Am nächsten Tag sage ich unser Training ab. Nach dem Traum, den ich heute Nacht hatte, kann ich Clara schlicht nicht unter die Augen treten.
Statt mit ihr zu trainieren vergrabe ich mich in Arbeit. Siren hat mir eine sehr angepisste Sprachnachricht geschickt, nachdem ich ihre Anrufe ignoriert habe und schreit mich an, weil ich ihre Autorität so schamlos untergraben habe. Ich spiele die Aufnahme auf doppelter Geschwindigkeit ab und unterlege ihren Wutausbruch mit einem schnellen Techno Beat, sodass dieser erträglich wird.
Sie will mich nicht mehr sehen, bis wir im Core sind. Ob ich ihr den Gefallen tue, muss ich mir noch irgendwann zwischen erstem Kaffee und erstem Bier überlegen.
Ich mache meine lange überfälligen E-mails, schicke einen Statusbericht an Ava, den ich zerstreut mit ‚Hab' dich lieb' unterzeichne und lösche all die Erinnerungen, die mir die Lernplattform des Kreuzers geschickt hat, um mich über meine fehlenden Abgaben zu informieren. Bitte, ich tue mir wirklich viel an für das Wohl der Menschheit, aber Aufsätze schreiben? Niemals.
Der Oktopus dümpelt in seinem Schaumbad umher, vor dem Fenster ziehen die Sterne vorbei und im Hintergrund läuft die Liveübertragung eines Angriffs, den die Föderation in eben diesem Moment auf die VHN fliegt. Ich gönne mir gerade einen Ingwer-Kurkuma-Shot, den mir Ava in einem Carepaket voller gesunder Bio Snacks geschickt hat, weil das Sunhunter Department anscheinend zu viel Geld und sie ein schlechtes Gewissen hat, als eine Benachrichtigung auf meinem Holo Bildschirm aufblinkt.
Sofort richte ich mich auf, wische aus der Ferne das Fenster zur Seite, auf dem die Formation der Kampfschiffe angezeigt wird, und nehme die blau leuchtende Einladung zum Videochat an.
Sämtliche Gedanken an die Rekrutin auf der Krankenstation, das Donnerwetter, das mich noch von Seiten der Generalin erwartet und mein Fresspaket verpuffen, als Zoro Júlíussons verpixeltes Gesicht auf dem Bildschirm erscheint. Der beste Scout, den ich kenne, nimmt seine Gasmaske ab, pfeffert sie zur Seite und entblößt die wulstigen Narben an seinen Wangen. Das Tattoo eines aufgerissenen Löwenmauls, das einmal dort zu sehen war, ist völlig verschwommen und nicht mehr zu erkennen, wenn man nicht weiß, was es darstellen soll.
Wir kennen uns schon lange bevor wir in New Bejing in diesen versifften Tattooladen gestolpert sind, waren mehrmals zusammen auf Mission und haben uns gegenseitig das Leben gerettet. Kinder fangen an zu weinen, wenn sie ihn sehen, auch wenn er nicht wie gerade eine schmutzige VHN Rüstung mit einem großen, schlecht aufgesprühten roten Totenkopf auf der Brust trägt, doch es gibt wenige Personen in der Galaxie, denen ich mehr vertraue.
„Hey, Jitter."
„Was geht, du Bastard?"
Er sieht über die Schulter, als in der Ferne Schüsse ertönen. Die Weltraum Piraten von Port Canad sind nicht unbedingt für ihre Impulskontrolle in dieser oder irgendeiner anderen Hinsicht bekannt. Als galaxieweit berüchtigter Drogenumschlagsort, Bordellhauptstadt und Festung der Gesetzlosen ist die Weltraumstadt für die meisten Rettungskapseln keine Erlösung, sondern ein Todesurteil.
„Was hast du für mich?", frage ich, während er sich in Bewegung setzt. Soweit ich es erkennen kann, hat er mich in einem halbverfallenen Hausflur angerufen.
Im Laufen streift er mit dem Kopf einen schief hängenden Kronleuchter, sieht erneut über die Schulter, bevor er in einen weiteren verlassenen Flur abbiegt. Die lindgrüne Tapete hinter ihm löst sich von der Wand, während er im Laufschritt auf einen Knopf an seiner Data Watch drückt, um alle anderen Signale in zwei Meter Umkreis abzufangen. Sunhunter Technologie, die ich ihm für einen Gefallen überlassen habe.
„Da unten eskaliert die Lage gerade, ich bin nicht sicher wie viel Zeit ich habe", sagt er, verschwindet um eine Ecke und schwingt sich aus dem Fenster. An einer Hand hängt er vom Sims, während zwei Personen vorbeitrampeln.
Ich sehe die Stadt unter mir, die blau schimmernde künstliche Atmosphäre über den Bruchbuden, leuchtende Riesenräder und bunte Achterbahnen. Ich bin oft genug in der verfluchten Piratenstadt gewesen, um zu wissen, dass dort gerne ganze Spielhöllen von einem Moment auf den anderen in die Luft fliegen und das völlig ohne Erklärung.
„Was hast du für mich?"
Agil wie ein Panther zieht sich mein Informant wieder in den Raum hinein. Kurz flackert sein Bild und der Ton ist verzerrt, wie in einem schlechten Horrorfilm.
„Ich bin seit zwei Tagen auf der Jagd nach ihr, aber niemand von unseren Freunden hat sie gesehen."
Ich starre ihn an, während er eine Treppe hinunterrennt, um eine Ecke schlittert und dann kompromisslos ein Stockwerk in die Tiefe springt. Das Bild verwackelt gnadenlos, als er sich abrollt.
„Carmen sagt, dass sie vor über drei Monaten das letzte Mal bei ihr war. Kalil hat sie seit über sechs nicht mehr gesehen. Hendriks meint, sie hat sich eine neue Signatur auf dem Schwarzmarkt gekauft und deswegen hat sie nur keiner mehr erkannt."
„Sie hat eine neue Signatur?", fluche ich, „Deswegen kann ich sie nicht tracken."
Der Scout hält inne, sieht nach oben, feuert einen Schuss ab. Ein Körper kippt vom Geländer der Treppe, fällt, mein Bild friert ein, im nächsten Moment liegt er reglos am Boden. Jitter ist schon einen Gang weiter, rennt durch einen Flur voller toter Riesenkakteen.
„Geht ja ganz schön ab bei dir", kommentiere ich trocken.
„Du hast ja keine Ahnung", keucht er, „Die Stadt ist noch schrecklicher als sonst. Es gibt Gerüchte, dass VHN und Föderation Friedensverhandlungen ansetzen, wusstest du das?"
Ich runzle die Stirn, völlig überrumpelt.
„Friedensverhandlungen? Davon habe ich nichts gehört." Und das heißt etwas, denn mit meiner Level zehn Freigabe bin ich theoretisch in so gut wie jedes noch so delikate Staatsgeheimnis eingeweiht. Doch in meinem täglichen Sunhunter Pitch stand nicht ein Wort von einer politischen Annäherung, geschwiege denn von Friedensverhandlungen.
„Wahrscheinlich nur ein Trick, um die Stimmung aufzumischen. Irgendeinem Piratenlord ist langweilig geworden", tue ich das Gerücht schulterzuckend ab. Doch ein gutes Gefühl habe ich dabei nicht.
Ein Waffenstillstand zwischen Föderation und VHN wäre verheerend für Port Canad, denn momentan läuft sämtlicher Handel zwischen den verfeindeten Supermächten illegal über diese zwielichtige Hölle einer Stadt.
„Kann Carmen die neue Signatur nachverfolgen?", komme ich wieder auf das eigentliche Thema zurück.
„Sie ist dabei, aber das kann dauern. Deine Söldnerin versteht ihr Handwerk."
„Ich kann sie nicht orten, wenn ich keine Signatur habe."
„Bete, dass sie die Data Watch behalten hat, sonst kannst du gar nichts tun."
Ich beiße die Zähne zusammen, während Jitter durch zwei riesige Doppeltüren in eine Garage hinaustritt. Er geht an kugelsicheren Jeeps, quietschbunten Kinderwägen, einer gelben Vespa und Hubschraubern in Tarnfarben vorbei.
„Noch etwas", sagt er, während er die Plane von einem Motorrad wirft und sich auf den Sattel schwingt, „Jemand hat Z-Sprengstoff vom Gehew Clan gestohlen. Vor circa einer Woche. Sie haben es vertuscht, aber ich habe die Ladung selbst abgezählt. Kann natürlich Zufall sein, aber dass du ein paar Tage später ausgerechnet nach ihr suchst ..."
Ich halte inne, während Jitter sich Handschuhe überstreift und seine Gasmaske wieder aufsetzt. Seine Narben und das verzerrte Tattoo verschwinden hinter den schwarzen Filtern.
„Wie viel fehlt?", frage ich tonlos.
„Eine Tonne."
„Das ist nicht genug, um einen Kreuzer ausbrennen zu lassen."
Er zuckt die Schultern.
„Wie gesagt, könnte Zufall sein. Hier wird andauernd gestohlen. Außerdem hat sie reiche Patrone, sie muss nicht stehlen."
„Die VHN darf keinen Z Sprengstoff autorisieren", meine Stimme ist unfassbar ruhig, obwohl ich am liebsten geschrien hätte, „Damit verletzen sie das erste Framework Abkommen. Das riskieren sie nicht."
Alleine beim Gedanken an diese verflixten chemischen Waffen zieht sich in mir alles zusammen. Z Sprengstoff ist verhältnismäßig schwach, kann also keine Schiffshüllen durchbrechen. Doch dafür bringt er nach der ersten explosiven Reaktion scheinbar die Luft selbst zum Brennen und das stundenlang. In den ersten Tagen des Kriegs wurde er genutzt, um einzuschüchtern, Exempel zu statuieren. Ich denke an die Tafeln auf dem Liberty Platz von New Paris, an die Namen, die man in den Stein dort geritzt hat.
„Was weiß ich", Jitter startet den Motor, „Die Galaxis dreht durch, Symphony. Ich hoffe für dich, dass sie nicht hinter dir her ist."
Ich brumme eine unverständliche Antwort, bedanke mich und verlasse den Videocall, während Jitter in die Straßen der Piratenstadt hinaus brettert. Ich fahre mir durch das Haar, während ich in meinem Kopf Puzzleteile hin und her schiebe und versuche, herauszufinden, was genau hier gespielt wird. Trotz Jitters guter Wünsche bin ich mir nun ziemlich sicher, dass Ravenna Noyemi mir auf den Fersen ist. Dass sie für die VHN arbeitet ist zwar schlechter Stil, aber vollkommen verständlich – die Vereinigung zahlt schließlich am besten. Doch sie kann unmöglich wissen, wo ich mich momentan aufhalte.
Wie ich schon Siren erklärt habe, wurde meine alte DataWatch in Wazekya vollkommen zerstört und zu der Neuen, die mir Ava irgendwie an Bord gebeamt hat, hatte noch niemand außer mir Zugang. Während es Nicht-Sunhuntern nur sehr schwer und illegal möglich ist, ihre persönliche Signatur zu wechseln, ändert sich meine im allgemeinen Sicherheitsprotokoll jede Woche und wenn ich auf Mission bin sogar alle paar Stunden. Außerdem waren meine Checks für DataDots alle negativ. Kurz: ich sollte momentan ein Geist für die gesamte Galaxie sein, vollkommen unaufspürbar.
Und doch habe ich kein gutes Gefühl, während ich nachdenklich auf meiner Couch sitze, der Oktopus im rosa Schaum herumplantscht und die beiden Supermächte sich weiter die Köpfe einschlagen. Ich kann auf gar keinen Fall zulassen, dass ich die Rekruten an Bord in Gefahr bringe.
Irgendwie muss ich von diesem verdammten Schiff runter. Aber wie? Denn wenn sich mein schlechtes Gefühl als berechtigt herausstellt, wenn meine Vermutung trotz aller Rationalität doch stimmt, dann will ich MacClara soweit weg von mir haben, wie möglich. Ich balle die Fäuste und rausche die Treppe hinunter.
Auf gar keinen Fall, darf sie mich noch einmal so ansehen oder anfassen, wie gestern Nacht. Ich darf es mir nicht erlauben, mich ihr zu öffnen, wenn ich sie nicht in tödliche Gefahr bringen will. Im Gegenteil, ich muss sie dazu bringen, sich von mir fernzuhalten – und das sobald wie möglich.
~☀️~