Mein neues Ich

By Cherrydream_2201

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"Was ist hier los?" rief ich und ignorierte die ängstlichen Stimmen der Anderen. Lens Kehle verließ nur ein... More

Eine Katze bricht bei mir ein
Die spinnen doch alle
Die Entscheidung fällt
Aufbruch
Ich frage Tyler Löcher in den Bauch
Mr. Schlafmütze und seine Kumpanen
Meine Rettung
Ich werde zur Nervensäge
Notiz an mich: Feststellen ob ich träume
Essen, schlafen und schon wieder essen
Ich, der Stalker
Alle haben's drauf, nur ich nicht
Im Kampf des Löwen
Der Befehl des Alphas
Himmel oder...
Hölle
Ich mu(T)ier(e)
Vertrauen
Zu viel Adrenalin
Lektion eins
Luxus
Das Geheimnis
Ich attackiere meine Direktorin
Zwischen Staub und toten Fliegen
Eine interessante Entdeckung, wenn du verstehst, was ich meine
Ich werde zur Spionin
Emotionale Ausbrüche
Ich falle durch ein Bücherregal
Len durchbricht eine Wand
Endgültige Erkenntnis
Blondi und ich bilden ein Team
Man rettet mir den Allerwertesten
Immer eine Frage der Perspektive
Ich, die (mal mehr oder weniger) kreative Person
Die Künste eines Mädchens
Überraschende Wendungen
Wenn die eigene Lebensdauer gefährdet ist
Eine Zeitreise ist lustig, eine Zeitreise ist schön
Wenn man einfach mal eine Zuflucht braucht
("Mädchen-")Gespräche
Wenn die eigene Mutter zum Fangirl mutiert
Frohe Weihnachten, Sarina
Wieder "richtig" zu Hause?
Die Geschichte der magischen Welt für Ahnungslose, bitte.
Waschechte Männergespräche!
Von Glitzervampiren und rücksichtslosen Chefs
Zweisamkeit
Kuchen und Küsse
Neunzehn
Vergangenheit um Vergangenheit
Überraschungen soweit das Auge reicht
Fragen über Fragen
Lasst das Spiel beginnen
Wahrheiten
Päckchen und Kindergartenkinder
Wenn man vor Emotionen fast verrückt wird
Erinnere dich!
Klarheit
Des Mondes Kind
Wie in Trance
Ein sehr . . . außergewöhnlicher Morgen
Geständnisse
Und die Vorbereitungen beginnen
Mein erster Ball . . .
. . . endet in einem Desaster
Der Beginn
Tag eins -Verborgen in der Dunkelheit
Tag eins -Die Suche ins Nichts?
Tag eins -Der gesuchte Fund
Tag zwei -Erwachen
Tag zwei -Macht
Tag zwei -Der nächste Schritt
Tag drei -Ein kleiner Funke Hoffnung
Tag drei -Maulwurf
Tag drei - Finale Planungen
Die Sonnenquelle
Es ist Krieg
So nah und doch so fern
Trancengleichheit
Wiedersehensfurcht
Wie man richtig wütend wird:
Das letzte Gefecht
Unerwartete Hilfe
Unerwartetere Hilfe
In Finsternis
Hoffnungsvolle Versprechen
Epilog -Mein neues Ich
Ritter des Lichts (Ruby x Cody)
Charakterverzeichnis
Q&A

Von Krankenstationen und Liebesbekundungen

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By Cherrydream_2201

Ich wusste nicht, wie lange ich geschlafen hatte, aber als ich das nächste Mal erwachte, lag die frische Stille eines frostigen Februarmorgens über dem Gelände. Es war, als würde die Welt den Atem anhalten. Sie schien nur darauf zu warten, dass endlich erste warme Sonnenstrahlen des sich anbahnenden Frühlings die noch friedlich unter der Erde schlummernden Sprösslinge hervorlockten.

Das Morgenlicht tauchte die Krankenstation in ein kühles Grau, dennoch frohr ich nicht. Jemand hatte mir eine extra dicke Wolldecke über die gefütterte Winterdecke gelegt, deren schweres Gewicht bereits auf meinem Körper lag. Mit der zusätzlichen Schicht war mir nun so heiß geworden, dass ich mich schwerfällig aufrichtete, um die weiche Wollschicht ein paar Zentimeter zurückzuschlagen. Dabei fuhr mein Blick sorgfältig an der Kante meiner Matratze entlang, um sicherzustellen, dass der schwere Stoff nicht hinunterrutschte.

Als ich jedoch am Ende des Bettes angekommen war, stockte mir erschrocken der Atem.

Eine dunkle Gestalt hatte den Kopf auf die Arme gebettet und diese, sowie auch den Oberkörper, zu meinen Füßen abgelegt. Ich vernahm tiefe, gleichmäßige Atemzüge und sah, wie sich der breite Rücken mit jedem Luftzug hob und wieder senkte.

Das Herz klopfte mir bis zum Hals.

Das Gesicht der unbekannten Person war von mir abgewandt und zeigte Richtung Bettgestell, sodass ich nicht ausmachen konnte, um wen es sich handelte. Die tiefschwarzen, welligen Haare kamen mir auch nicht im Geringsten bekannt vor.

Ach du heiliger Goldfisch! Hat der Typ das Bett verwechselt? Was ist, wenn er im Dunkeln nach jemand anderem gesucht hat, der sich auch auf der Krankenstation befindet?

Verunsichert hantierte ich etwas energischer mit den Decken herum, in der Hoffnung, der Kerl würde aufwachen und die Verwechslung bemerken. Wenn ich den Stoff nur ein wenig stärker schüttelte, würde die Erschütterung der Decken ihn vielleicht aufwecken . . .

Da!

Er rührte sich.

"Herrje, McAllen. Was zur Hölle machst du da?", knurrte es vom anderen Ende des Bettes und ich erstarrte inmitten meiner Bewegung.

"Len", quietschte ich.

Die Gestalt drehte den Kopf zu mir herum und im ersten Moment dachte ich, ich würde noch träumen.

Dunkle, fast schwarze Augen blickten mir entgegen und musterten mich unverhohlen, sodass ich unwillkürlich ein wenig zurückzuckte. Lens weiche, goldene Wellen waren zerzausten, beinahe bläulich schimmernden Locken gewichen. Die eingefallenen Wangen und tiefen Augenringe ließen sein Gesicht fast gespenstisch weiß und fahl erscheinen, was der starke Kontrast zwischen seinen schwarzen Haaren und der blassen Haut nur hervorzuheben vermochte.

Der Anblick war für mich so überraschend und ungewohnt, dass ich heftig schlucken musste, als sich mein Freund unbeholfen auf die Unterarme stützte, um sich so aufzurichten.

Meine Augen flogen hastig über seinen Körper, um zu überprüfen, ob er unversehrt war. Doch ich konnte nichts entdecken. Alles, was ich sah waren ein dicker, schwarzer Pullover, graue Jeans und seine mit Dreck verkrusteten Winterschuhe. Besorgt legte ich meine Stirn in Falten, als er sich schließlich gänzlich erhob und mit schwerfälligen Schritten die wenigen Meter auf mich zukam.

Wir sagten kein Wort.

Auch nicht, als er sich so nah setzte, dass sich unsere Hände beinahe berührten. Sorgfältig studierte der Alpha mein Gesicht, während ich ihn ebenso aufmerksam musterte.

Sein Anblick schmerzte mich so sehr, dass ich es fast nicht ertrug, ihn weiter in meiner Nähe zu haben, weil er mich an das erinnerte, was ich am allermeisten auf dieser Welt bereute. Gleichzeitig konnte ich jedoch nicht nah genug bei ihm sein.

Seine Finger waren nur Zentimeter von meinen entfernt, sodass ich ihre Wärme spüren konnte. Sie strömten eine Vertrautheit aus, derer ich mir im Angesicht seiner dunklen, kühlen Erscheinung nicht bewusst gewesen war.

Dennoch traute ich mich nicht, sie zu ergreifen.

Len trauerte.

Meine Mutter hatte unrecht gehabt.

Len trauerte sehr wohl.

Ich sah es ihm an.

Die Art, wie er den Kopf hob, wie er die Schultern gesenkt und den Oberkörper gebückt hielt. Wie er mich ansah, sein unergründlicher Blick, die leicht zusammengezogenen Augenbrauen, der untypisch harte Zug um seinen Mund.

"Hättest du Mrs. Roberts gerettet, wäre er jetzt nicht in diesem Zustand", flüsterte eine gemeine Stimme in meinem Innern, gegen die ich mich nicht wehren konnte.

Verunsichert wollte ich meine Hände zurückziehen, aber genau in diesem Moment griffen vertraute, lange Finger nach ihnen und hielten sie fest.

Der Monitor gab ein hohes Piepen von sich und ich spürte, wie Blut in meine Ohren schoss. Beschämt linste ich hinüber zu Len und als sich unsere Blicke begegneten, erhellte eines meiner heißgeliebten Lächeln sein Gesicht.

"Hi", sagte er. Beim vertrauten Klang seiner Stimme wurde mir ganz warm.

"Hey", erwiderte ich.

"Na, na" Er beugte sich vor und wischte mir eine kleine Träne der Erleichterung aus dem Augenwinkel. "Willst du mich wieder als Taschentuch missbrauchen, McAllen?"

Ich schniefte und lachte leicht.

"Du bietest dich ja immer wieder an, Dawson."

Wir schwiegen und lächelten uns verlegen an. Obwohl es ungewohnt war, ihm an Stelle seiner leuchtend grünen Smaragde, nun in tiefdunkle Augen zu blicken, konnte ich mich nicht an ihm sattsehen. Ich war so froh, ihn wieder bei mir zu haben.

Schließlich drückte Len meine Hand und seufzte.

"Machen wir uns doch nichts vor. Ich sehe scheußlich aus."

Anscheinend hatte er mein Starren bemerkt, es jedoch vollkommen falsch interpretiert. Seine schwarzen Locken waren durch das Schlafen an meinem Fußende auf der linken Hälfte seines Kopfes ein wenig wirr und ich musste grinsen.

"Ach, komm schon. So schlimm ist es nicht."

Vorsichtig löste ich meine bandagierte rechte Hand aus seinem Griff, lehnte mich vor und versuchte, so gut wie möglich die abstehenden Haare wieder zurück an ihren ursprünglichen Platz zu pressen. Mit wenig Erfolg.

Die dunklen Wellen machten, was sie wollten, sodass ich es letztendlich resigniert aufgab, um wieder zurück ins Kissen zu sinken. Aber da hielt ich in meiner Bewegung inne.

Die ganze Zeit hatte ich Lens intensiven Blick auf mir gespürt, während ich mit seiner Schlaffrisur beschäftigt gewesen war. Die ganze Zeit hatte ich ihn verbissen ignorieren können. Aber nun war mir der Anwesenheit meines Artgenossen bewusster als je zuvor.

Lag es an seinem veränderten Aussehen?

Oder an mir?

Ich konnte spüren, wie sich die Dynamik zwischen uns verändert hatte, aber das Gefühl war noch zu ungenau, zu verschwommen und zu weit entfernt, um es greifen oder benennen zu können.

Wir sahen uns wieder schweigend an und zwischen uns schwebten unausgesprochene Fragen, deren Zahl wahrscheinlich so groß war, wie meine Angst, alles Weitere zu vermasseln, das jetzt noch kommen würde.

Wie sollte ich ihm die Geschehnisse auf dem Turm nur erklären?

Was wäre, wenn er mich nun hasste?

Was, wenn er Schluss machen und mich nie wiedersehen wollte?

Oh Gott!

Was, wenn er mich verklagt? Wegen unterlassener Hilfeleistung und somit indirektem Mord?

Ginge das überhaupt? Gab es in der magischen Welt ein Gericht, Richter und Anwälte für solche Fälle? In der menschlichen Welt würde dieser Fall wohl kaum behandelt werden. Wenn ich den Menschen von einer Vampirin erzählen würde, die mit meiner Gestaltwandler-Mentorin in ein Meer aus Flammen gestürzt war, weil es sonst keinen anderen Weg gegeben hätte, die untote Verrückte von ihrem Plan abzubringen, die Herrschaft über die magische Welt zu übernehmen?

Die Menschen würden mich selber für verrückt halten.

Oder war das sein Plan?

Wollte er mich für verrückt erklären lassen, sodass ich den Rest meines Lebens in die Anstalt musste?

"Sarina, deine Augen werden immer größer und panischer. Was denkst du denn jetzt schon wieder?"

"Len", sagte ich mit zitternder Stimme und blickte ihm todernst ins Gesicht. "Ich will nicht in die Anstalt."

"Äh", machte er nur verwirrt.

"E-es tut mir leid.", stammelte ich gleich weiter. Ich wusste ja selber, wie albern das geklungen hatte. Aber ich durfte ihn bloß nicht zu Wort kommen lassen. Er sollte sich seine Schluss-mach-Rede noch ein wenig aufheben. Solange ich redete, würde er es sich vielleicht ja noch einmal überlegen. Ich musste einfach nur sehr überzeugend sein.

"Du hast ja keine Ahnung, welche Vorwürfe ich mir mache. Wirklich. Als Mrs. Roberts aus heiterem Himmel da oben auf dem Turm aufgetaucht ist, wusste ich erst gar nicht, was passiert. Sie kam so schnell wie ein Pfeil aus dem Nichts und hat sich auf Akaya gestürzt. Die beiden haben gekämpft und plötzlich wurde sie gegen die Steinwand geschleudert. Ich dachte schon, jetzt wäre es vorbei.", berichtete ich und musste nur bei der bloßen Erinnerung an diesen entsetzlich kurzen Moment, in dem ich dachte, die Direktorin sei tot, hart schlucken.

"Und dann kam Akaya auf mich zu. Sie wollte mich angreifen, mich vom Turm schubsen, weil ich für den Bruchteil einer Sekunde nicht aufmerksam war und mich verwandeln wollte, um zu fliehen. Aber dann-"

Die Tränen, die ich die ganze Zeit noch hartnäckig zurückhalten konnte, flossen nun über. Unaufhaltsam strömten sie meine Wangen hinunter und heftiges Schluchzen ließ meinen Körper erzittern. Verärgert zog ich meine Augenbrauen zusammen.

Ich hasste es so sehr, wenn ich mich so benahm. Blöderweise machten es mir die derzeitigen Umstände aber auch sehr schwer, mich weniger so zu verhalten, als sei ich emotional labil.

"Sylvia hat sich genau vor mich geworfen, hinein in die Flugbahn von Akaya, die es auf mich abgesehen hatte. Die beiden sind in den Zwischenraum von zwei Zinnen geraten und haben dort miteinander gerungen. Wäre ich nur schneller gewesen- Wäre ich sofort aufgesprungen, um ihr zu helfen-"

Ich wischte mir mit dem Handrücken über die nassen Augen, aber es brachte nicht viel, da die Tränen immer weiterliefen. Durch den verschwommenen Schleier konnte ich nicht richtig erkennen, wie Lens Gesicht aussah.

War er wütend? Traurig? Enttäuscht?

Oder -was noch viel schlimmer wäre- sah er mich mit dieser ausdruckslosen Miene an, mit der ich ihn im letzten Sommer kennengelernt hatte?

"Und dann, ehe ich es verhindern oder realisieren konnte, hat sie sich abgestoßen und-"

Ich konnte den Satz nicht beenden.

Wie ein Film in Dauerschleife spielte sich der Moment, als die Direktorin eng mit Akaya verschlungen in das Flammenmeer am Fuße der Burg fiel, in meinem Kopf ab. Meine Stimme wurde immer leiser und ich gab mir größte Mühe, sie nicht versagen zu lassen.

"Ich- Ich weiß nicht, ob- . . . Was, wenn sie auf mich gewartet hat? Wenn sie dachte, ich komme ihr zu Hilfe? Wenn ich ihr zu langsam gewesen war?" Die Sorgen, von denen ich nicht einmal wirklich gewusst hatte, dass sie insgeheim in mir lauerten, sprudelten nun ähnlich unentwegt wie meine Tränen aus mir heraus.

"Was, wenn ich sie zu dieser Entscheidung gezwungen habe?", wisperte ich heiser. "Dann hätte ich sie umgebracht."

Dieser letzte Satz gab mir den Rest. Schwer atmend, mit geschwollenen Augen und gesenktem Kopf saß ich da. Meine Hände schwitzten in Lens festem Griff und ich hatte das Bedürfnis, die zwei dicken Decken auf meinen Beinen so weit weg wie möglich von meinem Körper zu schmeißen.

Für einen Moment sagte niemand von uns etwas.

Dann spürte ich, wie eine leichte Kraft an meinem Ellbogen zog und gleich darauf zwei vertraute Arme meinen bebenden Körper in Empfang nahmen. Zärtlich pressten sie mich gegen eine breite Brust, in der das Herz ungewöhnlich schnell schlug.

"Danke, dass du es mir erzählt hast, Sarina.", murmelte Len leise in mein Ohr. Seine rechte Hand fuhr tröstend über meinen Hinterkopf, während die andere sanft meinen Rücken streichelte. Die liebevollen Berührungen bewirkten jedoch genau das Gegenteil von dem, was mein Noch-Freund eigentlich erreichen wollte. Anstatt dass ich nun ruhiger wurde, verstärkte sich mein Weinen nur noch, da die Schuldgefühle, die Trauer, aber auch die Erleichterung, es ihm endlich erzählt zu haben, mich schier überwältigten.

"Danke. Ich habe bis jetzt nicht gewusst, was wirklich dort oben passiert ist. Außer dir, Sylvia und dieser Vampirin hat es ja niemand erlebt." Er hob kurz sein Kinn von meiner Schulter, das bis jetzt dort geruht hatte, und gab mir einen Kuss auf die Schläfe.

Er verwirrte mich.

Wieso bedankte er sich?

Realisierte er nicht, was ich getan hatte?

Wieso war er so . . . lieb?

"Und danke, dass du heil wiedergekommen bist, Sarina.", flüsterte er.

Was?

"Ich bin sicher, du hast dein Bestes gegeben.", redete er leise weiter, während er mir immer weiter übers Haar strich. "Ich bin so stolz auf dich. Das hast du gut gemacht."

Je mehr und länger der junge Alpha jedoch sprach, bemerkte ich das unruhige Beben in seinem Körper. Es wurde stärker, wanderte hoch zu seiner Kehle und übertrug sich schließlich auf seine Stimme.

"Ich bin so froh, dass dir nichts Ernsthaftes passiert ist.", presste er schließlich hervor und wandte dann den Kopf ab. Aber zu meiner Überraschung nicht, um sich von mir zu entfernen, sondern um sein Gesicht fest gegen meine rechte Schulter zu drücken. Ein dunkler Laut entfloh ihm und ich verstand erst nach ein paar Sekunden, dass Len weinte.

"Oh Len", wisperte ich und vergrub meine gesunde Hand in seinen verwuschelten Locken, ehe ich ihn enger an mich zog. "Ich- . . . Ich bin ja jetzt da. U-und mir geht es gut."

Vor Überraschung flossen sogar meine Tränen nicht mehr. Ich wusste nicht so recht, wie ich mit dieser Situation umgehen sollte.

Ich hatte den Alpha noch nie so erlebt.

Schlagartig waren die angsterfüllten, lächerlichen Gedanken, die ich vor ein paar Minuten noch gehabt hatte, verschwunden.

Wie konnte ich nur so selbstsüchtig sein, mich in unsinnigen Hirngespinsten zu verlieren und dabei ganz außer Acht lassen, wie sich Len wohl fühlen mochte?

Allein sein Aussehen sagte mir doch, wie sehr er gelitten hatte.

Wie er litt.

"Es tut mir leid, Len.", flüsterte ich, während die leisen Laute an meiner Schulter nicht den Anschein machten, in den nächsten Augenblicken wieder abzuflachen. Warme Nässe durchtränkte den leichten Stoff meines Nachthemds.

Eine ganze Weile blieben wir so.

Eng aneinandergeschmiegt, mit schmerzenden, aber erleichtert klopfenden Herzen, immer darauf bedacht, keine meiner Verletzungen zu berühren. Doch selbst wenn sich mein Freund ausversehen gegen meine linke, kürzlich wieder eingerenkte Schulter drücken würde, hätte ich es nicht bemerkt. Meine ganze Aufmerksamkeit lag auf seinen zittrigen Atemzügen und den stockenden Lauten, die zwar immer leiser wurden, deshalb jedoch nicht weniger schmerzerfüllt klangen. Behutsam ließ ich die Hand aus Lens Haar hinunter zu seinem Rücken gleiten, wo sie nun beruhigende Kreise zog.

Es brauchte keine Worte zwischen uns.

Die Nähe, die tröstenden Berührungen und unser gemeinsamer Herzschlag sprachen mehr und deutlicher, als Wörter es je vermocht hätten.

Auch als die Tränen meines Artgenossen schon längst versiegt waren, wagte niemand von uns beiden, sich vom jeweils anderen zu lösen.

Wir genossen einfach unsere Zweisamkeit, auf die wir die letzten Wochen so lange gewartet hatten, während uns Stress, Todesangst und die Suche nach einem Verräter und dem Gegenmittel für das Tagwandlerserum im Nacken gesessen hatten.

Alles, was ich wahrnahm, war Len. Die Wärme seiner Hände, sein vertrauter Geruch, das Geräusch seines leisen Atems an meiner Schulter, der Anblick seines Nackens, in dem sich trotz der neuen Frisur immer noch kleine, nun schwarze Locken kringelten. Diesen gemeinsamen Moment hatten wir uns wirklich verdient und ginge es nach mir, sollte er niemals enden.

"Sag mal, schläfst du?", fragte ich nach einer viel zu kurzen Ewigkeit leise und stupste Len leicht in die Seite. Ich hatte bemerkt, wie der Atem meines Freundes über die letzten Minuten immer ruhiger und tiefer geworden war. Belustigt schaute ich nun auf ihn hinab.

"Ruhe, so kann ich nicht schlafen.", grummelte er, begann aber erschöpft zu lächeln, während er die Augen jedoch immer noch geschlossen hielt. Unentschlossenes Schweigen schwebte zwischen uns, das aber nicht lange anhielt, da er mir schließlich gegen den Hals pustete.

Es kitzelte. Überrascht lachte ich auf und warf entrüstet den Kopf in den Nacken.

"Len!"

"Ist ja schon gut.", seufzte er und löste sich ein wenig widerwillig von mir. Mit schief gelegtem Kopf sah ich ihm aufmerksam dabei zu, wie er sich mühsam aufrichtete.

Obwohl wir uns nicht mehr berührten und das Gefühl seines Herzschlags auf meiner Haut verschwunden war, pulsierte das Pochen immer noch durch meinen Körper. Ich wusste auch ohne auf den Monitor neben dem Bett zu schauen, dass unsere Herzen im Gleichtakt miteinander harmonierten und mit einem Mal fiel mir die Frage ein, die Len mir vor einigen Monaten gestellt hatte:

"Ich kann dein Herz hören. Und du?"

Damals war ich verwirrt gewesen und hatte nicht gewusst, worauf er hinauswollte, sodass ich verneinte. Auch, wenn er es damals nicht offen zeigte, traf ihn diese Antwort hart.

Denn nun wusste ich genau, was er gemeint hatte.

Nun wusste ich, was sich zwischen uns verändert hatte, was sich plötzlich so anders und intensiv anfühlte.

Zögernd tastete ich nach seinen warmen Fingern.

"Ich kann deinen Herzschlag hören.", flüsterte ich und sah fest in seine tiefen Augen, die sich bei diesen leisen Worten weiteten. "Ich spüre ihn so deutlich, als wäre er mein eigener."

Wir sahen uns nur an und ich merkte, wie Len nach Worten rang. Ich hatte ihn wohl aus der Fassung gebracht. Sein Adamsapfel hüpfte nervös, als er sich erst die Lippen befeuchtete und dann schluckte. Als er letztendlich sprach, war seine Stimme -ganz im Gegensatz zu seinem unruhigen Verhalten- tief und fest.

"Sarina"

Der Klang meines Namens auf seinen Lippen bereitete mir eine Gänsehaut und mit einem Mal kam mir alles unwirklich vor. Len Dawson, der unnahbare Alpha, saß wie ein dunkler, gefallener Engel auf meiner Bettkante, während seine mir nur allzu vertrauten Hände meine eigenen so eisern umklammerten, als befürchte er, ich würde ohne diese Berührung aufspringen und davonlaufen. Sein offenes, beinahe verletzliches Gesicht war in meine Richtung gewandt, die ungewohnt dunklen Augen glänzten leicht im Licht des anbrechenden Tages, während ihm eine schwarze Locke in die Stirn fiel, als er sich verlegen räusperte, um einen neuen Versuch zu starten.

"Als wir uns vor der Schlacht voneinander verabschiedet haben, du weißt schon . . . Bei der Sonnenquelle." Er schenkte mir einen vielsagenden Blick und obwohl ich wusste, worauf das hinauslaufen würde, verschränkte ich die Arme so gut wie schmerzfrei vor der Brust und setzte eine grüblerische Miene auf.

"Na ja, unter der Weide, diesem riesigen Baum mit den langen Ästen."

"Len, ich weiß, was eine Weide ist."

"O-okay, na ja. . ." Der junge Alpha schluckte schwer und zu meiner Verblüffung konnte ich beobachten, wie sich seine blassen Wangen plötzlich in einen zarten Rotton färbten. "Ich wollte dir damals eigentlich noch etwas sagen. Etwas Wichtiges, aber aus irgendeinem Grund wolltest du mich nicht aussprechen lassen und da dachte ich-"

"Len", unterbrach ich ihn und suchte seinen Blick, der die ganze Zeit nur das Pflaster an meiner Schläfe angestarrt hatte.

"-dass du vielleicht . . . na ja, es nicht hören wolltest, weil du . . ."

"Len!", rief ich beinahe und dieses Mal verstummte er.

"Was glaubst du wohl, warum ich dir das mit deinem Herzschlag gerade eben erzählt habe?" Ich gab mir alle Mühe, ihn nicht sofort am Kragen zu packen und einmal kräftig zu schütteln. "Oder warum ich nicht wollte, dass du bei unserem Abschied genau das aussprichst, was du vorhattest auszusprechen? Spürst du es denn nicht?"

Mein Freund sah mich nur an und die plötzliche Stille zwischen uns ließ erneut Zweifel in mir aufsteigen.

Hatte ich mich getäuscht?

War diese tiefe Empfindung in meinem Innern, die durch meine Adern pulsierte, meinen gesamten Körper in ein trunkenes Kribbeln versetzte, mein Herz zum Flattern und den Puls ins Stolpern brachte nur einseitig?

Doch als ich so in Lens errötetes Gesicht sah, in dem jedoch neben dem hoffnungsvollen Ausdruck auch ein Hauch Unsicherheit schwebte, wurde mir eines klar:

Len hatte genauso eine Angst davor, mich zu verlieren oder eine Abfuhr von mir zu bekommen, wie mich allein der Gedanke in Panik versetzte, er könne sich nach meiner Erzählung wieder in den kalten, ausdrucklosen jungen Mann verwandeln, den ich letztes Jahr kennengelernt hatte.

"Ich liebe dich, du Idiot.", sagte ich mit fester Stimme und beugte mich vor, um unsere Finger miteinander zu verschränken. "Ich wusste, dass ich dich nicht hätte gehen lassen können, wenn du es mir gesagt hättest."

Der Alpha sah so aus, als würde er gleich wieder in Tränen ausbrechen, doch meine freie Hand fand den Weg zu seiner Wange und fuhr zärtlich über die erhitzte Haut. Das Beben seines Pulses vibrierte unter meinen Fingerspitzen, breitete sich durch meine Hand, über meinen Arm bis hin zu meinem Herzen aus, sodass ich nichts weiter wahrnahm, als Lens Wärme, seine tiefen Augen und das stetige Pochen in seiner Brust. Sein Griff verstärkte sich und als ich ihn ansah, wusste ich nicht, ob der dunkelgrüne Schimmer in seiner Iris nur Einbildung war.

"Ich liebe dich, Sarina." Das breite, dennoch schüchterne Lächeln traf mich direkt ins Herz. Und obwohl ich es längst wusste, verursachten diese Worte eine angenehme Gänsehaut auf meinem gesamten Körper, sowie das kribbeligste, aufregendste Prickeln, das sich je in meiner Magengrube ausgebreitet hatte. Da konnte sogar unser erster Kuss nicht mithalten.

Ich kicherte und Len legte amüsiert die Stirn in Falten.

"Was ist denn nun schon wieder?"

"Nichts, nichts.", lachte ich leise und schüttelte meinen Kopf. Ich war so voller Euphorie, dass es mir schier unmöglich war, die glucksenden Glückslaute, welche meinem Mund entwichen, zu unterbinden.

"Du hast es echt drauf, McAllen.", schmunzelte Len. "Du hast es tatsächlich geschafft, mein sorgfältig geplantes Geständnis an dich zu reißen. Dabei hatte ich eine ganze Rede vorbereitet."

"Wirklich?", lachte ich und rückte näher an ihn heran. Mein Blick fiel automatisch auf seine Lippen.

"Ja.", machte Len. "Ich dachte schon, sie wäre zu lang, weshalb ich bereits mental nach Stellen für Kürzungen gesucht habe." Er redete zwar immer noch, aber seine Stimme wurde immer leiser, je weiter ich mich ihm näherte. Der dunkle Blick auf meinem leicht geöffneten Mund wurde noch dunkler, als er mir letztendlich fast schon ungeduldig entgegenkam. Ich unterdrückte ein Schaudern.

Noch nie hatte ich seine Präsenz so intensiv gespürt wie in diesem Moment.

"Dawson?", wisperte ich leicht gegen seine vor Erwartung bebenden Lippen und ließ meine freie Hand hoch in seine schwarzen Locken fahren. Das Verlangen, ihn zu berühren wurde immer stärker. Ich wollte ihn so nahe wie möglich bei mir.

"Mmh?" Len hatte die Augen bereits geschlossen.

"Ich bin sicher, die Rede wäre auch in Originalform nicht ausführlich genug gewesen."

"Da bin ich mir sicher." Er platzierte einen sanften Kuss auf meinem rechten Mundwinkel. "Wie könnte ich jemals in Worte fassen, was ich für dich empfinde?"

Ich wollte ihm gerade sagen, dass ich genau dasselbe vor nur wenigen Minuten auch schon gedacht hatte, aber da landeten seine weichen Lippen auf meinen und der Gedanke wurde von einem wilden Gefühlssturm in die hinterste Ecke meines Denkens verdrängt.

Ein wohliges Seufzen entfuhr mir und ich lehnte mich noch weiter in den Kuss hinein, während meine Hand von ganz allein ihren Weg zum weichen Stoff seines Kragens fand, um sich dort zu vergraben.

Ich wusste, wie es sich normalerweise anfühlte, Len zu küssen.

Immerhin waren wir nun schon eine ganze Weile zusammen und mittlerweile hatte ich mich daran gewöhnt.

Jedenfalls dachte ich das.

Aber das hier war neu.

Dieses intensive Gefühl, welches sich bei der Berührung unserer Lippen in mir ausbreitete und mich von Kopf bis Fuß bis in den kleinsten Winkel meines Körpers einnahm, mich durchströmte wie tausend kleine Stromstöße, mir meine Sinne vernebelte und alles ausschaltete, außer dem Gefühl von Lens weichem Mund auf meinem. Ich war wie in einem Rausch.

Näher, immer näher zog ich meinen Freund und es kam mir so vor, als bündelten sich alle Emotionen der letzten Tage und Wochen nun in diesem einen Kuss. Die Angst und Panik, Wut, Verzweiflung und Trauer vermischten sich mit den euphorischen Gefühlen wahrer Liebe und Freundschaft, Glück und einer kleinen, gefährlichen Prise heißen Verlangens nach Lens Berührungen. Sie alle bildeten ein berauschendes Gemisch, das meinen Körper nun bis an den Rand der absoluten Gefühlsekstase brachte.

In meiner Trance hob ich nun beide Hände, führte sie hinauf zum Nacken des Alphas und verkrallte dort meine Finger in seinen Locken. Len entfloh ein überraschtes Stöhnen und ich nutzte die Gelegenheit, um mit meiner Zunge vorwitzig über seine Unterlippe zu fahren. Mein Freund verstand die Intention und gab fast augenblicklich nach, um den Mund noch ein wenig weiter zu öffnen.

Verdammt, wir sollten hier wirklich aufhören.

Aber wie sollten wir aufhören, wenn es sich so gut anfühlte?

"Wow, okay", keuchte Len, als er merkte, wie sich seine Hände langsam unter den Stoff meines Nachhemds schieben wollten. Fast gewaltsam löste er sich von mir. "Warte kurz. Warte."

Keuchend nahm er seine Hände von meiner Taille und meine aus seinem Nacken und presste sie dann sanft zwischen uns auf die Bettdecke. Unsere Schultern hoben sich schwer, während wir nach Luft und Fassung rangen.

Was zur Hölle war gerade passiert?

Der Monitor neben dem Bett piepte immer noch leise und ich versuchte verbissen, meinen Herzschlag zu beruhigen, da das Geräusch nun peinlich laut im stillen Raum widerhallte.

Len hingegen räusperte sich verlegen und zog seinen Pullover ein wenig weiter über seine Hose.

Ich grinste.

"Sorry", sagte ich, konnte aber das belustigte Glucksen nicht verhindern, dass zwischen meinen Lippen hervorbrach. Der Alpha bedachte mich nur mit einem gespielt finsteren Blick, der aber, je länger er mein strahlendes Gesicht betrachtete, immer ernster wurde.

"Was ist los, Len?", fragte ich besorgt und griff wieder nach seiner Hand.

"Ich weiß, ich habe dir versprochen, an deiner Seite zu sein, was immer auch geschehen mag. Ich habe versprochen, dass wir alles zusammen durchstehen würden, egal, was passiert." Betreten senkte er den Kopf, aber die Qual in seinen Augen konnte ich trotzdem sehen.

"Ich habe es dir fest versprochen und trotzdem war ich nicht an deiner Seite, als-"

Er konnte es nicht aussprechen, doch das musste er auch nicht. Es schmerzte auch genug, über den großen Verlust, den er -den wir- zu verkraften hatten, nur nachzudenken.

Frustriert kräuselte er die Stirn. Offensichtlich ärgerte er sich über seine emotionale Verwundbarkeit genauso, wie ich mich über meine nur einige Minuten zuvor.

"Hey, ist schon okay, Len.", erwiderte ich sanft und strich einmal beruhigend mit meinem Daumen über seinen verkrampften Handrücken. "Wir haben ja nicht gewusst, dass es dazu kommen würde. Es ist so einiges schief gelaufen in dieser Nacht. Ich mache dir keine Vorwürfe."

Und obwohl er nickte, konnte ich sehen, dass er nicht überzeugt war.

Kurz war es still. Das Piepen war verstummt.

Nervös kaute ich auf meiner Unterlippe und fragte mich, was den Alpha noch belastete. Aber bevor ich vorsichtig fragen konnte, platzte es schließlich aus ihm heraus:

"Ich war da. Als die Flammen so hoch waren, dass sie den Turm fast verschlungen hätten."

Sein Brustkorb hob und senkte sich heftig nach diesen Worten, das Gesicht plötzlich wieder so bleich wie mein Bettlaken.

"Wie du warst da?", fragte ich verwirrt.

"I-ich war vor der Burg.", stammelte er. "Ich wollte hinein, weil ich aus irgendeinem Grund wusste, dass du in Gefahr warst. Dass du irgendwo in dieser brennenden Ruine stecktest und meine Hilfe brauchtest."

Mit einem Mal schloss er die Augen, als würde er es nicht weiter ertragen können, mich anzusehen.

"Ich war drauf und dran, mich in die Flammen zu stürzten. Doch plötzlich ist Nevis neben mir aufgetaucht und hat mich festgehalten. Er hat einfach nicht lockergelassen, obwohl ich wie ein Wilder um mich getreten und geschlagen habe. Erst, als ein riesiger Schatten über unsere Köpfe hinweg Richtung Turm geflogen ist, hat er mich wieder losgelassen. Ich glaube-"

Mein Artgenosse drehte leicht den Kopf ab.

"Ich glaube er wusste, was Sylvia vorhatte. Sie hat ihn bestimmt eingeweiht."

Ich war schon drauf und dran, zu einer leichten, aber doch bestimmten Ermahnung anzusetzen, jetzt nicht Nevis die Schuld an dem Ganzen zu geben, da redete Len schnell weiter.

"Er hat das Richtige getan. Ohne ihn, wäre ich sicherlich jetzt nicht mehr hier." Er machte eine kurze Pause, bevor er wieder von Neuem ansetzte. "Der springende Punkt ist, dass ich in dieser Situation an mein Versprechen erinnert und gleichzeitig damit bestraft wurde, es nicht einhalten zu können. In meinem ganzen Leben habe ich mich noch nie so hilflos gefühlt. Ich hoffe deshalb, dass du . . . -"

Dunkle, tieftraurige Augen suchten scheu meinen Blick.

"Ich hoffe, du kannst mir vergeben."

Niemals wäre ich darauf gekommen, dass sich Len auf irgendeine Weise verantwortlich für die Geschehnisse in jener Nacht fühlen würde. Niemand hatte wissen können, wie sich die Situation letztendlich entwickeln würde. Denn ab dem Zeitpunkt, wo Akaya ihre nackten Füße auf das Gelände der Akademie gestellt hatte, war uns so gut wie vollständig die Kontrolle über alles entglitten, was darauf folgte.

Auch ich realisierte das jetzt erst, und als ich letztendlich sprach, waren meine Worte mit Bedacht gewählt:

"Meine Mum meinte, es gäbe gewisse Dinge, auf die man keinen Einfluss hat. Ich glaube, das ist eines davon, Len." Ich lächelte meinem Freund ermutigend zu. "Es wird wohl immer etwas geben, mit dem wir nicht rechnen. Etwas, das nicht in unseren Plan passt. Die Herausforderung besteht dann nur darin, damit auch umzugehen, ohne, dass es uns zu sehr kaputt macht. Diese reuevollen 'Was wäre, wenn . . .'-Gedanken sind dabei wahrscheinlich nicht die beste Bewältigungsstrategie. Das muss ich selbst noch lernen. Wenn wir nämlich immer nur darüber nachdenken, wie alles hätte kommen können, macht uns das blind für die Realität."

Ich hob unsere verschränkten Hände und drückte einen Kuss auf seinen Handrücken.

"Vor einem dreiviertel Jahr hatte ich noch keine Ahnung, dass es so etwas wie Gestaltwandler, Vampire, Werwölfe und Magie überhaupt gibt. Und jetzt sieh mich an. Mein Plan war es, weitestgehend unbeschadet und unauffällig die High School zu beenden, einen guten Abschluss zu machen, zur Uni zu gehen und dann einen angesehenen Job zu kriegen."

"Vermisst du dein altes Leben manchmal?", fragte Len leise.

Nachdenklich wiegte ich den Kopf hin und her und nickte dann zu meiner eigenen Überraschung.

"Ein wenig. Mit siebzehn sollte man nicht eine solche Verantwortung tragen, wie wir es tun."

Ich schwieg einen Moment und dachte nach.

"Aber dann führe ich mir vor Augen, was ich sonst alles verpasst hätte: meine erste beste Freundin, Freunde, die mich aufrichtig mögen und nicht nur wegen des Vermögens meiner Eltern. Außerdem die beste Mentorin und Lehrerin, die ich mir nur hätte wünschen können und . . ." Ein verlegener Blick zu Len. "meine erste, große Liebe."

Mein Freund lächelte bei diesen Worten, streckte den Arm aus und strich mir diese eine Strähne aus dem Gesicht, die sich immer wieder dahin verirrte.

"Ich hoffe doch auch die letzte."

"Das kommt ganz darauf an, ob du dich gut benimmst.", erwiderte ich frech.

"Komm her, du.", schmunzelte der Alpha, nahm mein Kinn und gab mir einen langen, zärtlichen Kuss. Mit der Berührung durchfuhr mich eine Welle tiefe, aufrichtige Erleichterung und ich wusste, dass Len mir so mitteilte, wie dankbar er für diese aufmunternden Worte war. Manchmal waren unsere Alpha-Fähigkeiten wirklich praktisch.

◆◇◆◇◆◇◆◇◆◇◆

Eine halbe Stunde später saßen wir zusammen auf dem Bett und aßen Rührei, Bacon, Toast mit Marmelade und ein wenig Obst. Mrs. Bell, eine freundliche Krankenschwester, die heute morgen die Station betreute, hatte Len erlaubt, noch ein wenig länger bei mir zu bleiben. Und so war er kurz hinunter in den Speisesaal gegangen, um unser Frühstück zu holen.

Da ich zwei Tage lang keine feste Nahrung zu mir genommen hatte, verspürte ich zwar einen Mordshunger, konnte jedoch nicht annähernd so viel essen, wie ich es gewohnt war.

"Was hat es eigentlich mit deinem veränderten Aussehen auf sich?", fragte ich Len und beobachtete ihn dabei, wie er sich den letzten Bissen seines vierten Toasts in den Mund schob. Ich hatte derweil die Beine an den Körper gezogen, lehnte mit dem Rücken an dem hochgefahrenen Kopfteil meines Bettes und balancierte eine Tasse heißen Tee auf meinen Knien.

"Daf if ein Geheimnif zwiffen mir un Newif.", antwortete mein Artgenosse kauend.

"Was?", fragte ich irritiert.

Len schluckte, nahm ein Schluck Wasser und wiederholte dann seinen Satz.

"Das ist ein Geheimnis zwischen mir und Nevis. Ich sage nur so viel: schwarzer Vogel und Kapuze."

Noch verwirrter als vorher winkte ich ab und beließ es dabei.

"Okay, ich dachte schon, es wäre wegen der ganzen Situation." Ich traute mich nicht, den Tod seiner Tante direkt anzusprechen. Wahrscheinlich war es noch zu früh.

Len verstand es trotzdem und nickte nur leicht mit dem Kopf.

"Ich weiß. Aber es ist nur Zufall, dass mein Äußeres plötzlich auch mein Inneres widerspiegelt." Er stand auf und stellte das Tablett mit unseren Tellern auf den Nachttisch neben meinem Bett. "Keine Sorge, sobald ich mich wieder öfter in den Löwen verwandle, sehe ich wieder so aus wie immer."

Mir fiel ein, dass ich in der Schlacht oft zwischen der Gestalt der Löwin und der Eule gewechselt hatte. Ob ich noch so aussah wie immer?

Len bemerkte meinen fragenden Blick und schüttelte den Kopf, sodass seine schwarzen Locken auf und ab hüpften.

"Bei einem neuen Tier muss sich der Körper immer erst ein wenig an die neue Gestalt gewöhnen. Später ist der Umbruch dann nicht mehr so stark. Deshalb wirken deine Haare im Moment nur ein wenig heller als sonst, aber deine Augen sind noch türkis. Dein Körper kennt die Eulengestalt bereits."

Er kletterte neben mich unter die Decke und als er schließlich eine bequeme Position gefunden hatte, legte ich meinen Kopf auf seine Schulter.

"Was gefällt dir denn besser?", fragte er neugierig.

"Meinst du an mir oder an dir?"

"Bei mir natürlich. Ich weiß ja eigentlich gar nicht, auf welchen Typ du so stehst. Dank unserer Alpha-Gene kommen wir nämlich ums Haarefärben, Kontaktlinsentragen und alles andere, was zu einer Typveränderung beitragen würde, herum. Du musst mir nur sagen, auf was du stehst und ich suche mir das passende Tier aus."

Ich lachte kopfschüttelnd.

"Len, das ist eine der absurdesten Unterhaltungen, die wir je geführt haben. Wahrscheinlich die absurdeste Unterhaltung, die je geführt wurde."

Und obwohl ich sein Gesicht nicht sehen konnte, hörte ich das breite Lächeln, als er antwortete: "Ach, komm schon. Ich bin wirklich ein bisschen neugierig."

Ich musste gar nicht lange nachdenken, denn die Antwort war für mich ganz klar.

"Du bist mein Typ, Len. Ganz egal, wie du aussiehst."

Len seufzte.

"Ich wusste, dass du das sagen würdest."

"Hey, jetzt beschwer dich nicht auch noch darüber. Das ist doch das größte Kompliment, das ich dir geben kann. Somit kannst du dir zu hundert Prozent sicher sein, dass ich dich nicht nur wegen deines Aussehens mag."

"Liebst.", korrigierte er mich und hob einen Zeigefinger. "Du liebst mich."

"Ja ja", machte ich. "Jetzt sei mal nicht so selbstgefällig, sonst gehe ich wieder zurück zu Stan."

Jetzt war es an ihm, verwirrt die Stirn zu runzeln.

"Stan? Wer ist Stan?"

Ich legte mir theatralisch die Hände auf die Brust und seufzte schwer.

"Stan der Steingräber. Meine andere große Liebe. Tai hat uns einander vorgestellt."

"Ich kann nicht glauben, dass ich kurz eifersüchtig auf einen Steingräber war.", murmelte Len in seinen nicht vorhandenen Bart, doch ich hörte ihm gar nicht mehr zu. Mir war nämlich etwas eingefallen.

"Sag mal, was hat Tai eigentlich in der Burg gemacht? Ich hab ihn ja da in dieser riesigen Markthalle getroffen, nachdem er bereits ein Dutzend Wervampire abgeschlachtet hatte. Aber wie kam er eigentlich in die Burg? Der einzige Zugang war doch verschüttet."

Der junge Alpha neben mir ließ seinen Zeigefinger gedankenverloren kleine Kreise auf der Decke über unseren Beinen ziehen.

"Er wurde schon zu Beginn der Schlacht von einem der Monster mitgeschleift und über die Turmmauern geschleppt. Irgendwie hat er es wohl geschafft, zu entkommen und ab da an die ganze Zeit über im Inneren der Burg ums Überleben gekämpft."

Ich unterdrückte ein Schaudern.

"Das muss schrecklich gewesen sein."

"Hm"

Mir fiel mal wieder aufs Neue auf, dass jeder einzelne von uns wahrscheinlich eine ganz eigene Geschichte zu dieser Nacht erzählen konnte. Angefangen bei Efy und dem Überfall auf ihr Dorf, Ruby, die plötzlich doch in der Nähe des Schlachtfelds eingesetzt wurde, der schwer verwundete Seth, Tai im Innern der Burg, Len und Nevis und ich mit Akaya und Mrs. Roberts. Und wahrscheinlich gab es noch hundert weitere Versionen, die aber nie alle erzählt werden konnten. Denn die Zahl der Opfer dieser Schlacht war vermutlich größer, als wir gedacht hatten.

Allein der Gedanke daran verursachte in mir eine drückende Übelkeit. Hoffentlich waren meine Freunde wohlauf.

Vorsichtig schielte ich hoch zu Len. Eigentlich wollte ich ihn jetzt nicht auch noch damit belästigen, schließlich hatten wir für die wenigen Stunden, die wir erst wach waren, bereits genug Emotionen durchlaufen. Aber . . .

"Was ist mit den Anderen?", fragte ich leise und umklammerte die Tasse in meinen Händen fester, in der Hoffnung, sie würde mir ein wenig Halt geben und mich auf die Antwort vorbereiten.

Len schluckte schwer und mir wurde bei dieser verhaltenen Reaktion augenblicklich heiß und kalt zugleich.

"D-die Meisten haben es geschafft, aber-" Er legte den Kopf in den Nacken und blinzelte hinauf zur Decke. "Scarlet und David- . . . Sie sind . . . Sie haben . . . es nicht-"

Seine Stimme versagte unter dem Gewicht des Schmerzes, der in ihr lag.

Scarlet? Unsere Scarlet, die unerschrockene Kriegerin? Rubys Scarlet?

Und David? Lens David?

"Oh Len, es tut mir so leid.", hauchte ich, nahm seine ruhelose Hand und schmiegte mich enger an ihn. "Weißt du, was passiert ist?"

Mein Freund schüttelte nur stumm den Kopf und mit einem Mal wurde mir bewusst, wie schlimm die letzten Tage wohl für ihn gewesen waren. Seine Tante, die jedoch fast wie eine Mutter für ihn war, den besten Freund und eine enge Freundin gleichzeitig zu verlieren, war umso vieles schlimmer, als nur zweieinhalb Tage ohnmächtig auf der Krankenstation zu liegen. Wahrscheinlich hatte er dazu auch noch Angst um mich gehabt, nicht wissend, ob und wann ich wieder erwachen würde. Ob ich die selbe sein würde, wie damals, als wir uns voneinander verabschiedet hatten.

Die Ungewissheit muss ihn unvorstellbar gequält haben.

"Was ist mit Seth? Ist mit ihm alles wieder in Ordnung?"

Len wischte sich mit dem Handrücken über die Augen, schniefte und nickte einmal.

"Zwischendurch sah es nicht sehr gut aus. Mr. Mason hat schon darüber nachgedacht, ihm sein Bein zu amputieren, aber dann wurde es plötzlich besser und sie haben den Gedanken glücklicherweise schnell wieder verworfen. Trotzdem wird er nie wieder so laufen können wie zuvor."

Wir schwiegen eine Weile und ich ließ die Nachricht erst einmal sacken.

Ich musste so schnell wie möglich mit Ruby reden. Sie musste untröstlich sein. Ihre große Schwester hatte ihr alles bedeutet und dasselbe hatte für Scarlet gegolten. Als Ruby damals entführt worden war, war ihre große Schwester am Boden zerstört gewesen.

Allein der Gedanke an die beiden trieb mir die Tränen in die Augen, doch ich schluckte sie herunter. Das brachte sie auch nicht zurück.

"Wie wird es jetzt weitergehen?", fragte ich nach einigen Minuten, in denen wir unseren eigenen Gedanken nachgehangen hatten.

"Mrs. Knight wird sich vorläufig um die Leitung der Schule kümmern, bis wir einen neuen Leiter gefunden haben. Unser Einzelunterricht wird vorerst auch mit den Anderen stattfinden, aber wann weiß ich nicht. Es könnte gut sein, dass wir dieses Schuljahr gar keinen Unterricht mehr haben werden.", erklärte mir Len mit gesenkter Stimme. "Die halbe Schule ist verwundet, die jüngeren Schüler sind bei ihren Eltern zu Hause, die sie wahrscheinlich auch erst einmal dabehalten, und niemand weiß genau, wie der Rest der magischen Welt auf den Vorfall reagieren wird."

"Also hat niemand so wirklich einen Plan", übersetzte ich und mein Freund zuckte mit den Schultern.

"Ich glaube, mit der Zeit regelt sich das schon. Im Moment ist einfach alles anders."

Ja.

Und ich hasste dieses anders.

Wir schwiegen wieder und ich wartete darauf, dass der beklemmende, drückende Schmerz in meiner Brust nachließ. Doch je länger ich dort mit Len auf diesem Bett saß, der piepende Monitor daneben und Neonlampen über mir, die mir Kopfschmerzen bereiteten, desto schwerer wurde es, an etwas Anderes zu denken. Wir alle hatten mehr oder weniger sichtbare Narben von dieser Nacht davongetragen. Jeder schleppte nun seine eigene Last mit sich herum und wie grausam und schwer sie auch sein mochte, ich konnte nur hoffen, dass wir uns in diesen ungewissen Zeiten nicht voneinander entfernten. Die Bürde würde vielleicht nicht leichter werden, aber wenigstens könnten wir uns vergewissern, dass wir nicht allein waren. Gemeinsam würden wir vielleicht einen Weg finden, das anders zum neuen normal zu machen.

Mit diesem Gedanken drückte ich Lens Hand.

"Weißt du was", flüsterte ich. "wenn ich so darüber nachdenke, stehe ich unheimlich auf grüne Augen."

Er lachte nur tief und das Vibrieren in seinem Brustkorb durchflutete mich wie eine warme Welle, sodass sich das Engegefühl in meinem Innern ein wenig löste.

Ja, gemeinsam würden wir es nicht allzu schwer haben.

Davon war ich überzeugt.

_____________________________

Heyho, Leute!

Endlich geht eines meiner Lieblingskapitel online. Wie lange ich nun schon darauf gewartet habe . . . man könnte meinen, es wären beinahe 7 einhalb Jahre (haha -.- nicht witzig)

Aber jetzt mal ernsthaft, slow burn Liebesgeschichten sind doch mit die besten, oder? xD

#Lerina deserves it all

Wie fandet ihr das Liebesgeständnis? Zu dramatisch? Zu wenig? Genau richtig?

Ansonsten hoffe ich, euch geht es soweit gut. Dieses Kapitel hatte ja eine ganz schöne Gefühlsachterbahn am Start.

RIP. an alle gefallenen Charaktere

Len tut mir gerade so unendlich leid . . . eigentlich tun mir alle gerade ziemlich leid.

Keine Ahnung, was ich in so einer Situation tun würde.

Übrigens hoffe ich, dass bei euch keine offenen Fragen mehr geblieben sind. Im letzten Kapitel gab es ja einige Kommentare, die ich jetzt hoffe, mit diesem Kapitel beantwortet zu haben. Wenn nicht, dann gebt gern bescheid.

So, ansonsten: Konstruktive Kritik, Verbesserungsvorschläge, Wünsche etc. sind immer willkommen!

Habt einen schönen Abend!

LG <3

Cherry

PS: Ich habe ernsthaft in Erwägung gezogen, zusätzlich zu den bereits genannten Charakteren, noch Paul oder Aria oder beide abzumurksen . . . Aber mein Herz hätte das nicht ausgehalten, glaube ich ^^'

PPS: Habt ihr noch Fragen an mich? Ich habe vor, ein kleines Q&A Kapitel zu machen, wenn das Buch abgeschlossen ist. Wenn ihr etwas über das Buch, die Story, die Charaktere oder über mich wissen wollt, schreibt es gern in die Kommentare !Achtung! Es gibt keine Garantie, dass ich letztendlich alle Fragen beantworte.

Oke. Das war's jetzt aber wirklich ^^

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