Die Verlierer - Herz aus Beton

By traumjaegerin

7.4K 725 619

[TEIL 3] Jay gehört die Unterwelt. Von der Siedlung über die Bahntrassen bis zum Görli, dort, wo sich die Dea... More

1 | Meine Welt, meine Regeln
3 | Farbe auf das Elend
4 | Todesmut oder Idealismus
5 | Unser süßes Geheimnis
6 | Die Welt ist käuflich
7 | Tote Augen, tote Seelen
8 | Spielplatzabende
9 | Flaschenpost ohne Message
10 | Scherben und Alkohol
11 | Kontrollverlust
12 | Eklige Idylle
13 | Sicherheit
14 | Du lügst mich nicht an
15 | Kein Grund nüchtern zu bleiben
16 | Welt in Scherben
17 | Viel zu viel Blut
Triggerwarnung

2 | Saufen in Theorie und Praxis

440 52 64
By traumjaegerin

Als die Taxifahrerin vor der U-Bahn-Station anhielt, entdeckte ich Fede sofort. Er stand da, gegen eine Graffitiwand gelehnt, die Kapuze seines Hoodies auf dem Kopf. Seine Beine steckten in seiner engen Jogginghose, die ich so sehr an ihm liebte, verdammt. In nichts sah sein Arsch besser aus. Fede wirkte müde, wie er seinen Blick auf den Boden gesenkt hatte und die Hände in den Taschen vergraben. Mich hatte er noch nicht bemerkt.

»Stimmt so«, meinte ich und drückte ihr einen Fuffi in die Hand. 22,54 zeigte der Taxizähler an.

Dankend nickte sie mir zu. »Dafür, dass du mir die Karre vollgeblutet und fast vollgekotzt hast?«, grinste die ältere Frau mit dem türkischen Akzent und dem dunklen Dutt, der an einigen Stellen von Grau zersetzt war. Wir kannten einander, ich war schon öfter mit ihr gefahren. Sie war einer der hart arbeitenden Menschen aus unserem Viertel, dies schwer genug hatten, ihre Familien durchzubringen. Da waren paar Euro Trinkgeld nicht verkehrt.

»Pass auf dich auf, mein Junge«, sagte sie zum Abschied, ehe ich die Beifahrertür hinter mir zu fallen ließ und dann in Fedes Richtung ging. Da hob er seinen Blick, über sein Gesicht huschte ein schwaches Grinsen.

Hier hingen irgendwelche Jugendlichen rum, soffen Billo-Wodka und machten sich einen Spaß daraus, mit Feuerwerk herumzuballern. Eine Rakete schoss in die Richtung des wegfahrenden Taxis, sie johlten laut und klatschten sich an den Händen ab. Original wir, früher immer an Silvester.

Angenehmeres Publikum als in dem Bonzenloch. Hätte ich keine Sekunde länger ertragen, diese topgestylten Missgeburten, deren Perfektion mir den Mageninhalt hochtrieb.

»Ey, Bro, alles klar?«, rief einer von ihnen mir zu. Ich beschränkte mich auf ein Nicken, keine Zeit für sowas, und ich hatte eh keinen Plan, wer das war. Niemand, der wichtig für mich sein würde. In den letzten Monaten häuften sich die Menschen, die mit mir rumhängen wollten, weil sie sich persönliche Vorteile davon erhofften.

»Tut mir leid, Jay. Dass ich dich so kurzfristig versetzt habe«, erklärte Fede und klang ein wenig gestresst.

Ich begrüßte ihn mit Handschlag und zog ihn zu einer innigen Umarmung an mich ran. Stieß dabei irgendwie gegen seine Schulter. »Ja, kein Stress, Alter. Als hätts mich gejuckt.«

Fede sah mich skeptisch an. »Hast bestimmt die ganze Zeit auf den Handy geguckt und gewartet, dass ich schreib. Und dir mein Profilbild angeguckt.«

Ich stieß ihn in die Seite, konnte mir aber ein leichtes Grinsen nicht verkneifen. »Wichser.«

»Was?«, lachte Fede. »Ich weiß noch ganz genau, als ich letztens zu dir gekommen bin und Lexie mich reingelassen hat und du in der Küche gesessen bist und da-«

Grob drückte ich meine Hand auf seinen Mund. »Schnauze.«

Ich sah ein Grinsen über Fedes Gesicht huschen, ehe er mir grob in die Finger biss. Schmerz war da keiner und ich sah ihn nur ausdruckslos an, während er fester biss. Und noch fester.

»Scheiß Kokser«, seufzte er, ehe er seine Lippen zurückzog. Tiefe Bisswunden waren auf meinen Fingern zurückgeblieben und ich wusste schon jetzt, dass sie sich morgen blau verfärben würden.

Ich grinste und ging ihm dann voran in den Spät. An der Glastür hing ein abgenutztes Plakat. Das Stadt gehört uns – Gemeinsam gegen Gentrifizierung Und da wunderten sich die Linken, dass sich keiner für sie interessierte. Was für Gentrifizierung, Alter, verstand doch keiner.

Fede hielt ich die Tür auf, was der mit hochgezogener Augenbraue und »Oha, ein Gentleman« quittierte. Unzählige Flaschen, Kippenschachteln und anderer Krimskrams empfingen uns, stickige Heizungsluft schlug in unsere Fressen. Zielstrebig nahm ich einen Sixer Sterni und drückte ihn Fede in die Hand, nahm einen zweiten selbst. Da tauchte auf einmal etwas Spitzes in meinem Rücken auf. Eine weitere Reihe Getränkekästen. »Du Hurnsohn, nich so frech, ey«, lallte ich.

»Ich seh schon, ich hab einiges aufzuholen.« Er lachte. Also Fede, nicht der Getränkekasten.

»Ja, dann auf.« Ich steuerte geradeaus auf die Kasse zu. Also geradeaus in der Theorie, in der Praxis gestaltete sich das ein wenig schwieriger.

»Bin dabei.« Fede grinste und der besorgte Ausdruck verschwand ein wenig aus seinem Gesicht. »Wollen wir noch was Härteres und was zu mischen mitnehmen?«

Okay, ich merkte schon, da hatte jemand Bock zu saufen.

Eine Sache, der ich nie abgeneigt war.

Wir – oder eher Fede – unterschieden uns für Malibu und Kirschsaft (der Kerl hatte einen räudigen Getränkegeschmack, aber na ja, Whisky hatte ich für heute genug).

»Noch ne Packung Gauloises«, verlangte ich von der Verkäuferin, die hinter dem Tresen saß und gelangweilt auf einem alten Kassenzettel herumkritzelte. Sie war in unserem Alter und hatte die braunen Locken im Nacken zusammengebunden.

Sie hob langsam ihren Blick, während ich den Alk vor ihr auf das Tresen stellte. Die Malibuflasche wackelte bedrohlich, doch war sich zu fein zum Runterfallen. Besser so. »Geht das auch in freundlich?«

Aus dem Augenwinkel sah ich, wie unangenehm Fede die ganze Situation fand. Was interessierte es mich.

Er drängte mich zurück, was mich wieder zum Schwanken brachte. »Entschuldigung wegen meinem Kumpel. Eine Packung Gauloises, bitte.« Auf seinen Lippen tauchte ein freundliches Lächeln auf, das ihren Blick nicht erweichte.

»Du brauchst nicht immer für mich zahlen. Ehrlich, Jay. Ich hab doch selber Geld«, widersprach er.

»Ja, und das brauchst du für dich.«

»Aber ist doch auch doof, wenn du deins immer für mich ausgibst.«

Ich griff in meine Hosentasche und nahm einen fetten Bündel Geldscheine heraus. Nur ein Bruchteil von dem, was ich mit ein paar Deals machte. »Denkse etwa, ich krieg das überhaupt allein ausgegeben?«

Entschieden schüttelte er den Kopf, sodass ein paar seiner Locken in die Stirn fielen. »Dann gib lieber deiner Mutter was. Ich komm schon klar.«

»Die kriegt genug.«

»Hm.«

»Keine Widerrede jetzt. Ich lad dich ein.« Ich griff nach seiner Hand und gab ihm einen sanften Kuss darauf. Vernahm ein genervtes Seufzen und sah den Blick der Verkäuferin, die ungeduldig mit den Fingern auf dem Tresen trommelte.

»Wird das heute noch was?«, fragte sie genervt, während ich aus dem Augenwinkel ein leichtes Grinsen auf Fedes Lippen sah. Meine Aktion eben hatte ihm definitiv gefallen.

»Ja, chill, ey.« Ich schmiss ihr ein paar Geldscheine hin, keine Ahnung, wie viel, würde schon passen. Schnappte mir meine Kippen und hätte gerne nach Fedes Hand getroffen, aber irgendwie hatte ich dafür mit dem Sixer und dem übrigen Alk zu viel bei mir.

»Entschuldigen Sie. Einen schönen Abend noch!«, hörte ich Fede, in seiner Stimme ein höfliches Lächeln. Der Kerl hatte definitiv ein paar Manieren zu viel abgekriegt. Sah ihn kopfschütteln und spürte seine Hand in meinem Rücken, wie er mich bestimmt in Richtung der Tür schob.

»Ohne Scheiß, ich geh bald nirgends mehr mit dir hin, wo andere Menschen sind«, meinte er, während uns die frische Dezemberluft empfing. Kälte drängte durch meine offene Jacke und auf dem Platz vor dem U-Bahn-Eingang drängten sich mehrere Menschen. Es war laut, Böllerlärm untermalte die Geräusche.

»Ja ja.« Ich steuerte die Treppen an, die in den Schacht hinunterführten. Lehnte mich gegen das Geländer und stellte den Alk zu meinen Füßen ab.

Fede blieb vor mir stehen und stemmte die Hände in die Seiten. »Du checkst nicht mal, wie lächerlich du dich machst. Dass du mit sowas weder krass noch stark bist, sondern die Leute nur über dich lachen. Ich wette, die erzählt morgen ihren Freunden, was sie gestern in der Spätschicht für einen nervigen Idioten hatte.« Er hob spöttisch seine Augenbrauen, während ich meine Kippenpackung auffummelte und mir eine zwischen die Lippen schob.

»Soll sie halt«, erwiderte ich gleichgültig. Mir war schon klar, dass Fede dachte, er würde mich mit seinen Worten treffen, aber da hatte er sich geschnitten. »Mir doch egal, ob Leute über mich lachen. Ich hab keinen Bock, freundlich zu sein.«

Fede verzichtete auf eine weitere Antwort, doch seine Attitüde zeigte mir unmissverständlich, für was einen großen Idioten er mich hielt. Er riss einen der Sixpacks auf und nahm ein Bier hervor, öffnete es am Deckel eines anderen.

Ich war beschäftigt genug, auf mein Leben klarzukommen. Rauchen einfach ne höchstkomplizierte Angelegenheit.

»Was ist eigentlich mit deinem Gesicht passiert?«, fragte er nach, dabei kannte er das schon. Keine Ahnung, wann mein Körper das letzte Mal ohne Verletzungen gewesen war. Ob jetzt von meinem Job, meinem Talent, die ganze Zeit mit Leuten aneinander zu geraten oder vom Training.

»Paar so hässliche Pisser«, winkte ich mit der Kippe zwischen meinen Lippen ab und schnappte mir ein Bier. »Okay, lass los. Schon ne Idee, wo wir das Feuerwerk gucken wollen?«

Am besten irgendwo, wo wir nur für uns waren.


Immer mehr Raketen explodierten über unseren Köpfen, als wir durch die Feuerschutztür auf das Flachdach traten. Neunzehnter Stock und hier hatte man eine fast so geile Sicht wie in der Rooftop Bar. Fast noch besser, der Fernsehturm war zwar winzig klein am Horizont, aber keine Spur von Bonzen, was ein großer Pluspunkt war.

Fede legte seinen Kopf in den Nacken, während ich die Kälte der Nacht genoss. Half mir runterzukommen nach der verschwitzten Luft im Club. Irgendwie süß, wie er das Feuerwerk genoss, sich ganz auf die vielen hinabgießenden Farben konzentrierte. Ein Blick aufs Handy verriet mir, dass es eine Minute nach Mitternacht war.

»Frohes Neues«, grinste ich und zog ihn schwungvoll an mich, um ihn zu küssen. Ein bisschen zu liebevoll dafür, dass wir nur was Lockeres am Laufen hatten, aber verdammt. Es war das, was ich wollte und vielleicht hatte Fede ja recht. Das Leben war besser, wenn ich nicht immer scheiße war.

Auch wenn das mit uns schon eine Weile ging, fühlten sich die Küsse immer noch scheiße gut an. Innig berührten unsere Lippen einander, bis Fede sich plötzlich zurückzog. »Ich will das Feuerwerk nicht verpassen«, grinste er.

»Langweiler«, seufzte ich. Keine Ahnung, was an paar hässlichen Raketen so spannend war. Taumelnd lief ich vor zum Abgrund und sah hinab. Winzige Autos, die auch so tief in der Nacht über die Straße fuhren, nur eine schmale Linie. Die Lichter des Spätis, der U-Bahn-Station, etwas weiter weg die Bahnlinie und dahinter irgendwo unser Haus.

»Pass auf, Jay!«, vernahm ich Fedes Rufen in meinem Rücken und spürte einen Moment später, wie er an meinen Arm packte. »Nicht, dass du noch runterfällst.«

»Chill.« Und trotzdem süß, wie der sich Sorgen machte.

Bestimmt zog Fede mich neben sich auf den Boden, sodass wir uns in einer sitzenden Position auf dem Dach niederließen. »So bleibst du mir jetzt aber«, meinte er und griff nach dem nächsten Bier.

»Mh.« Ich lehnte mich zurück und sah über das Dach mit seinen unzähligen Antennen. Um uns herum explodierte ein Regen an Feuerwerkskörpern und wir saßen mittendrin. »Was war jetzt eigentlich los?«, fragte ich, als ich mich Fede zuwandte.

»Leonardo.« Fede nahm einen Schluck aus seinem Bier, seine Augenbrauen waren nachdenklich zusammengezogen. Sorge las ich in seinem Gesicht, das von den vielen Farben der Raketen erhellt wurde.

»Was hat der Spast schon wieder angestellt?« Ich rülpste und überlegte, ob ich mich langsam wieder an Alk wagen konnte.

Er warf mir einen wütenden Blick zu.

»Hey, guck nich so.« Meine Stimme klang ein wenig sanfter und ich legte den Arm um ihn. »Erzähl lieber.«

Fede trank noch ein wenig Bier und sah auf den versmogten Himmel, ehe er zu reden begann. »Es ging heute morgen los. Leonardo und Mamma haben mal wieder gestritten, ne Kleinigkeit, er wollte nicht beim Putzen helfen und sie war mies drauf, wegen Migräne und so. Ist dann irgendwie eskaliert, bis sie ihm an den Kopf geworfen hat: Wie willst du dein Leben mal auf die Reihe kriegen, wenn du nicht mal sowas hinkriegst? Da ist Leonardo ins Bad gestürmt und hat sich ewig eingeschlossen. Ich hab versucht, mit ihm zu reden, aber keine Chance. Hab erklärt, dass Mamma das nicht böse meint und sowas. Er hat gar nicht mehr geantwortet, ich bin dann irgendwann ins Zimmer. Hab was geguckt, dies das. Und ... dann kam er irgendwann. Kam mir schon komisch vor, dass er so durcheinander war ... aber ...«

Fedes Stimme zitterte. Er begann damit, an dem Etikett der Sterni-Flasche herumzukratzen. Ein wenig rückte ich näher an ihn ran, umarmte ihn enger. Hoffte, ich konnte ihm damit Halt vermitteln.

»Aber was?«, fragte ich nach.

»Dann hab ich gesehen, dass er sein Bandana lockerer trug. Dass er Klopapier um sein Handgelenk gewickelt hatte und dass ... an einer Stelle bisschen Blut war.« Die Bewegung seines Fingers, mit dem er an seiner Flasche herumkratzte, wurde hektischer. »Scheiße, Jay, mein Bruder tut sich selbst weh!«

Fede hob seinen Blick und ich erkannte Fassungslosigkeit in seinen Augen.

Continue Reading

You'll Also Like

709K 36.2K 29
Hey, ich bin Alex Ich bin 16 und gehe auf ein Gymnasium in Berlin Zehlendorf. Normalerweise bin ich eher ruhig und hab lieber meine Ruhe bevor ich d...
Secret By Jul1417

General Fiction

20.6K 1.2K 59
Askar will normal sein. Naja so normal wie man eben sein kann als 19 Jähriger. So beginnt er sich ein Leben aus Lügen aufzubauen, um vielleicht ein...
112K 2.3K 18
Niklas und Julia. Julia und Niklas. Irgendwie passen die beiden zusammen. Irgendwie aber auch nicht. Seit der vierunddreißig jährige Oberarzt Dr. Nik...
91K 3.7K 56
Trevor ist mit seinem Leben nicht zufrieden. Es ist langweilig. Er hat keine Freundin. Und es macht auch nicht den Anschein, als würde er in naher Zu...