Luna
Die Anspannung ist zum Greifen nahe. Niemand spricht die komische Stille, die sich im Haus der Gibsons ausgebreitet hat, an. Als ich gestern zurück gekommen bin war Cole nicht Zuhause und auch Isabell war angespannt und nicht sehr gesprächig. Sie fragte mich zwar höfflich, wie mein Wochenende war und wie mir die Uni gefallen hat, doch ich merkte ihr direkt an, dass sie mit ihren Gedanken ganz wo anders war.
Den gestrigen Abend verbrachte ich engumschlungen mit Bonny in meinem Bett. Wir schauten uns wieder einen Film an, aber während sie eifrig dabei war jede Szene eindringlich zu schauen, schweiften meine Gedanken immer wieder ab.
Zu meinem Dad, zu Drew und dem allgemeinen Chaos in meinem Leben. Ich schaute nicht mehr auf mein Handy, obwohl ich wusste, dass auf mich Nachrichten von Conner und auch von Meghan warteten. Darum kann ich mich auch noch später kümmern.
Jetzt ist es morgens und um zwölf beginnt die Verhandlung. Als mein Wecker um acht klingelt wache ich mit einem unangenehmen Druck in der Brust auf. Die Frage, ob ich heute endlich meinen Dad in den Arm nehmen kann, treibt mich noch zur purer Verzweiflung. Bevor ich ins Badezimmer marschiere, halte ich vor Coles Tür inne. Sie ist geschlossen, jedoch habe ich gestern nicht mitbekommen, ob er Heim gekommen ist.
Ohne mich zurückhalten zu können, gehe ich auf die Tür zu und öffne sie ganz leise. Die Vorhänge sind zugezogen, aber ich erkenne Cole, wie er im Bett liegt. Meine Hand liegt fest am Türgriff, ich atme tief ein und beobachte bloß seine dunkle Gestalt. Meine Beine weigern sich meinem Verstand nachzugehen, der von mir verlangt einfach ins Badezimmer zu gehen. Doch mein Herz ist anderer Meinung, denn ich brauche meinen alten besten Freund an so einem wichtigen Tag.
Mir entfährt ein Schluchzen, der sich tief aus meiner Kehle hochgegraben hat. Überrascht von mir selbst überquere ich die wenigen Schritte bis zu seinem Bett und steige ohne länger darüber nachzudenken zu ihm unter die Bettdecke. Mein Herz hämmert regelrecht gegen meinen Brustkorb und mein Verstand verlangt von mir auf der Stelle das Zimmer zu verlassen, aber ich höre nicht darauf.
Cole beginnt sich zu bewegen, ich halte die Luft an, kneife die Augen zu und bete, dass er mich nicht rauswirft. Das würde den Tag jetzt schon ruinieren.
»Luna?«, fragt er verschlafen in den Raum und ich schlucke den Kloß in meinem Hals runter. Cole dreht sich in meine Richtung, sein Arm streift meinen, erst dann scheint er sich seinem Verdacht sicher zu sein und schlüpft bis zum anderen Ende des Bettes.
»Was machst du denn hier? Mann, hast du mich erschreckt.« Mir entfährt fast ein Lachen, gemischt mit Tränen. Ich ziehe die Bettdecke über meinen Oberkörper und drehe mich zu ihm. »Ich wollte den Tag nicht allein verbringen. Das mit dem Erschrecken tut mir leid.«
»Komm her.« Im nächsten Moment bahnt er sich den Weg zu mir frei und legt seinen Arm um meine Schulter. Ohne einmal Luft zu holen, kuschle ich mich an seine Achsel und lege meinen einen Arm um seinen Bauch. Ich spüre wie sich seine Bauchdecke hebt und senkt. In meinem Kopf poltern so viele Gedanken, Zweifel und Ungewissheit umher, aber sie werden von Coles Anwesenheit verjagt. Ich fühle mich fast, wie in der Gegenwart von Drew, obwohl zwischen ihnen Welten liegen. Cole ist Teil meiner Familie und Drew? Das muss ich noch herausfinden.
»Es wird heute alles gut gehen«, unterbricht Cole die angenehme Stille zwischen uns. Ich räuspere mich, genieße den Duft, der mich umgibt. Ich schwelge in der Zeit von früher, in der es normal war zusammen mit meinem besten Freund im Bett zu liegen. Früher musste ich nicht vor der Zimmertür inne halten und überlegen, ob ich diesen Schritt wagen soll. Es gehörte zu unserer Routine alles miteinander zu teilen.
»Das können wir nicht wissen. Weder ich oder du.« Ich höre meine eigene Verzweiflung und seufze frustriert aus. »Du hast genug Leid ertragen müssen. Glaub mir, heute wird das sicher enden. Wir haben einen guten Anwalt für deinen Dad und er wird ihn auf Kaution rausboxen. Versprochen.« Im nächsten Moment küsst er meine Stirn und in meinem Magen flattert etwas auf. Obwohl ich hier mit Cole liege und an einem solchen Tag für einige Minuten glücklich bin, frage ich mich, ob Drew zur Verhandlung kommen wird.
Um elf Uhr erreichen wir den Ort wo das Gerichtsverfahren stattfinden wird. Ich erkenne dieses große Gebäude sofort und dabei zieht sich mein Magen krampfartig zusammen. Als mein Dad vor zwei Jahren festgenommen wurde, waren wir alle drei Wochen später hier um sein Urteil zu hören. Der Staat hatte damals schon ungenügende Beweise ihm den Mord an Joshua Winter anzuhängen, deswegen kam nie ein richtiges Urteil zu Stande. Die Sitzung heute wird entweder seine Freiheit ansagen, oder das endgültige Urteil fällen.
Isabell parkt den Wagen in einer Parklücke, direkt vor dem Eingang. Es stehen schon einige Leute vor dem Bogenförmigen Tor, doch von weiten kann ich nicht erkennen, ob sie zu uns gehören, oder zu Joshuas angehörten. Cole und ich steigen gleichzeitig aus, Isabell macht es uns einen Moment später nach. Wir haben Bonny für den heutigen Tag bei einer Nanny gelassen, damit sie so etwas in ihren jungen Jahren nicht erleben muss.
»Da vorne ist der Anwalt. Ich gehe mit ihm noch einmal die Fakten durch«, nuschelt Isabell und zieht sich ihre dunkle Sonnenbrille an. Der Himmel ist heute besonders grau, kein Fünkchen Sonne strahlt am Himmel. Wir wissen alle wieso Isabell so an ihrer Brille hängt.
»Alles okay?« Coles Hand streift meinen Arm. Ich sehe an ihm hoch, bewundere den dunklen Anzug und die gestylte Frisur. Auch ich habe mich schick gemacht. Ich trage ein dunkelblaues Kleid, welches oberhalb der Knie endet. Meine Haare trage ich in leichten Wellen und dezentes Make-Up verdeckt meine dunklen Augenringe.
»Es geht schon.« Wir sprechen nicht über heute Morgen. Selbst heute Morgen in seinem Bett haben wir nicht wirklich geredet. Es hat bloß geholfen nicht allein zu sein und ich bin mir sicher, dass er es auch gebraucht hat.
Auf einmal huscht über Coles Lippen ein schmales Lächeln. Irritiert sehe ich ihn an und stelle fest, dass er an mir vorbei schaut. »Sieht so aus, als hättest du noch ein paar Seelische Unterstützer.« Mein Magen flattert auf und ich beiße mir auf die Unterlippe um nicht zu grinsen. Mit der Sicherheit, dass er Drew gemeint haben muss, wirble ich einmal herum und sehe in zwei andere Gesichter als ich erwartet habe.
Conner und Meghan stehen nur wenige Schritte von mir entfernt. In Conners Händen liegen Pralinen, in Meghans ein frischzubereiteter Pancake. Sie lächeln mich leicht an und ich gehe einen Schritt auf die beiden zu.
»Wir waren uns nicht sicher, ob du uns hier haben willst. Du hast nicht auf unsere Nachrichten geantwortet.« Conner kratzt sich verlegen am Nacken.
»Es tut mir so leid, Luna.« Meghan sieht mich aufrichtig an, in ihrem Augenwinkel erkenne ich eine Träne.
Ohne was zu sagen, stürme ich auf die beiden zu und ziehe sie gemeinsam in den Arm. Erst scheinen sie ein wenig überrumpelt zu sein, wahrscheinlich weil ich ihre Nachrichten ignoriert habe. Dann legen sich ihre Arme um meinen Körper, das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit breitet sich aus und ich kann endlich durchatmen. Das sie gekommen sind bedeutet mir viel, genau wie die Sache mit Cole. An einem anderen Tag hätte er mich vermutlich weggeschickt, sein Zimmer zugeschlossen oder mir mitgeteilt, wie egal ich ihm eigentlich bin.
»Danke, dass ihr gekommen seid«, sage ich gefangen zwischen den Armen meiner Freunde. Langsam lösen wir uns, Conner reicht mir die Pralinen. »Natürlich stehen wir dir bei so einem Tag bei. Das ist doch nicht der Rede wert.« Auf seinem Gesicht liegt ein warmes Lächeln, ich könnte ihm wieder um den Hals fallen. Dann wandert mein Blick rüber zu Meghan, die sich nicht sicher zu sein scheint, ob ich sie hier haben möchte. Ich mache einen Schritt auf sie zu, greife nach ihrer freien Hand und lächle sie aufmunternd an.
»Ich freue mich sehr, dass du gekommen bist.« Sie sieht mich an, ein schüchternes Lächeln schmückt ihr Gesicht, dann sieht sie runter zu unseren verschränkten Fingern. »Ehrlich gesagt wusste ich nicht, ob du mich dabei haben willst«, gesteht sie kleinlaut. »Ich weiß ich habe das mit uns verbockt wegen der Sache mit Cole. Es tut mir verdammt leid, ich weiß ich hätte das nicht tun sollen. Das war ein mieser Verrat und ich schwöre dir, ich mache sowas nie wieder.«
»Ich verzeihe dir«, falle ich ihr ins Wort und nehme grinsend den Pancake aus ihrer Hand. »Hast du den extra für mich gebacken?« Meghan starrt mich ungläubig an, als hätte ich ihr eben ohne mit der Wimper zu zucken verziehen, dass sie meinen Hund erschossen hat.
»Ehm, ja.« Sie räuspert sich perplex, dann drückt sie ihren Rücken durch. »Ich weiß, wie sehr du die Teile liebst und ein paar Tage nachdem wir uns kennengelernt haben, hast du mir erzählt, dass dich Pancakes vom Stress ablenken.« Ich ziehe die Mundwinkel nach oben und schwelge in Gedanken an den Tag zurück. »Das war ein Abend vor der miesen Mathe Arbeit. Die Pancakes hatten wir damals bitter nötig.«
»Ja.« Meghan kichert auf. »Also verzeihst du mir wirklich?« Ich nicke und beiße in den Teig rein. »Ich wollte schon die letzten Tage mit dir reden und mich bei dir entschuldigen«, gestehe ich. Sie wirkt verwirrt, also spreche ich weiter. »Natürlich war es nicht in Ordnung was du getan hast, aber ich habe über reagiert. Es tat nur unglaublich weh zu wissen, dass jeder mit Cole befreundet sein kann, außer mir. Es hatte nicht wirklich was mit dir zu tun, also das du einen schlimmen Fehler gemacht hast, sondern mit mir. Ich kann nicht mit der Tatsache umgehen, dass aus mir und Cole keine Freunde mehr werden.«
Ich habe das starke Bedürfnis mich zu Cole umzudrehen, doch ich halte mich davon ab, indem ich noch einmal vom Pancake abbeiße. Zugegeben, Meghan ist keine gute Köchin, genau wie ich. Das sie sich trotzdem dazu gerungen hat sich mit dem Mixer und dem Herd auseinanderzusetzen bewundere ich.