Der Erbe des Raben | Wattys 2...

By jinnis

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Sandrine nimmt widerwillig den Job als Geisterjägerin im Schloss von Corbières an. Zusammen mit dem geheimnis... More

1 - Eine bekloppte Annonce
2 - Schloss Corbières
3 - Der Deal
4 - Licht im Fenster
5 - Besuch des Raben
6 - Guillaume von Corbières
7 - Ein geistreiches Gespräch
8 - Ein Rettungsversuch
9 - Luftrettung
11 - Installationen
12 - Spielverderber
13 - Dunkle Geheimnisse
14 - Wie im Film
15 - Wellen
16 - Enthüllungen
17 - Lorraine
18 - Theos Geschichte
19 - Der Erbe
20 - Gewittersturm
21 - Zukunftspläne
22 - Die Geistergarde
23 - Der Rabe - Ein Epilog

10 - Die Schlossbibliothek

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By jinnis

In den nächsten Minuten erlebte wir eine Invasion in Form einer Horde Touristen. Zunächst zögernd und dann in einem gleichmäßigen Strom betraten sie den Hof und eroberten das Schlosscafé wie ein Schwarm farbenfroher Krähen oder plappernder Papageien. Die Gruppe war groß, laut und bunt gemischt. Von Dreikäsehochs bis Senioren mit Gehstöcken belegten sie die zur Verfügung stehenden Stühle und Sessel, entweder um ihr Gepäck darauf abzustellen oder sich hineinfallen zu lassen, als seien die fünfzig Schritte vom Parkplatz bis hierher einem Marathon gleichzusetzen.

Eine Frau mittleren Alters in einem geblümten Sommerkleid rauschte durch die Ansammlung von Gästen, als läge deren Wohlergehen in ihrer alleinigen, persönlichen Verantwortung. Mit einer schmerzhaften Kombination von orange, lila und limettengrün zog ihr Kleid auch alle Blicke auf sich. Auf ihren hohen Absätzen schaukelte sie gekonnt von Gruppe zu Gruppe und hakte Namen auf einem pinkfarbenen Clipboard ab. Nachdem sie alle Neuankömmlinge zweimal durchgezählt hatte, stürmte sie mit schwingender Dauerwelle Richtung Rezeption davon.

Mit dröhnenden Ohren rieb ich mir die Stelle, wo Mister Mortimer seine Krallen in mein Bein versenkt hatte, bevor er sich mit einem eleganten Sprung in Sicherheit brachte und eiligst den Hof verließ. Einmal mehr beneidete ich ihn um die Freiheit, seinen Gefühlen jederzeit freien Lauf zu lassen.

„Wer sind diese Leute?" Theos berechtigte Frage ging beinahe unter in dem Tumult aus Lachen, Beschwerden über die unerträgliche Hitze und Babygeschrei.

Catherine verzog gequält das Gesicht und hob ihre Stimme. „War nicht eine größere Gruppe angekündigt, aufs Wochenende?"

„Ja, Louis hat erwähnt, dass er eine Geburtstagsgesellschaft erwartet." Alice trank ihre Tasse aus und setzte sie klirrend ab. „Was meinst du, Cat, wollen wir unseren unterbrochenen Spaziergang fortsetzen bevor wir Mittagspause machen? Ich brauche noch etwas Bewegung."

Ich konnte den beiden nicht verübeln, dass sie die Flucht ergriffen. Entschlossen, es ihnen gleich zu tun, stellte ich die leeren Tassen zusammen. „Am besten räumen wir auch gleich das Feld und suchen uns eine ruhigere Ecke."

„Was ist mit der Bibliothek?" Natürlich war es Theo, der wusste, dass es im Schloss eine Bibliothek gab. Dabei fiel mir ein, dass auch Ritter Guillaume bereits so etwas erwähnt hatte.

„Bibliothek klingt gut. Die Leute sehen nicht aus, als seien sie zum Lesen hier." Matt zwinkerte mir zu, hob das Tablett auf und ging voran zum Schlosseingang.

Während Theo und ich in der Lobby warteten, dass er seine Ladung schmutziges Geschirr in der Küche ablieferte, stürmte der orange geblümte Drache an uns vorbei, gefolgt von Louis. Das professionelle Lächeln auf seinem Gesicht hätte mich beinahe getäuscht. Aber die Fältchen rund um seine Augen und die gespannten Wangenmuskeln verwandelten seinen Ausdruck in eine leicht gequälte Grimasse. Entweder die Ereignisse des Morgens oder die Drachendame hatten unserem unerschütterlichen Boss eindeutig zugesetzt.

Ich fühlte Mitleid mit ihm. „Alles in Ordnung, Lou? Wir sind in der Bibliothek, falls du uns brauchen solltest."

Er nickte und rollte hinter dem Rücken seiner vorauseilenden Begleiterin vielsagend die Augen. Als er an mir vorbeiging, berührten seine Fingerspitzen kurz meinen Handrücken und eine winzige elektrisch Entladung ließ den Muskel in meinem Unterarm zucken. Ich blickte ihm überrascht nach. Was machte ihn wohl heute so kontaktfreudig?

Allerdings vergaß ich das Vorkommnis, sobald wir die Bibliothek im zweiten Stock des Schlosses betraten. Durch die diamantenförmigen Ausschnitte in den geschlossenen Fensterläden filterte gedämpftes Licht in das Eckzimmer. Der Raum war mit dunklem Täfer ausgekleidet — zumindest dort, wo nicht Büchergestelle bis zur hohen, stuckverzierten Decke reichten. Hunderte, nein, tausende von Büchern füllten die Regale, von staubigen alten Wälzern im Ledereinband zu Fotobänden und zerlesenen Taschenbüchern. Es gab extra eine Leiter auf Rollen, um die oberen Bereiche gefahrlos zu erreichen. Mein bibliophiles Herz schlug höher. Ausgetretene Orientteppiche dämpften meine Schritte, als ich entlang der Gestelle ging und meine Fingerspitzen sanft über die Buchrücken gleiten ließ. Einmal mehr wurde mir bewusst, wie sehr ich meinen ruhigen Job in der Bibliothek vermisste.

Mit einem unterdrückten Seufzen ließ ich mich auf einem historischen Sofa mit gesprungenem Lederbezug nieder, froh, dem Trubel und der zunehmenden Hitze draußen entkommen zu sein. Die Bibliothek war angenehm kühl und hatte den magischen Charme einer Zeitkapsel. „Puh. Endlich ein Ort, an dem ich klar denken kann. Hat einer von euch eine Idee, wie wir diesen Job angehen sollen, jetzt wo die Polizei das ganze Ufer absperren lässt?"

„Wir wissen immer noch nicht, ob es tatsächlich eine Verbindung zwischen den Raben und dem Licht in der Hütte gibt." Matt ließ sich in einen riesigen Armsessel fallen und rieb an einem der zahlreichen Schmutzflecken auf seiner Hose. Natürlich machte er diesen dadurch nur schlimmer, aber das schien ihn nicht weiter zu stören.

Theo trat an ein Fenster und öffnete die Läden, um mehr Licht in den Raum zu lassen. Fasziniert beobachtete ich die tanzenden Staubkörner im hellen Sonnenlicht. Es vertrieb die muffige Dunkelheit und munterte meine Stimmung auf.

Für einen langen Moment blieb Theo am Fenster stehen und blickte zum See hinunter, seine Silhouette ein schwarzer Umriss gegen die Helligkeit draußen. Dann zuckte er die Schultern und begann, im Zimmer auf und ab zu gehen, die Augen halb geschlossen und den Kopf leicht schräg gelegt, als würde er einem entfernten Geräusch lauschen. „Da unten in dem Haus am See ist jemand. Ich spüre ihre Verzweiflung. Und ich bin mir sicher, dass die Raben nicht zufällig gleichzeitig aufgetaucht sind, wie das Wasser diese Ruinen freigab."

„Mit jemand meinst du einen Geist." Ich formulierte es nicht als Frage. Verglichen mit Theo war meine Empfindlichkeit für paranormale Phänomene rudimentär und irrtumsanfällig. „Also müssen wir diesen Ort doch zwingend untersuchen. Sobald als möglich."

Ich hielt inne, um meine Optionen zu hinterfragen. Sollte ich meinen kleinen Trumpf bereits preisgeben? Aber wir konnten nur gewinnen, wenn wir das anstehende Problem als Team angingen. Was hatte ich schon groß zu verlieren? Ich holte tief Atem. „Vielleicht gibt es einen Weg, zu dem Haus zu kommen. Ich könnte eine Freundin anrufen. Sie ist Mitglied im Segelclub von Avry, auf der anderen Seite des Sees. Ich bin sicher, dass sie ein geeignetes Boot besitzen."

Eine Falte formte sich auf Matts Stirn. „Ein Segelboot? Sind die nicht ziemlich kompliziert zu bedienen?"

„Soviel ich weiß, schon. Nein, ich meine natürlich ein Motorboot. Der Klub organisiert Trainings für Kinder und Segelrennen oder wie das heißt, Regatten. Die haben bestimmt eines von diesen aufblasbaren Dingern. Damit müsste man relativ nahe ans Ufer fahren können." Zumindest hoffte ich das, und auch, dass meine Freundin Stefanie mir das Boot leihen würde.

Matts Augen leuchteten auf und Theo unterbrach seine Wanderung durch die Bibliothek. Aber wir kamen nicht dazu, an meinem rudimentären Plan weiter zu schmieden. Als das Klicken des Türschlosses einen Besucher ankündigte, verstummten wir alle wie schuldbewusste Kinder, die von den Eltern bei einer Ungezogenheit erwischt wurden.

Louis hatte Zeit gefunden, sein T-shirt zu wechseln. Das neue war schwarz mit einem wilden Ethno-Dekor. Wohl australisch, anhand der zahlreichen erdfarbenen Punkte zu urteilen, und in meinen Augen eindeutig ein Fortschritt gegenüber dem Batik-Look.

Er blieb neben dem Sofa stehen. „Es tut mir leid, Euch zu stören, aber ich bin echt besorgt wegen der Feier heute Abend. Was ist wenn die Gespenster diese Gelegenheit ausnutzen und die Gäste attackieren? Ich kann mir da kein zusätzliches Desaster leisten."

Ich stellte mir vor, wie ein Volk verärgerter Raben sich kreischend auf die ahnungslosen Touristen stürzte, und verkniff mir ein Grinsen. „Warum serviert ihr das Essen nicht drinnen? Im Rittersaal sollten deine Gäste vor unerwarteten Luftangriffen der dritten Art geschützt sein."

„Bist du sicher, dass das funktioniert?" Unser Gastgeber schien skeptisch zu sein und blickte hilfesuchend zu Theo, der sich im hinteren, düsteren Teil der Bibliothek gegen ein Gestell lehnte. Seine schwarz-gekleidete Gestalt verschwamm fast mit den Schatten.

Er kreuzte die Arme. „Haben die Raben jemals drinnen angegriffen? Oder habt ihr in irgendeinem Raum Spuren von ihren Exkrementen gefunden?"

Louis schüttelte den Kopf. „Nein, nicht soviel ich weiß. Aber mit dem anhaltend schönen Wetter brauchen wir die Innenräume diesen Sommer ausgesprochen selten."

Ich zuckte die Schultern. „Dann solltest Du es versuchen. Wir können nicht sicher sein, aber es scheint zumindest weniger riskant als der Hof."

„Genau. Und ich könnte im Saal einige meiner experimentellen Geistersensoren installieren." Matt strahlte wie ein Fünfjähriger an seinem Geburtstag. „Sie sollen Spuren von Ektoplasma registrieren, wenn ein Geist manifestiert. Aber ich konnte sie bisher nie in einer hundertprozentig heimgesuchten Umgebung testen. Ich meine, echte Spukschlösser sind heutzutage selten."

Louis rieb sich nachdenklich den Bart. „Ich müsste mit dieser orange-geblümten Glucke sprechen. Sie scheint ziemlich schwer umzustimmen, wenn sie sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hat."

Ich unterdrückte ein Kichern. „Sag dem Drachen einfach, es sei abends kühler drinnen, weil der Hof noch bis spät die Hitze des Tages speichere. Und vielleicht, dass es ein besonderes Privileg sei, den historischen Saal benutzen zu dürfen."

„Gute Idee." Ein fröhliches Funkeln blitzte in seinen grauen Augen auf. Aber gleich darauf wurde er wieder ernst, richtete sich auf und ging zur Tür. Die Hand auf der Klinke blieb er stehen und blickte über die Schulter zurück. „Unten in Café steht ein Imbiss für euch bereit. Und ich würde es wirklich schätzen, wenn ihr mir helft, den Rittersaal für heute Abend geistersicher zu machen."

„Versprochen. Gibt es schon Neuigkeiten von Roberto?" Ich wusste nicht, weshalb mir dies so wichtig schien. Der Journalist und ich waren nicht gerade auf dem besten Fuß gestartet.

„Nein, aber ich kann später im Spital anrufen. Ich bezweifle, dass sie jetzt schon mehr wissen, das Ganze ist erst eine Stunde her."

Louis hatte natürlich recht. Ich würde mich in Geduld üben müssen. „Stimmt. Irgendwie scheint es mir schon eine Ewigkeit. Wir schauen uns den Rittersaal nach dem Essen mal an. Ich habe auf jeden Fall gestern dort keine Geister gespürt. Oder was meinst du, Theo?"

Der Gefragte schloss kurz die Augen. „Nein, ich konnte nichts Außergewöhnliches feststellen. Aber wir können das gerne genauer untersuchen und Matt mit den Sensoren helfen. Ich bin gespannt, wie sowas funktioniert."

Louis lächelte beruhigt. „Danke, ich weiß euren Einsatz zu schätzen. Diese Party muss einfach ein Erfolg werden."

Als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, fragte ich mich, ob er mit dieser Äußerung nicht geradezu ein Unglück heraufbeschwor.

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