese ›Herrscher der Harmonie‹ habt ihr nun schon einige Male erwähnt. Aber wer oder was sind die?«, wollte Sabrina wissen. Ihre Hände, noch immer ihr Tablettendöschen umklammernd, waren ganz schwitzig vor Aufregung.

»In der ersten Lehre des Enigmanums, dem Sakratum, heisst es, dass die Ersten – die Urherrscher - zu Beginn vier waren. Sie stammten aus Modo und haben diese Welt durch die Macht ihrer Fantasie erschaffen. Jeder von ihnen repräsentiert eine Jahreszeit. Im Theoitum, der zweiten Lehre, wird überliefert, sie hätten die 24 Götter erschaffen, damit sie ihnen beim Bau der Welt halfen. - Jeder Urherrscher sechs. Twos florierte, gedeihete und wuchs. Doch dann führten die Urherrscher Krieg gegeneinander – der erste Krieg dieser Welt. Und nur zwei von ihnen überlebten: Der Lichterlord und die Eiszarin. Um der Zerstörung ein Ende zu bereiten, beschlossen sie das Gesetz der Harmonie, das die Koexistenz aller Polaritäten bestimmt. Die Götter, welche die anderen beiden Urherrscher zurückgelassen hatten, teilten sie untereinander auf. Und als die erste Eiszarin und der erste Lichterlord starben, traten ihre Nachfahren in ihre Fusstapfen. Generation für Generation gaben die Herrscher der Harmonie ihr Wissen und ihre Macht an ihr ältestes Kind weiter, schon seit bald 500'000 Jahren.« Gretel schraubte ein wenig an der Laterne herum, sodass die Flamme etwas kleiner brannte. »Die Herrscher der Harmonie waren die Regenten von Arkan, Beschützer von Twos, Gebieter der Jahreszeiten und Wächter über das Gleichgewicht. Sie hielten die Polaritäten in Einklang, schenkte dem Guten den Tag und dem Bösen die Nacht, sodass sie koexistieren konnten.«

»Bis die Antagonisten kamen.«

Gretel schüttelte den Kopf und schenkte Sabrina einen regelrecht anklagenden Blick. »Nein. Bis die letztem Herrscher - die Eiszarin Eira und der Lichterlord Ignatzius – diese Welt verrieten, vor ihrem Schicksal flohen und Twos verliessen!«

Bei den Namen ihrer Eltern sah Sabrina sie vor sich. Verschwommene Erinnerungen einer Siebenjährigen. Erinnerungen, die sie wie Schätze hütete. Zu keiner davon passten irgendwelche Herrscher.

»Das waren nicht meine Eltern«, versuchte Sabrina abzustreiten. »Sie waren mit mir in Modo, sie haben mich aufgezogen, sie... waren ganz normal... Ihr lebt ja alle in 'nem Kult!«

»Und woher hat dein Bruder dann seine offensichtlichen Gaben? Und du das, was du deine Dämonen nennst?«

Erneut hörte Sabrina Reds Stimme in ihrem Kopf: ›Ist dir jemals in den Sinn gekommen...‹

Gretel begann unter ihrem Umhang – eines der grauen Felle, das sie einem toten Inker abgenommen hatte – herum zu nesteln und zog ein zerknülltes Stück Papier und eine zerfranste Schreibfeder mit einer stählernen Kappe hervor. »Lüg dich ruhig weiter selbst an«, zischte Gretel grimmig. »Aber irgendwann wird die Wahrheit so penetrant werden, dass du sie nicht länger ignorieren wirst. Besser du beginnst jetzt schon, dich damit auseinanderzusetzen. In dir schlummert das Erbe deiner Vorfahrinnen – du gehörst einer alten und mächtigen Dynastie an. Einige werden dir und deinem Bruder den Verrat deiner Eltern übel nehmen. Die Rebellen halten zwar an dem Glauben an die Herrscher und ihren Gesetzen der Harmonie fest, doch dafür werden sie Erwartungen haben. Du wirst deine Rolle spielen müssen... wie wir alle.« Sie glättete das Papier und reichte es Sabrina. »Und jetzt beginn endlich zu schreiben!«

Sabrinas Gedanken überschlugen sich. »Den Verrat meiner Eltern? Mir und Mile übel nehmen? Und was für Erwartungen?«

Gretel lachte leise. »Das wirst du früh genug erfahren, Süsse, glaub mir. Sonst werden meine Worte sich zu deinen Alpträume gesellen.«

Sabrina schluckte und liess die Fingerkuppen über das handgeschöpfte Papier streichen. »Ich glaube, jetzt will ich gar nicht mehr nach Turdus...«

»Komm mir jetzt bloss nicht damit. Wir hatten eine Abmachung! Ausserdem kenne ich da jemanden in Turdus, der dir mit deinem Wahnsinn helfen könnte...«

Sabrina blickte auf. »Ein Arzt?«

Gretel lachte auf. »Nein. Sagen wir... Er kennt sich einfach mit Verrückten aus.« Genervt fügte sie hinzu: »Wenn dir einer helfen kann, dann er. Jetzt scheiss dich nicht ein und vertrau mir. Ohne die Rebellen werden wir hier draussen ohnehin draufgehen.«

Erschöpft gab Sabrina sich geschlagen. Sie war zu müde für so was. »Also gut, vermutlich hast du recht. Ich brauche meinen Schlaf. Hast du was zum Schreiben?«

Die Garraeli lachte freudlos. »Immer.« Sie setzte die Schreibfeder an ihr Handgelenk an und bohrte sich die Stahlkappe ins Fleisch. Sofort quoll Tinte aus der Wunde. »Bediene dich.«

»Ach, dein Blut?« Zögerlich nahm sie die Feder zwischen die Finger. »'Nen Kuli hast du nicht dabei, oder?«

»Vielleicht ist es dir entgangen, aber die Brieftauben sind leider aus.« Sie hielt Sabrina ihren Arm hin, damit sie es als Tintenfass benutzen konnte. »Für diese Art Nachricht brauchen wir Tintenblut – so frisch wie möglich, dann ist es am schnellsten. Semiontie – Botenmagie - ist glücklicherweise keine hohe Kunst. Und jetzt schreib: ›An den Rat der Rebellen. – Die Feder mag gebrochen sein.‹«

An diesen seltsamen Spruche erinnerte Sabrina sich. Den hatte Gretel ihr vor ihrer Befreiung zugeraunt, als wäre es eine Frage gewesen. Vermutlich ein Erkennungszeichen der Rebellen?

Sabrina legte das Papier auf ihren Oberschenkel, setzte vorsichtig die Federkappe darauf ab und begann zu schreiben. Tatsächlich war das gar nicht so einfach, da die Feder ungewohnt leicht in der Hand lag und das Papier so eine raue Oberfläche hatte. Ihre Schrift war krakelig wie die eines Kindes, doch die Buchstaben waren als solche zu erkennen und das war die Hauptsache.

»Wie ist das eigentlich mit diesem Tintenblut?«, fragte Sabrina, während sie das ›Die‹ auf die nächste Zeile setzte. »Was kann man mit eurem Blut sonst noch alles machen?«

»So gut wie alles. Es kommt darauf an... Menschen, Elfen und Zwerge verlängern ihr Leben durch Injektionen. Vampire trinken es und werden sonnenresistent. Aquaner lässt es an der Luft nicht ersticken. Lykaner nehmen es ein, um ihre Kräfte zu mehren. Die häufigste Verwendung findet es jedoch in der praktizierten Magie. Man schreibt damit Zauber nieder, mischt es in Tränke oder spritzt es sich selbst, denn es vervielfältigt die Macht. Je mehr und je frischer, desto höher und länger die Wirkung.«

Elfen, Zwerge, Aquaner, Vampire und Werwölfe? - Sie fragte lieber erst gar nicht. Vielleicht sollte sie sich vor ihrer Ankunft in Turdus mit Knoblauch und Silber eindecken...

Gretel diktierte weiter: »›Der Rote Kommandant und die Gefreiten Björkson bitten um Hilfe. In unserem Gewahrsam befinden sich die Rabenküken.‹«

»Rabenküken?«

»Semiontie ist nicht sicher. Die Nachricht könnte abgefangen werden. Und wenn die Antagonisten zu hören bekommen, dass die Nachkommen der Herrscher in Twos sind, würden sie keinen Stein mehr auf dem anderen lassen, bis sie euch gefunden haben.« Sie fuhr mit dem Diktat fort: »›Wir befinden uns auf dem Delánsee auf dem Weg Richtung Lange Narbe. Um sofortige Evakuierung wird gebeten!‹«

Als Sabrina fertig war, reichte sie Gretel das Schriftstück. »Und jetzt? Basteln wir einen Papierflieger und auf den von Tintenblut benetzten Schwingen segelt der nach Turdus?«

Die Monsterschlächterin schnaubte nur und griff nach ihrer Laterne, um das Türchen daran zu öffnen.

»Hey! Was machst du denn da?«, zischte Sabrina, doch da war es bereits zu spät. Gretel hielt die semiontische Nachricht direkt in die Kerzenflamme und das Papier fing Feuer.

»Das muss so!« Sie liess das Schriftstück in ihrer Hand zu Asche zerfallen und hielt sie ihr unter die Nase. »Siehst du?«

Im schalen Laternenlicht erkannte Sabrina es nicht sofort, doch als Gretel mit den Fingern durch den Russ strich, sah sie kleine Buchstaben zwischen dem Staub liegen.

»Tadaa; Semiontie. Möglich machts das Tintenblut.« Sie hielt sich die flache Hand vor den Mund und blies sie in den Wind.

»Und die werden das mit den Rabenküken schnallen?«, fragte Sabrina skeptisch und sah den Buchstaben nach, die wie ein Mückenschwarm davonschwirrten.

»Meine Befürchtung ist eher, dass es zu offensichtlich ist. Wenn das abgefangen wird, haben wir ein Problem.« Sie wischte sich die übrige Asche von den Fingern. »Kein Wort an Farkash, klar?«

Bei dem Gedanken an das Knurren, das Red ausgestossen hatte, als sie sie erwischt hatte, graute ihr davor, was sie wohl tun würde, wenn sie hiervon erfuhr. »Schon klar. Ich bevorzuge meinen Kopf auf dem Hals.«

Da gluckste Gretel und säuselte: »Schichtwechsel!« Mit der Eleganz einer Raubkatze liess sich vom Käfigdach in den Schnee gleiten.

Sabrina folgte ihr und als sie Red und Mile geweckt hatten, legte sie sich dicht an das Gitter und hielt sich an den Streben fest. Die Kälte des Metalls störte sie nicht. Hoffentlich würde dieser Käfig auch ihren Wahnsinn im Zaum halten.

Nur leider reichte das nicht, denn als der Schlaf sie übermannte, lockerte sich ihr Griff...


~Mile~
6. Haluk 80'024 IV

Die Nacht hörte für Mile viel zu früh auf. Zwar liess ihn die Vorfreude, während des Wacheschiebens stundenlang mit Red allein zu sein, schnell wach werden, doch er musste feststellen, dass dieser Höhenflug unbegründet war. Die Rote war verschlossener als je zuvor.

Anfangs versuchte er noch, sie in Gespräche zu verwickeln, doch ihre Antworten waren so knapp und ausweichend, dass er es irgendwann aufgab. Stumm starrte sie die Monde an.

»So wird die Wache verdammt langweilig, meinst du nicht?«, brummte er, nachdem sie sich eine gefühlte Ewigkeit angeschwiegen hatten.

Die rote Frau, die eine verschneite Armlänge von ihm entfernt sass, blieb ihrem Schweigen treu. Doch sie sah ihn nun immerhin an, das war ein Fortschritt.

»Bin ich so eine schlechte Gesellschaft?« Er malte ein trauriges Smiley in den Schnee neben sie, zeigte erst darauf, dann auf sich selbst und zog die Mundwinkel runter.

Kurz war da ein Lächeln, doch dann senkte sie den Blick wieder.

Mile seufzte. Etwas beschämt fragte er: »Ist es, weil ich dir in Modo nachgerannt bin? Das, tut mir übrigens leid, falls ich dir Angst gemacht habe oder so... Ich... bin kein Creep, echt nicht. Ich bin voll harmlos, es ist nur... Ach...« Er hielt inne, als er merkte, wie er rot wurde. Lieber hielt er die Klappe, bevor etwas sagte, was noch schräger klang.

Doch da schüttelte Red den Kopf. »Mach dir darüber keine Gedanken. Schon gut.«

Er horchte auf. »Du sprichst wieder mit mir?«

»Ich werde ja wohl kaum darum herumkommen.« Sie lächelte matt.

Mile hob die Brauen. »Weisst du, wenn ich dich nerve oder so-«

»Ich mag es nicht, wenn man mir ständig Löcher in den Bauch fragt. Das ist alles.«

»Selbst schuld! Du tust ja immer so geheimnisvoll.«

»Ich tue nicht geheimnisvoll!«

»Du bist es aber«, widersprach er ihr und erneut schoss ihm die Hitze in die Wangen. Etwas besonnener erklärte er: »Du gibst kaum etwas über dich preis. Das finde ich sehr schade, denn... Denn ich mag dich und würde dich gern besser kennen lernen.«

Reds silberner Blick flackerte. Sie wandte sich wieder ab und starrte auf ihre Samthandschuhe.

Am liebsten hätte Mile sich von dem Transporter in den Schnee plumpsen lassen. Warum musste er auch immer mit der Tür ins Haus fallen? »Entschuldigung... Ich... meinte nur...«

»Nein, nein... Es... ist nicht deine Schuld...«, murmelte die Rote. »Es ist dieses verfluchte Schicksal...«

Mile schob die Brauen zusammen.

Red schloss die Augen, ihre Stirn lag in Falten. »Unsere Schicksalsfäden sind verwoben, Mile Beltran. Deshalb bist du mir hinterhergelaufen. Ich war der Lockvogel.«

»Ähm... Okay...« Was sollte man darauf antworten?

Seufzend wandte sie sich zu ihm um. Sie schob den Schnee und Miles trauriges Smiley vom Transporter und rutschte etwas näher an ihn heran. »Ich... werde es dir zeigen, wenn das... in Ordnung für dich ist...«

Mile nickte verwirrt und Red streckte den Arm nach ihm aus. Sein Herz begann zu hämmern, als sie langsam ihre Hand auf seine Brust legte. »Spürst du das?«, flüsterte sie ihm ins Ohr. Sie war ihm mit einem Mal so nahe, dass ihr Haar ihn an der Wange kitzelte. Wieder duftete sie nach Honig. Sie nahm seine Hand und führte sie an ihren Hals. Unter ihrer weichen Haut raste ihr Puls. »Ich fühle es auch«, hauchte sie. »Wie das Herz schneller schlägt, es wird einem warm, dieses Gefühl im Bauch... und diese Sehnsucht.« Ihre Hand glitt an ihm hoch, über die Schulter in seinen Nacken...

Mile schloss die Augen. Betört wandte er ihr den Kopf zu, bis sie Nase an Nase waren und...

Red entzog sich ihm und rutschte wieder von ihm weg. Fahrig kämmte sie ihr Haar zurück.

Verwirrt blinzelte Mile sie an. »Ähm... w-was war das denn?« Sein ganzer Körper kribbelte. »Also nicht, dass ich mich beschwere...«

Die Rote liess niedergeschlagen die Schultern sinken. »Das... war das Schicksal, Mile. Die Liebe auf den ersten Blick.«

Nun gluckste er. »Nun ja, ich mag dich wirklich gern, aber Liebe ist schon ein grosses Wort...«

Die rote Frau schüttelte den Kopf. »Du verstehst nicht, Kupferhaar. Was wir empfinden, ist nicht... echt. Es ist der Wille der Schicksalsspinne.«

Nach der Euphorie von eben war das ein ziemlicher Dämpfer. »Wie kommst du denn jetzt darauf?«

Sie seufzte und ein bitteres Lächeln umspielte ihre Lippen. »Ich lebe schon sehr, sehr lange, Mile. Die Begegnung mit dir ist nur ein winziger Augenblick im Vergleich zu meiner Lebensspanne. Ich kenne dich kaum, du bist ein Fremder. Und dennoch löst die Vorstellung, mich am Rebellenstützpunkt von dir zu verabschieden, in mir einen Schmerz aus, den ich nicht erklären kann.« Ihr Blick wurde weicher. »Ich bin unkonzentriert in deiner Gegenwart und es ist mir noch nie so schwer gefallen, mit jemandem nicht zu reden. Ich mag dich auch, Mile, aber das ist nicht mein freier Wille, denn wir unterliegen dem Bann der Liebe auf den ersten Blick.«

»Aber... woher willst du denn wissen, dass es Schicksal ist? Was, wenn wir uns halt wirklich... zufällig mögen?«

»Du bist der Lichterlord. Das ist kein Zufall. Was glaubst du, was du in Twos für eine Rolle spielen wirst?«, entgegnete sie nüchtern. »Du bist der Spinne ins Netz gegangen, als wir uns das erste Mal sahen. Das, was uns aneinander anzieht, sind die Schicksalsfäden.«

Langsam konnte er ihr folgen. »Okay, du sagst, dass wir mit den Spinnenbanden der Schicksalsliebe verflucht sind... oder so ähnlich. Und... das ist etwas Schlechtes?«

Red schwieg einen Moment. »Ich habe es dir schon einmal gesagt: Eine schicksalshafte Liebe endet in dieser Welt oft mit dem Tod.«

Er runzelte die Stirn. »Dann denkst du, wir werden alle drauf gehen, oder was?«

Red kam nicht mehr dazu, ihm zu antworten, denn ein Schrei nahm ihr das Wort. Ein Schrei, so laut, dass er durch die Nacht schnitt wie eine Sense. Ein Schrei, wie Mile ihn von Kindesbeinen auf kannte, wie er ihn seit er klein war, mitten in der Nacht weckte und in das Zimmer seiner Schwester rennen liess.

In der Stille, die folgte, schien die Zeit wie erstarrt. Jedenfalls waren sie es.

Erst als unter ihnen ein Geräusch erklang wie Donner, aber Unterwasser, lösten sie sich aus ihrer Paralyse.

»Bei den Göttern«, flüsterte Red, obwohl das gar nicht mehr nötig war. In einer fliessenden Bewegung war sie auf den Beinen und zog ihre Armbrust vom Gürtel, um einen Bolzen einzuspannen.

»W-was war das?«, stammelte er und blickte sich hektisch um.

»Auf die Beine mit dir!«, fauchte die Rote und trieb ihn hoch. Ihre Augen glommen auf wie die einer Katze. »Schnapp dir dein Schwert. Verlass dich auf deine Instinkte und-« Sie brach ab, blinzelte an ihm vorbei, hob die Armbrust... Doch zum Abdrücken kam sie nicht mehr.

Mile flog furch die Luft. Er griff um sich, wollte sich festhalten, doch dann prallte er auf. Wo zuvor dickes, stabiles Eis gewesen war, lauerte nun etwas, was sich wie flüssig gewordener Winter anfühlte.


~Sabrina~

Als Gretel sie weckte, indem sie ihr eine Backpfeife verpasste und ihr einen kalten, gekrümmten Dolch in die Hand drückte, wusste sie, dass etwas schief gelaufen war. Ihre Alpträume hatten sie in den Wachzustand verfolgt...

Die Björkson-Zwillinge schienen ihr Handwerk nicht verlernt zu haben. Routiniert gaben sie einander Zeichen, zogen ihre Waffen und liessen sich in eine geduckte, aber angespannte Haltung fallen.

»Bleib hier«, bildeten Gretels Lippen und die Geste ihrer Hand war so garstig, dass Sabrina sich beinahe physisch an die Gitterstäbe genagelt fühlte. Dann verliessen die Zwillinge den Käfig.

Unter ihr erklang ein Grollen, wie wenn in Filmen über den Klimawandel Eis von Küsten brach und Sabrina packte den Dolch fester. Kalter Schweiss rann ihr Rückgrat entlang, Adrenalin schoss ihr ins Blut und die ersten Stimmen meldeten sich zu Wort.

›Gefahr? Gefahr! Was? Gefahr! Wo?‹, wollte ein tiefes, lautes Knurren wissen.

Eine Sanfte bestimmte: ›Ruhe bewahren!‹

Hastig tastete sie hinter sich und bekam einen der Gitterstäbe zu fassen, bevor die Stimmen sich vervielfältigen und ihr den Verstand nehmen konnten. Sobald sie den Obsidian berührte, schritt Stille ein. Oskar, von dem sie nicht sagen konnte, ob er erwacht oder noch immer fieberträumte, gab ein leises Schnauben von sich.

Unter ihr krachte es, die Welt drehte sich, der Dolch entglitt ihr und ein ohrenbetäubendes Quietschen ertönte, als die Käfigtür abriss. Sabrina kniff die Augen zusammen, die Kräfte rissen an ihr, doch sie liess nicht los, ihre Füsse strampelten in der Luft – Aufprall! Nun glitten ihre Finger doch von der Strebe - ›...nicht wichtig...‹, fuhr ihr eine der Stimmen durch den Verstand - und sie landete hart auf dem Boden oder dem, was zuvor eine Wand gewesen war.

Plötzlich war da überall Wasser, bitterkalt. Luftblasen stiegen auf und trieben nach oben. Eine Flasche voll Tintenblut wollte ihnen folgen, stiess jedoch gegen den Käfig, der sie mit sich zog, zum Sinken zwang, tiefer ins Dunkel.

Sabrina, die wie die Flasche an die Decke – oder das was jetzt oben war – des Käfigs getrieben war, besann sich trotz des zunehmenden Schmerz in ihren Ohren schnell. Ohne lange zu fackeln, zog sie sich an den Gitterstäben zum Ausgang. Von Oskar, dem Leichnam und dem Grossteil Tintenblutflaschen und Proviantkisten fehlte jede Spur. Vermutlich waren sie hinausgeschleudert worden, als die Käfigtür abgerissen war, während sie sich überschlagen hatten... Warum eigentlich? Irgendwas hatte sie gerammt. Sie konnte nur hoffen, dass sich dieses etwas nicht mehr im Wasser befand.

Sie tauchte aus dem Transporter und sah über sich das Licht der Monde und Polarlichter herabscheinen, doch durch Eis und Schnee war es so gedämpft, dass kaum etwas zu erkennen war.

›Kalt! Kalt!‹, schrie eine der Stimmen in ihrem Kopf.

Eine andere klagte: ›Oh Nalin, verschone mich heute!‹

Sie begann zu schwimmen, an die Kälte hatte sie sich gewöhnt, doch ihre Lungen sehnten sich nach frischer Luft. Sie musste hinauf - hinauf zum Licht; dem Loch im Eis.

Plötzlich nahm sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr. Instinktiv ruderte sie zurück und liess vor Schreck wertvolle Atemluft ihren Lippen entweichen. Ihre Lunge protestierte. – Noch nie war Sabrina in solcher Atemnot gewesen.

›Bestie!‹, rief jemand in ihrem Kopf. ›Anschleichen? Von rechts vielleicht...‹

Hastig brachte sie ihren Körper wieder unter Kontrolle und sah genauer hin. - Schuld an ihrem Schrecken war ein menschlicher Körper, der knappe zwei Meter an ihr vorbei ins Dunkel sank. Arme und Beine trieben leblos im Wasser... Da erkannte sie ihn. Ohne dem Schmerz in ihrer Brust oder der Lähme ihrer zunehmend kraftloser Gliedmassen Beachtung zu schenken, schwamm sie so schnell sie konnte zu ihrem Bruder hinüber.

›Verflucht! Nun gehen wir doch drauf...‹

›Festhalten!‹

›Dort!‹

»Wach auf!«, wollte sie ihn anschreien, konnte aber nur die Arme nach ihm ausstrecken, ihn packen und schütteln.

Mile riss die Augen auf. Blanke Panik stand ihm ins Gesicht geschrieben, er krümmte sich und krallte die klammen Finger um ihr Handgelenk.

Sie versuchte zu schwimmen, sie beide hoch zu kriegen, hinauf ins Licht, an die Luft, doch Mile brachte sie aus dem Gleichgewicht und mit nur einem Arm bekam sie nicht genügend Antrieb. Er war zu schwer!

›Hör auf!‹, rief sie ihm voller Verzweiflung im Geiste zu. Sie versuchte, sich loszureissen, doch ein Griff war wie ein Schraubstock.

›Hilfe! Hilf mir! Bitte!‹, rief es in ihrem Kopf und irgendwie klang es wie Mile, doch das lag vermutlich nur am Sauerstoffmangel.

Der Drang zu atmen, war so überwältigend, dass sie all ihre Willenskraft aufbringen musste, um nicht einfach den Mund auf zu machen, das letzte bisschen Luft aus ihren Lungen weichen zu lassen und sie neu zu füllen, doch das würde ihren sicheren Tod bedeuten...

In diesem Moment wurde Sabrina klar, dass sie handeln musste. Ihr Entscheid war zwar mehr die Wahl ihres Instinkts und in einer besseren Verfassung hätte sie sich diesem vielleicht sogar widersetzt, doch egal wie die Umstände waren; die Schuld ihrer nächsten Tat würde sie sich nie ganz verzeihen...



~Mile~

Als er in das Wasser gefallen war, hatte ihn der Schock gepackt.

Sein Herz hämmerte los, als wolle es ihm den Brustkorb sprängen, unkontrolliert suchten seine Lungen nach Luft, dabei gelangte jedoch nicht nur Sauerstoff in seine Atemwege, was brannte wie die Hölle. Er hustete und schlug um sich. ›Ich ertrinke!‹, schoss es ihm durch den Kopf, was seine Panik nur noch verschlimmerte.

Das Wasser war so kalt, dass es brannte, wie er es sich von keinem Feuer vorstellen konnte. Und doch strampelte er wie wild, panisch, versuchte irgendwas zu fassen zu kriegen, er wollte nicht sterben! Es kostete ihn all seine Kraft, an der Luft zu bleiben, doch es war nicht genug. Zuerst die Finger, dann krampfte die ganze Hand, seine Füsse waren taube Gewichte an den steifen Beinen, dann gaben seine Arme nach. Der Winter hatte ihn gepackt und nun zog er ihn mit sich in die Tiefe...

Er sah den Luftbläschen zu, wie sie in den Himmel flatterten und vor seiner Sicht verschwammen. Der Schmerz auf seinen Trommelfellen liess ihn fürchten, sein Kopf würde jeden Augenblick platzen. Viel Schlimmer war jedoch der Druck auf seiner Brust, dieser Trieb... Atmen, atmen, atmen! Die Luft wollte aus ihm raus, die Lunge wollte frische!

Mile schloss die Augen und bereitete sich auf den Moment vor, wenn sein Wille brechen und sein letzter Atem in einem explosiven Stoss dem Wasser weichen würde...

Etwas riss an ihm, schüttelte ihn und dann war da plötzlich Sabrina...

Mit dem letzten Rest Leben und Verstand klammerte er sich an sie, er wollte sich an ihr hochziehen, doch er war zu verkrampft, er konnte sich nicht mehr rühren. Er wollte nur atmen, nur atmen, bitte!

Sie versuchte sich loszureissen und irgendwo in dem dröhnenden, schmerzlichen Puls, der seinen ganzen Körper erfüllte, hörte er in weiter Ferne ein Echo ihrer Stimme: ›Hör auf!‹

Aber Mile konnte nicht! Wie nur? Er brauchte Luft! Er wollte nicht sterben, nicht so... ›Hilfe! Hilf mir! Bitte!‹, schrie er in Gedanken und der Trieb seiner Lungen wurde unerträglich.

Plötzlich traf ihn ein Stoss in den Magen und ein Schlag vor die Brust. Ein Schwall aus Luftblasen stob aus seinem Mund... und dann rann das Wasser in ihn und er würgte... und er zuckte... und schrie vor Qualen, doch er besass keine Stimme mehr. Es war der schlimmste Schmerz, das grässlichste Gefühl... das Furchtbarste, was er jemals hatte physisch erleiden müssen. Ersticken. Ertrinken.

Als Mile endlich schwand, empfand er es als Gnade.

Dies wäre Mile Beltrans Tod gewesen, hätte er nicht in einem letzten, klaren Blinzeln seine Schwester gesehen, über ihm, im Licht, wie sie mit verzweifelten Schlägen seinem Atem hinterher in den Himmel folgte und... die Wasseroberfläche durchbrach.

Sein Verstand, matt und träge wie das Wasser, in dem er starb, begann ganz langsam eine Theorie aufzustellen, die ihn tief verletzte: Ihr... Tritt... und ihr... Schlag... in Bauch und Brust...

Die Wut ersetzte sein Bewusstsein und das war, was ihn rettete. Die Wut, die so heiss war, dass es ihr gelang, den Winter in ihm zu verbrennen. Die Wut, die sein Feuer entfachte, die aus ihm ein Geschöpf aus Hitze und Kraft schmiedete.

Nun war das Feuer sein neuer Atem.


~Sabrina~

Da war Luft.

Luft!

Und sie war erfüllt von Schreien...

Sie klammerte sich an ein Stück Holz, das zuvor ein Teil ihres Schlittens gewesen sein musste, hustete und atmete. Erst als ihr endlich nicht mehr schwindelig war, sah sie das Monster.

Es war so gross wie ein ausgewachsener Grizzlybär, hatte aber mehr von einem Wolf... aber auch von einem mageren Wal. Die schwarzweisse Färbung von Lederhaut und dem Fell, das Kopf, Hals, Brust und Schultern bedeckte, war die eines Orcas. Wie die Meeressäuger hatte er eine kräftige Schwanzflosse und eine Finne, die aus der Senke seines Rückens aufragte. Obwohl die Kreatur nur zwei Beine hatte, die über der ausgeprägt abgewinkelten Elle in Flossen ausliefen, bewegte es sich unglaublich schnell. Mit der herumpeitschenden Fluke war es auf dem Eis tödlich wendig. Dabei stützte es sich auf die Flossen-Ausläufe seiner Beine, um die Klauen zum Töten frei zu haben. Die Wolfsähnlichkeit fand sich vor allem in den pelzigen Schultern, dem schlanken Hals und dem Kopf mit den gefletschten Fängen, den angelegten Ohren und den gelben, leeren, hungrigen Augen...

›War alles umsonst?‹

›Wo ist sie?‹

›Wunder Punkt?‹

Gerade pirschte sich Gretel wie ein Panter in Menschengestalt von hinten an das Monster heran. Red hatte es irgendwie geschafft, ihm auf den Rücken zu klettern und versuchte ihr Schwert durch die dicke Lederhaut zu rammen, ohne dabei abgeworfen zu werden. Und Hänsel holte aus und trieb einen Speer, der einst ein Teil der Kufe des Schlittens gewesen sein musste, in die Flanke des Untiers. Dieses jaulte auf, was eine gewisse Ähnlichkeit mit dem charakteristischen Rufen eines Wals hatte. Es riss die Fluke herum, die beinahe so breit wie Sabrina gross war, und klatschte den Monsterschlächter zur Seite, als wäre er nur ein lästiges Insekt. Aber ein Insekt, das ihn tief gestochen hatte, denn Blut und Tran sickerte aus der Wunde und dampfte in der Kälte.

»Hänsel!«, brüllte seine Zwillingsschwester und gab somit ihre Deckung auf, was sich augenblicklich rächte, als ihr das gleiche wiederfuhr wie ihrem Bruder. Sie landete gefährlich knapp vor dem Krater im Eis, aus dem das Monster zuvor gebrochen und ihren Schlitten gerammt haben musste. Überall in der Nähe lagen zerbrochene Flaschen mit ausgelaufenem Tintenblut, aber auch noch ein paar intakte. Daneben ein Rentierkadaver, das Gekröse dampfte noch. Kaputte Kisten und verstreuter Proviant ragten aus dem Schnee und eine in Leinen gewickelte Leiche hätte sie fast übersehen, würde aus dem zur Hälfte aufgewickelten Stoff-Kokon nicht eine grausig kleine, blasse Kinderhand ragen. Gleich daneben kauerte ein schwarzer Haufen Fell, bei dem es sich demnach um Oskar handeln musste. Er bewegte sich, als Gretel an ihm vorbeirutschte; er lebte also noch.

›Idioten! Umgeben von Idioten!‹

»Tu etwas, Farkash!«, brüllte Hänsel, der sich unterdessen wieder aufgerappelt hatte. »Lass die Finne in Ruhe und konzentrier dich auf Hals und Schultern, das ist die Schwachstelle eines Akhluts! Die Lederhaut ist zu dick.« Er riss sich eine Klinge, die ein wenig aussah, wie ein tödliches Fragezeichen, von dessen Rückenhalterung und stürzte sich erneut ins Gefecht.

Das war also ein Akhlut. Eine monströse Mischung aus Wolf und Wal, dass eine Vorliebe für Menschenfleisch zu haben schien. Warmes Fell hin oder her, diesen Pelz würde sie nicht mehr anrühren!

›Wie konntest du nur?‹

Der Anblick des Kampfes war spektakulär, doch lange hielt er Sabrina nicht auf, denn nun, da ihre Gedanken wieder klar waren, überrollte sie die Erkenntnis, was sie gerade getan hatte.

»Mile!«, stiess sie aus, nur um dann schleunigst Luft zu holen und...

Der Atem blieb ihr im Halse stecken, als ein paar Meter weiter Mile aus dem Wasser brach, sich in einem unglaublichen Kraftakt auf eine Eisscholle zog, hustend und würgend den Inhalt von Magen und Lunge spuckte und sie mit flammenden Blicken niederstarrte.

›Die Viecher hab ich schon immer gehasst!‹

Die überwältigende Erleichterung, ihn zu sehen, mischte sich mit bodenloser Schuld und schliesslich mit Angst. Die Art, wie er sie ansah. - Das war Zorn und seiner Schwester war dieser Ausdruck an ihm nicht fremd, er hatte nur noch nie ihr gegolten.

»T-tut mir leid!«, stammelte sie, noch immer ein wenig ausser Atem. »Du hast mich runtergezogen, ich wollte Hilfe holen!«

›Los jetzt!‹, rief es in ihrem Kopf. Verfluchte Stimmen!

»Du...«, versuchte er keuchend, einen Satz zu bilden. »Du hast... mich getreten!«

»Weil du«, auch sie musste Luft holen, »uns runtergezogen hast. Du hättest uns beide umgebracht!«

»Du hast mich fast umgebracht!« Nun begann unter all dem Zorn die Verletztheit ihren Weg zu bahnen und die Tränen, die mit ihr kamen, schwemmten den letzten Rest davon hinfort.

Sie schüttelte den Kopf und paddelte mit ihrem Treibholz an seine Seite. »Es tut mir wirklich leid, Mile! Ich... wollte sofort wieder abtauchen und dich holen... Aber... ich habe keine Superkräfte... wie du und kann... halb erstickt noch den... Phelps machen«, erklärte sie schwer schnaufend.

›Kalt und ohne Luft...‹

»Ach ja?« Er hustete wieder und rieb sich die Augen. Seine Lippen waren so blau wie die eines Tintenwesens. »Dafür kannst... du in Wasser schwimmen... in dem jeder normale Mensch sofort Schockgefroren wird!«

Sie wollte es abstreiten, behaupten, es wäre gar nicht so kalt gewesen, doch erstens wusste sie es besser und zweitens liess sie der plötzlich anschwellende Kampflärm innehalten und sich den Twosi zuwenden.

Red war es gelungen, ihr Schwert in den Nacken des Akhlut zu rammen, doch statt ihn umzubringen, provozierte es ihn nur noch mehr. Er schüttelte sich, Red verlor den Halt und landete nicht weit von ihnen im Schnee. Gekonnt rollte sie sich ab und fluchte wie ein Rohrspecht. Dabei bemerkte sie die durchnässten Geschwister Beltran. Erleichterung machte sich in ihrem Gesicht breit, wurde nach einem Seitenblick auf den Akhlut jedoch schnell wieder ernst. »Bleibt wo ihr seid!«, rief sie ihnen zu, dann griff sie nach ihrer Armbrust und wandte sich wieder dem Monster zu.

»Was zum Teufel ist das?!«, fragte Mile, der in seiner vorherigen Rage die riesige, jaulende Wolf-Wal-Mutation scheinbar gar nicht wahrgenommen hatte.

»Akhlut«, antwortete sie matt.

›Konzentrier dich!‹

Red schoss und traf ins Schwarze; direkt in die Halsbeuge der Bestie, doch statt sich tief in das Fleisch zu graben, drang der Bolzen nicht durch das Fell und fiel nutzlos in den Schnee.

»Falscher Winkel!«, brüllte Gretel, die nahe genug an den Akhlut gekommen war, um Hänsels Kufenspeer zu fassen zu kriegen und ihn aus der Wunde zu reissen, sodass es Blut und Tran spritzte. »Die Schlampe ist zu robust!« Mit Wucht rammte sie den behelfsmässigen Speer erneut in das Vieh, sodass dieses brüllte und um sich schlug. Dieses Mal war Gretel jedoch schneller und rollte sich unter der Fluke durch.

»D-das meinte ich nicht«, stammelte Mile und dieses Mal klang es nicht nach Kältegestotter.

Sabrina, die unterdessen angestrengt versuchte, sich von ihrem Stück Treibholz zu Mile auf die Eisscholle zu ziehen – Wer konnte schon wissen, was für Viecher da noch im Wasser lauerten? – grunzte ein gepresstes: »Was?«

Eine neue, noch sehr leise Stimme in ihrem Kopf frohlockte: ›Dort sind sie!‹

»Sieh doch!«, zischte Mile unheilvoll.

Sie schaffte es, sich wie eine Robbe auf die Scholle zu schieben und sich bis zu den Knien aus dem Wasser zu ziehen. Sie stöhnte auf und liess sich auf den Bauch fallen. Ihre Lunge brannte noch immer, ihre Glieder schmerzten und prophezeiten ihr einen apokalyptischen Muskelkater, und doch hob sie den Kopf und folgte seinem ausgestreckten Finger.

In der Ferne ging die Sonne auf. Honigfarbene Strahlen färbten den Schnee und da die Luft klar war, erkannte man hinter den Wipfeln des Turdus-Waldes eine Kette Hügel. Und durch den goldenen Morgenhimmel schoss ein Schatten. So schnell, dass Sabrina erst an einen Jet dachte, doch dann besann sie sich, wo sie sich befanden. Ausserdem war der Flug des Schattens nicht steif, er bewegte sich.

»Ein... Vogel?« Wohl kaum. Zu gross. Zu schnell...

»Ich kann es nicht erkennen, es blendet...«, brummte Mile und verengte die Augen zu Schlitzen.

Nun hatte auch der Akhlut das Flugobjekt bemerkt. Er brüllte, duckte den Kopf und plötzlich kehrte er. Der Akhlut nahm Kurs auf sein Wasserloch, doch er war nicht schnell genug.

Ein gewaltiger Windstoss erfasste sie, Sabrina spürte, wie ihr das Haar, das an der kalten Luft regelrecht gefroren war, nach hinten gepeitscht wurde. Das Wesen aus dem Himmel brüllte, und es klang wie ein exotischer Vogel - ein riesiger, prähistorischer Vogel, der einen T-Rex zum Frühstück verschlang - dann stürzte es wie ein Pfeil herab, packte den Akhlut mit einer seiner gigantischen Pranken und brach ihm hörbar das Genick.

Plötzlich kam Sabrina der Gedanke, dass es ein Fehler gewesen war, aus dem Wasser zu steigen. Selbst im eiskalten Wasser wäre es nun sicherer, denn im Delánsee gab es keine Drachen...


~~~

Liebe Freunde des Mondes

Ich hoffe, euch hat dieses Kapitel gefallen. Ich würde mich sehr über Kommentare freuen. :)

Ich hoffe, dieses Kapitel war nicht zu langweilig. Es wurde viel erzählt und die Action kam am Anfang etwas zu kurz.

Zudem interessiert mich sehr, was ihr von der Geschichte von Mile und Red sagt? Was sind eure Gedanken dazu, wir wirkt das auf euch?

Ein Goldstück für eure Gedanken! Freue mich aufs Feedback :)

Liebe Grüsse und bis bald
Eure Mara

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