Freya Winter - Mutant

By 00elem00

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Mutanten. Genveränderte Menschen. Die neue Zukunft. Weltverbesserung. So sollte es zumindest laut Ambrosia se... More

Prolog
Teil I
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Teil II
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Teil III
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 44.2 Lucius
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Teil IV
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 55.2 - Lucius
Kapitel 56 - Lucius
Kapitel 57 - Lucius
Kapitel 58 - Lucius
Kapitel 59 - Lucius
Kapitel 60 - Lucius
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Kapitel 65
Kapitel 66
Kapitel 67
Kapitel 68
Kapitel 69
Kapitel 70
Kapitel 71
Kapitel 72
Kapitel 72.2
Kapitel 72.3
Kapitel 73
Kapitel 73.2
Teil V
Kapitel 74
Kapitel 75
Kapitel 75.2
Kapitel 76
Kapitel 76.2
Kapitel 77
Kapitel 77.2
Kapitel 78
Kapitel 78.2
Kapitel 79
Kapitel 79.2
Kapitel 80
Kapitel 80.2
Kapitel 81
Kapitel 81.2
Kapitel 82
Kapitel 82.2
Kapitel 83
Kapitel 83.2
Kapitel 84
Kapitel 85
Kapitel 85.2
Teil VI
Kapitel 86
Kapitel 86.2
Kapitel 87
Kapitel 87.2
Kapitel 87.3
Kapitel 88
Kapitel 88.2
Kapitel 88.3
Kapitel 89
Kapitel 89.2
Kapitel 90
Kapitel 90.1
Kapitel 90.2
Kapitel 90.3
Kapitel 90.4
Kapitel 91
Kapitel 91.2
Kapitel 91.3
Kapitel 91.4
Kapitel 91.5
Kapitel 92
Kapitel 92.2
Kapitel 92.3
Kapitel 92.4
Kapitel 92.5
Kapitel 93
Kapitel 93.2
Kapitel 93.3
Kapitel 93.4
Kapitel 93.5
Kapitel 94
Kapitel 94.2
Kapitel 94.3
Kapitel 94.4
Teil VII
Kapitel 95
Kapitel 95.2
Kapitel 95.3
Kapitel 95.4
Kapitel 95.5
Kapitel 95.6
Kapitel 95.7
Kapitel 96
Kapitel 96.2
Kapitel 96.3
Kapitel 96.4
Kapitel 97
Kapitel 97.2
Kapitel 97.3
Kapitel 97.4
Kapitel 98
Kapitel 98.2
Kapitel 98.3
Kapitel 98.4
Kapitel 98.5
Kapitel 99
Kapitel 99.2
Kapitel 100
Kapitel 100.2
Kapitel 100.3
Kapitel 100.4
Kapitel 101
Kapitel 101.2
Kapitel 101.3
Teil VIII
Kapitel 102
Kapitel 102.2
Kapitel 102.3
Kapitel 102.4
Kapitel 103
Kapitel 104
Kapitel 105
Kapitel 106
Kapitel 107
Kapitel 108
Kapitel 109
Kapitel 110
Kapitel 112
Epilog
Schlusswort

Kapitel 111

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By 00elem00

»Nein! Gib nicht auf, Freya!«, schrie James mich an. »Du lässt mich hier nicht alleine! Wir schaffen das!« Ach, James. Wenn ich das doch nur glauben könnte ...

Unbarmherzig drückte Lucius zu. Schmerzhaft bohrten sich sein Krallen langsam aber sicher in meinen Hals. Dann ertönte ein Schuss. Schlagartig wurde ich losgelassen. Wie eine Marionette, deren Fäden gekappt worden waren, sank ich stöhnend zu Boden. Etwas Nasses lief über meinen Hals und ich musste nicht hinsehen, um zu wissen, dass es sich dabei um mein Blut handelte.

»Du störst mich schon wieder.«, vernahm ich die Stimme meines Bruders.

»Dafür bin ich da.«, erwiderte James. »Und wenn du in dich hineinhorchen würdest, würdest du begreifen, dass du mir dafür dankbar bist.«

»Das hättest du wohl gerne.«, lachte Lucius rau. »Du bist so sehr in deinem Wunschdenken gefangen, dass du die Realität nicht begreifst.«

»Nicht ich bin gefangen, Luc.«, sagte sein bester Freund. »Sondern du. Wach endlich auf.«

Mein Bruder seufzte genervt. »Du hältst also an deinem Wunschdenken fest.«, stellte er bloß fest.

Die Augen offen zu halten erwies sich als Herkulesaufgabe. Meine Augenlider waren schwer wie Felsen und sobald ich meine Augen geöffnet hatte, fielen sie mir auch sogleich wieder zu. Dennoch bekam ich mit, wie Lucius' Schattenpeitsche vor schnellte und James die Pistole aus der Hand riss. Scheppernd landete sie auf dem Boden, weit außerhalb von James' Reichweite. Doch mir entging nicht, wie wenig mein Bruder seinen anderen Arm bewegte. Obwohl er vollkommen schwarze Kleidung trug, bemerkte ich den nassen Fleck an seiner Schulter. James hatte getroffen. Und offensichtlich hatte er sich entschieden.

Er hatte seinen besten Freund nicht aufgegeben. Hätte er das getan, hätte er auf Lucius' Stirn gezielt. Also würden wir Zeit schinden und hoffen. Hoffen, dass er noch immer irgendwo er selbst war und es schaffte, gegen Miss Magpies Manipulation anzukämpfen.

Meine Hand zitterte, als ich sie unter Anstrengungen hob. Mein Rücken schrie vor Schmerzen auf. Tränen schossen mir in die Augen, doch ich blinzelte sie entschlossen weg. Mein Hals protestierte. Es war schwer genug, den Kopf zu heben. Unzählige Messerstiche versuchten, mich niederzuringen. Mein eigener Körper verurteilte meine Versuche. Doch ich war nicht gewillt, aufzugeben. Ich musste nur genug Zeit schinden. Vielleicht reichte das aus. Hoffentlich reichte es aus. Bitte, bitte.

Lucius war bloß eine verschwommene dunkle Gestalt. Meine eigene Hand zitterte so stark, dass ich fürchtete, ihn zu verfehlen. Nur verletzen, nicht töten.

Mein Eis zu rufen fiel mir erschreckend schwer. Meine Schmerzen waren so überwältigend, dass ich beinahe schon glaubte, es wäre mir unmöglich. Doch dann funkelte es in der Sonne. Fünf wunderschöne Eisnadeln. Auf mein lautloses Kommando hin schossen sie still auf ihr Ziel zu. Mit einem Keuchen sank mein Bruder auf die Knie. Ich hatte ihn am Oberschenkel getroffen. Aber nicht an einer wichtigen Stelle. Gut so, es sollte schließlich nur wehtun und ihn nicht ausbluten lassen.

»Du schon wieder.«, knurrte er. »Du bist ganz schön hartnäckig. Wieso brichst du nicht?« Er war nicht so blöd, meine Eisnadeln herauszuziehen. Obwohl er Schmerzen haben musste, verzog er kaum das Gesicht und stand langsam wieder auf. Schatten sammelten sich zu seinen Füßen, flossen an seinen Beinen hinauf und formten in seiner Hand eine Peitsche.

Allein mich aufzusetzen ließ mich beinahe schreien. Doch ich presste meine Zähne zusammen. Ich musste durchhalten. Mit einer einzelnen Handbewegung schickte ich ihm eine ganze Ladung Eis entgegen. Zu meinem Pech stand die Sonne so, dass mein Eis Schatten auf Lucius warf, der sogleich in ihnen verschwand. Das Herz sank mir in die Hose. Ich konnte mich kaum bewegen. Wie sollte ich nach ihm Ausschau halten? Außerdem war meine Sicht gerade alles andere als optimal. Alles in mir kämpfte, um bei Bewusstsein zu bleiben.

Mit einem Mal ertönte hinter mir ein erstickter Schrei. Unter Schmerzen fuhr ich halb herum und konnte James sehen, der sich vor mir aufgebaut hatte. Vor ihm stand mein Bruder. Wie war James denn dort hin gelangt? Ich hatte gar nicht bemerkt, dass er sich von den Schatten losgerissen hatte.

Plötzlich hielt ich inne. Schlaff hingen James' Arme an ihm herab. Dennoch hatte er seinen Blick unverwandt auf Lucius gerichtet. Seinen Blick konnte ich nicht sehen, da ich hinter ihm saß, aber ich spürte dennoch die Intensität.

»Du stehst im Weg.«, sagte mein Bruder trocken. James sagte gar nichts. Und erst jetzt bemerkte ich die Krallen meines Bruders, die sich in die Brust seines besten Freundes gebohrt hatten. Entsetzen packte mich, raubte mir den Atem. Voller Unglaube starrte ich auf die Szene vor mir. Nein. Das hatte er nicht getan. Niemals! Schmerzhaft zog sich mein Herz zusammen. Ein Damm, von dem ich nicht einmal wusste, brach. Wortlos rannen mir die Tränen über das Gesicht. »James!«, hauchte ich. Doch der beachtete mich gar nicht. Seine Augen lagen allein auf meinem Bruder. Seinem Mörder.

Die Krallen, die eigentlich für mich bestimmt waren, wurden aus seiner Brust gezogen. Rot tropfte das Blut auf das Grau des Asphalts. Und James fiel. Der letzte Atem entwich seinen Lungen und sein Blick wurde leer. Er rührte sich nicht mehr. Sein Herz war tot und mit ihm auch der Junge, dem es gehörte.

Mein Kopf weigerte sich einfach, zu begreifen, was vor meinen Augen geschehen war. Stumpf starrte ich auf die Leiche, die vor langer Zeit mein bester Freund gewesen war. Seit meiner Entführung war James loyal an der Seite meines Bruders geblieben, war seine Stütze gewesen. Sein bester Freund. Er war gestorben, um mich zu retten.

Nur langsam holte mich die Realität wieder ein. Dumpf breitete sich der Schmerz in meinem ganzen Körper aus. Ich hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. James! Ein weiterer Toter. Liam war gestorben. Nun James. Wie viele noch? Wann fand das alles endlich ein Ende? Ich hielt das nicht aus! Liam war mein bester Freund gewesen. Mit ihm an meiner Seite hatte ich mich leicht gefühlt. Alles erschien mir weniger schlimm, der Himmel erschien heller. Und James? Er hatte mir nicht mehr sonderlich nahe gestanden. Aber es hatte eine Zeit gegeben, in der das anders gewesen war. In meinem Leben als Mensch hatte er mir unheimlich viel bedeutet. Ebendiese Erinnerungen schienen mich nun niederzuringen.

Ein siebenjährigerJames lächelte mir entgegen, machte seine Späße, brachte meinen Bruder und mich zum lachen. Damals war er immer gut gelaunt gewesen. Selten hatte ihn etwas herunterziehen können. Und wenn einer von uns traurig oder schlecht gelaunt gewesen war, hatte er alles in seiner Macht stehende getan, um uns wieder aufzuheitern. Und wie ich so auf seine Leiche starrte, sah ich nur das Kind, das ich gekannt hatte.

»James.« Meine Stimme war kaum zu vernehmen. Wie in Trance streckte ich meine Hand nach ihm aus. Sanft legte ich sie ihm auf den Arm. Rüttelte sachte. Da war kein Leben in diesem Körper.

Tod. Immer wieder Tod. Liams Gesicht erschien vor meinem inneren Auge. Seine sanften roten Augen blickten in meine. Aldrics in Flammen stehender Körper hatte die selbe Farbe. Sie starben. Die, die mir nahe standen oder einst nahe gestanden hatte. Und ich konnte rein gar nichts dagegen tun. Wie konnte ich so viel Macht haben und doch so machtlos sein? Wozu hatte ich all diese Macht, wenn ich nicht einmal die retten konnte, die mir nahe standen? Wer war der nächste? Wen würde ich als nächstes verlieren, während ich bloß zusehen konnte? Ich konnte das nicht. Ich hielt das nicht aus!

Meine Finger verkrampften sich, bohrten sich in James' Oberarm. Mein eigener Herzschlag dröhnte laut in meinen Ohren. Ich sah gar nichts mehr. Überall war vollkommene Schwärze. Schwindel überkam mich, wollte mich niederreißen. Vernichten. Mein eigener Kopf schien das übernehmen zu wollen. Hier, auf der Stelle. Alles andere hatte keinen Sinn mehr. Wozu war ich gut? Ich war nutzlos. Hilflos. Erbärmlich. Wie konnte ich nur mein eigenes Spiegelbild ertragen?

Wer war der nächste? Samuel? Enya? Audra? All ihre toten, leblosen Gesichter erschienen vor meinen Augen, schauten mich anklagend an. Ich war nicht dazu in der Lage, auch nur einen von ihnen zu retten. Plötzlich erschien Kierans Gesicht. Aber nein. Das war nicht möglich. Kieran war unverwundbar. Aber nicht unsterblich. Oder?

Und selbst wenn. Der Tod war nicht immer das Schlimmste, das einem angetan werden konnte. Wenn Kieran nicht in meiner Nähe sterben sollte, würde er deutlich schlimmere Qualen erleiden. Oder er würde ähnlich enden wie mein Bruder.

Ein lautes Schluchzen riss mich brutal zurück ins Hier und Jetzt. Es war mein eigenes Schluchzen. Die Tränen verschwammen meine Sicht, doch ich sah, dass Lucius sich nicht von Ort und Stelle bewegt hatte. Hatte es das gebraucht? Hatte er erst seinen besten Freund töten müssen, bevor er wieder zur Vernunft kam? War das einen solch hohen Preis überhaupt wert?

»Er war dein bester Freund!«, rief ich erstickt. Ein weiteres Schluchzen erschütterte meinen ganzen Körper. Ich hielt das nicht aus. Ich würde das niemals aushalten. Das war alles zu viel! Ich konnte das nicht! Wie oft würde ich das noch durchmachen müssen? Wie oft noch würde man mich in Stücke reißen?

»Das war er.«, bestätigte Lucius ruhig. Seine Worte waren ein weiteres Messer in meinem Herzen. Es hatte noch immer nicht gereicht. War mein Bruder denn wirklich verloren? Konnte nichts ihn zurückholen? Wenn es nicht der Mord an seinem besten Freund konnte, was konnte es dann? James hätte sich nicht zwischen ihn und mich stellen sollen. Nicht, um mich zu beschützen. Er hätte der Sache einfach seinen Lauf lassen sollen. Dann wäre er noch am Leben. Lucius wollte meinen Tod. James war nicht sein Ziel gewesen. Sein Leben hätte er nicht verschwenden sollen!

Ich wollte nicht mehr. Das alles sollte nur noch enden. Immer und immer wieder geschahen mir und meinem Umfeld schlimme Dinge. Und immer wenn ich glaubte, es könnte nicht schlimmer werden oder dass das Leben keine Grausamkeiten mehr für mich übrig hatte, wurde ich eines anderen belehrt. Fand das denn nie ein Ende? Würde mich dieser Fluch bis ans Ende meines Lebens verfolgen? War es mir nicht vergönnt, jemals glücklich zu sein? Wenn das so war, wollte ich nicht mehr. Ein Leben voller Schmerz und Verlust, das wollte ich nicht.

Nichts wollte ich lieber, als nicht mehr fühlen zu müssen. Es tat so weh. Zerriss mich innerlich. Meine Entführung, das Leben bei Ambrosia, diese verdorbene Gesellschaft, Aldrics Tod in den Flammen, Clausens Experiment, die Elitesoldaten, Liams plötzlicher Tod, die Experimente, die aus meinem Bruder meinen Feind gemacht hatten, James' Tod. Was noch? Was hatte dieses Leben noch für mich vorgesehen? So gerne wollte ich gefühllos sein. Und ich wusste, es bedurfte bloß einer Entscheidung. Eines Schalters, wenn man so wollte. Ich war nahe dran. Mein geistiger Finger schwebte über diesem sagenumwobenen Schalter, von dem man sagte, es gäbe kein Zurück.

Wollte ich das denn überhaupt? Zurück? Ich horchte in mich hinein. Der Schmerz war allgegenwärtig. Brannte mich von innen aus, erschwerte mir das Atmen, würde niemals verschwinden. Jede Bewegung war eine Qual. Jede Sekunde dieses Lebens würde einer Folter gleichen. Der Schmerz würde mich niemals in Ruhe lassen. Wäre mein ständiger Begleiter. Und es tat so weh. Mein Herz zog sich unter den vielen Messerstichen krampfhaft zusammen. Tränen überzogen mein Gesicht, wollten nicht versiegen.

Doch dann erinnerte ich mich an Kierans eindringlichen Blick. An seine Worte. Erinnerte mich an Flavio und seine Elitesoldaten. Alles Mutanten, die dem Schmerz entfliehen hatten wollen. Alles Mutanten, die benutzt worden waren. Gefangene in ihrem eigenen Geist. War es das wert? So gerne ich »Ja!« schreien und den Schalter betätigen wollte, ich konnte nicht. Für all diese Mutanten hatte es keine Perspektive, keine Hoffnung gegeben. Nicht, solange sie sich ihrer Gefühle nicht gestellt hatten. Und ich wusste nicht, ob ich, wenn ich diesen Schritt erst einmal gegangen war, so stark wie Kieran, Siebenundvierzig oder Flavio war, um mich wieder zu befreien.

Also spürte ich den Schmerz. Fühlte ihn in seinem vollen Umfang. Aber ich spürte ihn. Gewöhne dich dran, dachte ich. Er wird dich niemals ganz verlassen.

Ich wusste nicht, wie ich es schaffte, mich aufzurichten. Aufmerksam beobachtete Lucius mich dabei. »Du brichst einfach nicht. Du bist wie eine Kakerlake. Egal, was man tut, sie stirbt nicht. Wie lästig.«

Mit zitternden Beinen, die mich nicht mehr so recht tragen wollten, stellte ich mich ihm entgegen, breitete meine Arme aus, hüllte uns in eisige Luft. Frost schob sich über den Boden, verwandelte die Fläche in rutschiges Eis. Zarte Schneeflocken fielen vom Himmel, verliehen Lucius' schwarzem Haar weiße Tupfer.

Auch er war bereit. Schatten krochen über den Boden, sammelten sich unter seinen Füßen, kletterten an ihm hinauf, legten sich in seine Handflächen und warteten.

Der Schmerz verlieh mir ungeahnte Kräfte. Noch nie hatte sich mein Eis härter und tödlicher angefühlt. Aber wollte ich das? James hatte geglaubt, Lucius zurückholen zu können. James hatte geglaubt und war gestorben. Wollte ich seinen Fehler wiederholen? All der Schmerz. All die Qual. Und doch stand ich hier und war unschlüssig. War es das? War ich deshalb nicht dazu in der Lage, meine Freunde zu retten?

Es brauchte nicht viel. Lucius selbst hatte es gesagt: Das Leben war zerbrechlich. Es benötigte so wenig, um ihm ein Ende zu setzen. Ob es eine feine Eisnadel war, die die richtige Stelle fand, oder ein ganzer Eiszacken, der den ganzen Körper aufspießte. Das was so erschreckend leicht. Allein mein Kopf machte es unheimlich schwer.

Ich wollte ihn nicht töten. Aber ich musste. Und doch stand ich hier, ohne es getan zu haben. Ich wusste, dass es getan werden musste. Ich wusste es und doch zögerte ich. Lucius war mein Bruder. Nur war dieser Lucius vor mir es vielleicht nicht mehr. Vielleicht. Dieses elendige Wort. Vielleicht war er es nicht mehr. Vielleicht war er es doch noch. Irgendwo, tief in ihm drin. Tötete ich ihn hier und jetzt würde ich es niemals erfahren. Aber was, wenn ich es nicht tat? Ich könnte das bereuen. Wollte ich dieses Risiko wirklich eingehen? Egal was ich tat: Womöglich würde ich mir das niemals verzeihen.

»Worauf wartest du?«, spottete mein Bruder, die Schatten bereit zum Angriff.

»Und worauf wartest du?«, stellte ich die Gegenfrage. Mein Eis war ebenfalls bereit. Ich wagte nicht, mir zu viel von seinem Zögern – falls es das denn überhaupt war – zu erhoffen. Ich würde nur zu viel hinein interpretieren und mir unnötige Hoffnungen machen. Die Wahrheit tat weh und würde wahrscheinlich immer wehtun: Meinen Bruder gab es nicht mehr. Ich wagte es nicht an dieses eine Wort zu denken. Vielleicht. Denn dieses unschuldig wirkende Wort enthielt eine gefährliche Hoffnung.

Ohne Vorwarnung hatte sich ein Schatten hinter mir an mich herangepirscht und zu einer Peitsche verformt. Mein eigener Schatten dagegen hielt mich fest im Griff, ließ nicht zu, dass ich auch nur einen Schritt tat. Mit all meiner verbliebenen Kraft zerrte ich, doch kam nicht frei. Zeitgleich ließ Lucius seine Schattenpeitsche auf meinen Rücken schnellen. Schreiend ging ich zu Boden, kämpfte um mein Bewusstsein. Schwarze Flecken tanzten vor meinen Augen, mein Rücken brannte höllisch, schickte immerzu Schmerzwellen durch meinen gesamten Körper. Und doch schaffte ich es, mein Eis zu entfesseln. Mit allem, was ich hatte, schickte ich es meinem Zwilling entgegen.

Der Schneesturm vollführte einen wilden Tanz, wie Speere schossen meine tödlichen Eiszacken aus dem Boden. Lucius hatte seine Mühe, ihnen auszuweichen, konnte sich währenddessen nicht auf seine Schatten konzentrieren. Und ich war nicht gewillt, ihm eine Pause zu gönnen. Unaufhörlich schickte ich spitze Eiszacken aus dem Boden. Auch seine Verschmelzung mit den Schatten würde ihm nicht helfen. Mein Eis war überall. Und wenn es nicht mein Eis war, war es der Schnee. Egal, aus welchem Schatten er treten würde, mithilfe meines Schnees würde ich ihn sofort aufspüren. Er würde sich sachte auf seine Gestalt legen und mir verraten, wo er sich aufhielt. Sofort würden meine Eiszacken ihn in Empfang nehmen.

Mein Eis und Lucius vollführten einen tödlichen Tanz. Ein falscher Schritt und sein Ende wäre gekommen. Ich war nicht mehr darauf aus, ihn bloß zu verletzen. Ich war so fertig. Ich wollte nur noch, dass das hier ein Ende fand. Ich hatte nicht mehr die Kraft, nach einer anderen Lösung zu suchen. Mir war bewusst, dass ich mich, indem ich meinen Bruder tötete, wahrscheinlich selbst zerstören würde. Aber ich hatte es so satt. Ich war so müde. Schmerzen verspürte ich sowieso. Manche würden mich vermutlich niemals wieder verlassen. Was machte es da noch aus, den Schmerz weiter zu verstärken?

Jetzt hatte ich die Oberhand. Lucius blieb gar nichts anderes übrig, als sich meinem Eis zu fügen. Früher oder später würde er das begreifen. Er hatte keine Zeit, seien Schatten zu rufen oder gar in ihnen zu verschwinden. Es ging bloß noch um Ausdauer. Wem von uns beiden zuerst die Kraft verließ, würde sterben.

Hinter mir ertönte plötzlich ein Scheppern.

»Nein!«, stieß Lucius aus, wich meinem Eis aus und eilte zu dem Geräusch. Mir selbst schenkte er keinerlei Beachtung. Alarmiert blickte ich hinter mich und konnte ein zerbrochenes Fenster erkennen. Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass das vorher schon so gewesen war. Und ich war das garantiert nicht gewesen.

Dann erst erblickte ich Enya in dem kaputten Fenster. Aber sie schaute gar nicht zu uns, sondern nach unten. Und dort lag sie. Ächzend setzte Miss Magpie sich auf. Hatte Enya die Ambrosia-Wissenschaftlerin etwa aus dem Fenster gestoßen? Ungläubig starrte ich sie an.

»Freya!«, rief Samuels Cousine. »Ich habe sie gefunden!« Zum ersten Mal seit langem glomm in mir Hoffnung auf. Wenn Miss Magpie starb, würde ihre Kontrolle über meinen Bruder vielleicht erlöschen. Das schien auch Enya zu glauben, denn zu meiner Überraschung umklammerten ihre Hände eine Pistole. Wo zum Teufel hatte sie die her? Etwa von Jo? Ihre Hände zitterten leicht und ich bezweifelte, dass sie jemals einem Menschen oder Mutanten das Leben entrissen hatte. Aber ihr Blick war entschlossen. Genau wie Samuel war sie mir friedlich erschienen. Noch mehr als bei ihm hatte ich mir nicht vorstellen können, dass sie auch nur einer Fliege etwas zuleide tun könnte. Doch extreme Situationen erforderten meist extreme Maßnahmen. Bei Samuel war es heute nicht anders gewesen.

»Das wagst du nicht!«, knurrte Lucius. Erschrocken weiteten sich meine Augen. Er würde Enya etwas tun! Doch ehe ich eine Warnung rufen oder mein Eis schicken konnte, wuchs die Gestalt meines Bruders in Enyas Schatten und ohne Erbarmen biss er zu. Das Gift wirkte bei ihr schnell. Bewegungsunfähig hielt sie noch immer die Pistole auf Miss Magpies am Boden sitzende Gestalt, war aber nicht dazu in der Lage, abzudrücken oder wegzurennen. Ich war zu weit entfernt, um den genauen Ausdruck in ihrem Gesicht auszumachen, als sie begriff. Selbst mein Eis wäre nicht schnell genug gewesen, um aufzuhalten, was mein Bruder begonnen hatte. Bei mir hatte sein Gift nicht zum Tod geführt. Ich selbst war dazu in der Lage, Gift zu produzieren. Vielleicht hatte das mein Leben gerettet.

Aber im Gegensatz zu mir war Enya ein Mensch. Erst verweigerten ihr die Muskeln den Dienst, dann folgte die Atemlähmung. Unfähig, Sauerstoff in ihre Lungen zu bekommen, quälte sie sich, bis sie schließlich starb. Das Ganze betrachtete ich ungläubig von Weitem. Sobald Lucius sie gebissen und ihr sein Gift eingeflößt hatte, hatte sie keine Chance mehr gehabt. Sie hätte sofort ein Gegenmittel gebraucht, an das sie unmöglich hätte kommen können.

Ich wollte einfach nicht begreifen, dass nun auch Enya tot war. Nicht die liebevolle, bemühte Enya. Nicht Enya, die ihre eigenen Wünsche in den Hintergrund gestellt hatte, um in ihrem Haus so viele Mutanten zu versorgen.

Keiner von ihnen hatte das verdient. Nicht Aldric, nicht Liam, nicht James, nicht Enya. Hatte es überhaupt noch einen Sinn, zu kämpfen?

Ein von schmerzlicher Trauer erfüllter Schrei erschütterte den Platz. Samuel musste seine Cousine gefunden haben. Sie war alles, was er gehabt hatte. Alles, was ihm von seiner Familie geblieben war. Sie waren ein Team gewesen, Samuel und Enya. Es erschien mir unmöglich, ihn mir ohne seine Stütze vorzustellen. Ohne Enya wäre so vieles nicht möglich gewesen. Ohne sie wäre er ein Mutant ohne Hoffnungen gewesen, der entweder versteckt, als Sklave oder als Soldat gelebt hätte. Ohne Enya hätten so viele Mutanten keinen Zufluchtsort gehabt. Ohne Enya hätten sie niemals die Möglichkeit gehabt, die Flugblätter zu verbreiten, die das Denken vieler Menschen ins Wanken gebracht hatten. Wie sollte es nun ohne sie weitergehen?

Von hier aus konnte ich Samuel nicht sehen, doch ich konnte mir nur zu gut vorstellen, wie er die Treppe hoch gestürmt und ihre Leiche vorgefunden hatte und jetzt neben ihr niederkniete und sie an sich presste.

»Gut gemacht.«, sagte Miss Magpie, als mein Bruder aus ihrem Schatten auftauchte und ihr beim Aufstehen half. Als sie mit ihrem rechten Bein auftrat verzog sie vor Schmerz das Gesicht. Gebrochen. Das verursachte in mir düstere Genugtuung. Ein gebrochenes Bein wäre bald nicht mehr ihr einziges Problem. Dann würde sie sich nämlich um etwas ganz anderes sorgen müssen.

Plötzlich erschien eine Gestalt im Fenster. Wie ein düsterer Rachegott ließ er sich fallen und visierte meinen Bruder und Miss Magpie an. Sein Gesicht war verzerrt vor Trauer und Zorn. »Dafür werdet ihr büßen!«, knurrte er. Blind gab er sich dem Schmerz hin, verwandelte sich in eine Bestie. Mit seinen messerscharfen Zähnen schnappte er nach den beiden, versuchte sie in Richtung Wasser zu treiben, da er dort im Vorteil wäre. Ich schloss mich ihm an. Mein Eis war vor mir da, trieb Miss Magpie und ihre Kreation zurück.

Letztere stieß seinen Schöpfer in einen Schatten und Miss Magpie verschwand. Lucius selbst stellte sich seinen Gegnern. Als wir nahe genug an der Themse waren, rannte Samuel auf meinen Bruder zu und riss ihn mit sich in die Tiefe. Mit einem lauten Platschen kamen sie auf dem Wasser auf und versanken wie ein Stein. Von hier oben konnte ich kaum etwas erkennen. Dafür war das Wasser zu schmutzig. Alles was ich sah, war ein trübes Grau und die aufgewühlten Fluten. Irgendetwas geschah unter der Wasseroberfläche. Das Wasser verfärbte sich. Blut. Wessen konnte ich nicht sagen.

Hustend durchbrach Lucius die Wasseroberfläche. Sein Oberteil war an der Schulter vollkommen zerfetzt und tiefe Bisswunden waren zu sehen. Scheinbar konnten Samuels Zähne seine Schuppen durchbrechen. Kurz darauf floh er ächzend in den Schatten, der die eine Seite des Flussbeckens dunkel zeichnete. Anscheinend funktionierte sein Schattengang Unterwasser nicht.

Wenig später tauchte auch Samuel wieder auf. Düster blickte er zu mir hinauf, doch seine dunklen Augen wirkten einfach nur unglaublich müde. Wortlos erschuf ich eine Treppe aus Eis, die er mit schweigender Dankbarkeit erklomm. Er beachtete mich kaum, als er an mir vorbeiging. Mit einem Mal schien ihm alles andere egal zu sein. Lucius, der hatte fliehen können. Miss Magpie, die solange sie lebte eine Gefahr für uns darstellte. Sein einziges Ziel war das Haus, in dem Enyas Leiche lag. Und ich konnte es ihm nicht einmal verübeln. Also ließ ich ihn ziehen und ärgerte mich nicht darüber, dass er mich allein zurückließ. So gemein das klang: Als Liam starb hätten mir die anderen auch nicht gleichgültiger sein können.

Und ehrlich gesagt wusste ich auch nicht, was wir hier noch großartig bewerkstelligen sollten. Enya war tot und Samuel würde mit ihr verschwinden. Vermutlich würde er nicht zu den anderen zurückkehren. Alles war vorbei. Mit dem Verschwinden der beiden würde unser kleiner Versuch, die Gesellschaft zu verändern, nach und nach immer halbherziger werden. Die Gruppe aus Mutanten würde auseinanderfallen, ohne die beiden Personen, die sie zusammengehalten hatte. Nichts würde sich ändern. Wir hatten der Regierung bloß ein kleines Ärgernis bereitet, das schnell in Vergessenheit geraten würde. Die Wellen, die wir verursacht hatten, würden verebben.

So leicht waren wir besiegt worden. In meinem Leben gab es keine Hoffnung mehr. Alles war umsonst. Ich hatte mein Zuhause verloren. Ich hatte meinen besten Freund verloren. Ich hatte meinen Bruder verloren. Alles, was ich gewollt hatte, war ein normales Leben und eine Familie. Einen Ort, an den ich zurückkehren konnte. Leute, die auf mich warteten. Nichts davon würde ich bekommen.

Ein Teil meiner Familie war hier. Aber mein Bruder war mein Feind. Mein Feind, der schon wieder seine Schatten für einen Angriff sammelten. Ich hatte genug. Ich war so müde. Ich wollte das nicht mehr. Und so ging ich auf ihn zu, erduldete die Peitschenhiebe, die meine Haut aufrissen. Erduldete das Feuer, das sie säten. Erduldete die Messerhiebe. Erduldete die Schmerzen. Dann stand ich endlich vor ihm. Mein Körper wollte mich kaum mehr tragen. Alles tat mir weh. Selbst das Atmen. Eigentlich wollte ich nur noch meine Augen schließen und schlafen. Erst wieder aufwachen, wenn alles vorbei war. Doch ich hielt durch. Bekämpfte die Ohnmacht, die mich in die Finsternis reißen wollte. Wortlos schlang ich meine Arme um Lucius und zog ihn in eine Umarmung. Irritiert verharrte er.

Es war mir egal, dass er mir nun nah genug war, um mich wieder zu beißen. Es war mir egal, wie schutzlos ich gerade war. Meinetwegen könnte er seine Krallen in mich schlagen und mich auf der Stelle töten. Ich wollte ihn einfach nur ein letztes Mal umarmen. Mich verabschieden.

Es ist meine Schuld, dachte ich. Wäre ich nicht gewesen, hätte Miss Magpie ihm niemals ihre Aufmerksamkeit geschenkt. Wäre ich nicht gewesen, wäre er niemals zum Jäger geworden und hätte ein friedliches Leben Zuhause mit unseren Eltern führen können. 

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