Die Kirche des reinen Blutes...

Od Sharlence

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Um Deine Gabe zu verlieren, musst Du die Kirche des reinen Blutes aufsuchen. Doch was machst Du, wenn jenes B... Viac

Vorwort zur Geschichte
Morgengrauen
Dämmerung
Unbekannt
Feyjassan
Cecil
Alvadee
Cecil
Feyjassan
Cecil

Alvadee

12 2 0
Od Sharlence


Wann immer die Nacht kam, wurde es kalt. Alvadee hätte meinen können, dass ihr die Kälte nichts mehr ausmachte, doch jedes Mal aufs Neue wurde sie eines Besseren belehrt. Auch jetzt zog sie die Enden ihres aus dicker Dunkelschafwolle bestehenden Mantels enger um sich und schritt die einsame Gasse entlang.

Als sie vor einem Haus ankam, dessen hölzerne Tür mit dem kleinen Glasfenster in der oberen Hälfte nur angelehnt war, hielt sie die Luft an und lauschte Aufmerksam. Doch nur das Quietschen der Scharniere war zu vernehmen. Alvadee setzte ihre lederne Umhängetasche auf den Boden und friemelte dann ihr goldenen Medaillon unter ihrer weißen Bluse hervor, die am Kragen mit roten Blumen-Stickereien verziert war. Sie hatte diese Arbeit in der letzten Nacht angefangen und einige Blüten fehlten noch in dem Gesamtbild. Doch Alvadee bezweifelte, dass sie es schaffen würde, diese Nacht ihre Stickerei zum Ende zu bringen.

Das Medaillon war so groß wie ihr Handteller und besaß eine feine Ziselierung eines Hirschgeweihs auf der Vorderfläche. Einige dunkle Einbuchtungen waren in einem halbmondförmigen Bogen über dem Geweih angeordnet, in denen früher kleine Diamantstücke gesessen hatten. Doch diese waren mit der Zeit entweder verloren gegangen oder Alvadees Vater hatte sie herausgebrochen, um eine wertvolle Anschaffung bezahlen zu können.

Sie öffnete den kleinen Verschluss, der die beiden Hälften des Medaillons zusammenhielt und klappte es auf. In seinem Innern befand sich eine goldene Spange. Das Material musste eine Legierung sein, denn es war bereits korrodiert. Dieses Medaillon befand sich schon seit Generationen in ihrer Familie und mit ihm der wichtigste Gegenstand, den sie beschützen mussten: ein kleines, weißes Stück Kreide in der Dicke und Länge ihres kleinen Fingers, das mit goldenen Staubpartikeln durchsetzt war.

Alvadee nahm sie heraus und klappte das Medaillon wieder zu. Dann ging sie zu dem Türrahmen und fuhr mit den Fingern über das zersplitterte Holz. Von der letzten Nacht waren nur noch wenige der weiß-goldenen, präzisen Striche zu erkennen und sie musste sie dringend erneuern. Noch einmal lauschte Alvadee ganz genau, ob das Runenmonster sich noch in dem Innern des Hauses befand. Sie traute sich nie, nachzugucken, was längst nicht so mutig wie ihr Vater. Sie erneuerte einfach nur Nacht für Nacht die Bannrunen und hoffte, dass das Monster niemals entkam.

Zuerst kam die Rune, die es dem Monster verwehren würde, über die Schwelle zu treten. Die Gefängnisrune, die einzige, die es nur in der Form mit der Kreide gab, um ihre Wirkung zu entfalten. Alle anderen Runen existierten auch als Fleischrune. Und Blut war immer stärker als Kreide, selbst wenn diese Kreide mit Goldstaub durchsetzt war, um sie wirksamer zu machen. Alvadee zeichnete den rundlichen Käfig vorsichtig nach. Mit jedem Strich, den sie mit der Kreide setzte, rieselte feiner Staub herab, den sie mit einem kleinen Stück knisterndes Papier auffing. Die Runenkreide nutzte sich viel zu schnell ab und dieses kleine Stück war der spärliche Rest, der von dem einst so großen Brocken übriggeblieben war. Die Gelehrten wollten diese Kreide unbedingt in ihren Besitz bringen, denn diese hinderte sie daran, sich die mächtigen Runen der Monster einzuverleiben.

Alvadee zeichnete die Gefängnisrune zu Ende und trat einen Schritt weg, um ihr Werk zu begutachten. Es sah aus wie ein Vogelkäfig, die die adeligen Damen häufig nutzten, um ihre Tiere zur Schau zu stellen. Ihre Arbeit war nicht gut, die Linie zu zittrig gezeichnet und generell hätte Alvadee sauberer arbeiten können. Doch es würde reichen, das Monster und die Gelehrten aufzuhalten.

Die junge Frau zitterte, als sie die Kreide erneut hob. Sie wusste nicht, wie viele Kerkermeister in Mhernyk noch existierten oder ob sie die einzige war, die dieses verlorene Erbe ausführen musste. Doch sie musste die Kreide mit ihrem Leben beschützen, denn ein einziger Strich könnte dazu führen, dass alles ins Chaos stürzte. Ein einziger Strich durch die Gefängnisrune mit der Kreide und sie würde ihre Wirkung verlieren.

Nur zur Sicherheit zeichnete Alvadee noch die Schleierrune auf den Türrahmen. Sie sah wie ein wallendes Tuch aus und würde den Gelehrten vormachen, dass hier kein Monster hauste, dass es hier nichts gab, was von Interesse sein könnte.

Alvadee zeichnete beide Runen mehrmals auf den Türrahmen, fing das abfallende Pulver auf und sah dabei zu, wie der Goldstaub in Verbindung mit dem Kalk reagierte und einen Zauber um den Eingang legte. Selbst, wenn der Rahmen zerstört werden würde, würde die Macht weiterhin bestehen. Doch so, wie Fleischrunen eine begrenzte Zeit besaßen, währten auch die aus dieser speziellen Kreide und Goldstaub nicht von Dauer.

Eine Nacht.

Alvadee konnte die Gelehrten in den meisten Fällen nur für eine einzige Nacht abhalten, danach musste sie sich sputen, alle Runen zu erneuern. Und wenn sie ein neues Monster fand, dann musste sie da geeignete anbringen. Je mehr Monster sie einsperren und verstecken wollte, desto länger wurden ihre Rundgänge. Alvadee fürchtete sich vor der Nacht, in der sie entscheiden musste, welche Monster sie zur Gelehrtenjagd freigeben wollte – welche den wenigsten Schaden anrichten würden.

Ein Knurren drang an ihre Ohren und trug einen modrigen Geruch mit sich, der in ihrer Nase stach. Alvadee wich einen Schritt zurück, stolperte und fiel beinahe neben ihrer Tasche auf den Steinboden. Durch das milchige Fenster hindurch, das in drei Segmente aufgeteilt war, erkannte sie die dunkle, unförmige Silhouette des Runenmonsters, das dieses Haus in seinen Besitz genommen hatte.

Ein äußerst gefährliches Monster, hallte die Stimme ihres Vaters laut durch ihren Kopf, als würde er neben ihr stehen. Seine Rune ist unfassbar mächtig, Alvadee. Sie darf niemals in die Hände der Gelehrten gelangen. Sie könnten damit Fürchterliches anstellen.

Kälte füllte die Luft um Alvadee herum. Der Gestank nach vermodertem Fleisch wurde immer stärker, dass sie würgen musste. Schnell verstaute Alvadee das kleine Papier mit dem wertvollen Kreidestaub in einem ledernen Säckchen, das sie fest verschloss und packte die Runenkreide zurück in ihr Medaillon, versteckte es dann wieder unter ihre Bluse. Sie atmete ein paar Mal tief ein und machte sie dann daran, auch die Fenster und Hausecken mit den Runen zu bestücken. Es war eine langwierige und anstrengende Arbeit und immer drang dieser seltsame Geruch an ihre Nase. Er erinnerte sie an die Nacht, an ihre Gänge durch die Straßen von Mhernyk. Nachdem sie das Haus umrundet hatte. suchte in ihrer Tasche, während sie in eine Gasse einbog und diese entlang schritt, nach der Karte, die ihr Vater ihr vor seinem Ableben gegeben hatte.

Hier sind alle wichtigen Monster eingezeichnet, mein Kind, hatte er noch auf seinem Totenbett geflüstert, während Alvadee die Karte beinahe gewaltsam aus seinen verkrampften Fingern hatte lösen müssen. Es gibt Monster, die musst du um jeden Preis einsperren. Vor allem das der Ewigen Nacht und das der Erinnerungen. Lass nicht zu, dass die Gelehrten ihren Hass zurückerlangen, den sie durch ihre Gabe verloren haben. Lass nicht zu, dass sich irgendjemand erinnert. Eine einzelne Erinnerung kann den Untergang der Welt bedeuten.

Die warnenden Worte wiegten sie auch weiterhin in den Schlaf. Alvadee wisperte sie immer vor sich her, wenn der Tag abrach und sie vor der Sonne fliehen musste, bis die Finsternis ihre kalten Finger um sie schloss und in einen traumlosen Schlaf verfrachtete, bis Solars wieder schwand. Worte, die ihr alles bedeuteten, denn es waren die letzten ihres Vaters gewesen.

Nein, nicht ganz die letzten.

Ich bin stolz auf dich. Und ich liebe dich.

Alvadee schluckte und blieb stehen. Sie war am Ende der Gasse angekommen und nutzte das Licht einer metallenen Laterne, in dessen Innern eine Kerze unruhig hin und her flackerte, um in dem gelben Schein ihr nächstes Ziel auszumachen. Sie fuhr mit dem Finger auf den verblassenden, grauen Linien entlang und suchte den Punkt, an dem sie stand, als sie hinter sich ein schweres Keuchen hörte.

Alvadee erstarrte. Das Papier raschelte viel zu laut, als sie es an ihre Brust drückte. Eine Hand wanderte in die Tasche ihres Mantels und umfassten die kleinen, runden Gegenstände, die ihr immer eine innere Ruhe verschafften. Sie fühlten sich kühl zwischen ihren Fingern an, obwohl sie von dem Mantel ausreichend gewärmt worden waren.

Alvadees Herz pochte stark in ihrer Brust. Sie versuchte, ruhig zu atmen, wie ihr Vater es ihr beigebracht hatte. Als eine der wenigen übriggebliebenen Kerkermeister in Mhernyk war es nur natürlich, dass die Gelehrten statt auf ein Monster lieber auf sie Jagd machten. Und viele kannten ihr Gesicht bereits. Seit vier Nächten schon hatte sie ihr Erbe angetreten und jede weitere Nacht war schlimmer als die vorherige.

Doch ihr Vater hatte sie gut ausgebildet und ihr viele Tricks gezeigt, wie man sich die meisten Gelehrten von der Kehle fernhielt. Alvadee wollte sich gar nicht vorstellen, was geschehen würde, wenn sie in die Klauen der Gelehrten gelangte. Sie stellte sich eine grausame Folter vor – denn abgesehen von der Runenkreide war ihr Wissen ihr wertvollster Besitz.

Sie hörte ein Tapsen aus der Gasse hinter sich. Ein weiteres, schweres Keuchen, das dann in ein Röcheln und schlussendlich in ein Husten überging. Erst trocken, dann immer kräftiger, feuchter, schleimiger. Ein saugendes Geräusch ertönte, dann hörte die den Tropfen auf dem Boden aufkommen. Wäre ihr nicht schon übel von dem Modergeruch des Verwesungsmonsters gewesen, dann spätestens jetzt. Und sie musste handeln, konnte nicht einfach verschreckt dastehen und warten, bis ihr Angreifer sie überwältigen würde.

Auf dem Absatz wirbelte sie herum. Ihr Mantel bauschte sich unterhalt ihrer Taille auf, ihre blonden Locken peitschen um sie herum und trafen sie im Gesicht. In der gleichen Bewegung zog sie ihren Arm aus ihrer Tasche, ihre Hand um mehrere goldene Münzen geklammert.

Der Gelehrte vor ihr stieß ein wütendes Knurren aus. Seine Augen waren starr vor Gier, seine Haltung verkrampft, seine Finger zu Klauen erstarrt. Blut tropfte aus etlichen seiner Wunden, seine Kleidung war zerfetzt durch die ganzen Schnitte und Stiche, die er sich selbst zugefügt haben musste. Sein Gesicht war nur noch eine verzogene Fratze, die Lippen aufgerissen und blutig, die Zähne spitz zulaufend. Seine Beine waren animalisch verformt, als er ansetzte, mit einem kräftigen Satz auf sie zu stürzen.

Die Münzen landeten klirrend auf dem Boden, rollten ein wenig umher, stolperten über die Furchen und blieben dann auf einer Seite liegen. Ihr Vater hatte sich immer einen Spaß daraus gemacht, zu zählen, wie viele Münzen Zahl zeigten, da er dies als seine Glücksseite betrachtet hatte.

Alvadee war das egal.

Sie hoffte, dass der Gelehrte schon so weit seinen Fleischrunen verfallen war, dass er die Spur aus Goldmünzen nicht zu übertreten vermochte. Sie wich ein paar Schritte zurück, zerknüllte die empfindliche Karte in ihrer Faust und steckte sie in ihre Tasche. Der Gelehrte stieß ein langgezogenes Heulen, sein Blick war starr auf sie gerichtet. Er machte noch einen weiteren Satz, krallte die Hände in den Boden, dass die Fingernägel absplitterten und blutige Schlieren auf dem grauen Stein hinterließen. Er kauerte sich zum Sprung nieder.

Alvadee sollte rennen. Rennen, bis ihr die Luft ausging und dann immer weiter, bis sie in einem ihrer unzähligen sicheren Verstecke angekommen war. Doch sie konnte nicht. Sie musste die groteske Visage des Gelehrten betrachten, in der nichts Menschliches mehr steckte. Ihr Mund war auf einen Schlag staubtrocken geworden, selbst das Schlucken fiel ihr schwer. Die Muskeln des Gelehrten spannten sich an, mit seinen widerlichen Zähnen schnappte er in ihre Richtung ... doch er rührte sich nicht.

Er knurrte und fauchte, dann setzte er seine Nase auf den Boden und schnüffelte. Kurz vor den Goldmünzen blieb er stehen. Seine dunkelbraunen Haare, die bisher glatt an seinem Kopf gelegen hatten, stellten sich wie das Rückenfell eines Wolfes auf.

Alvadee hatte genug gesehen.

Endlich setzte ihr Verstand ein, als hätte er verzweifelt versuchte, ihre panische Reaktion zu überholen und es endlich geschafft. Sie konnte sich wieder bewegen, wandte den Blick von dem Gelehrten ab und sprintete los. Hinter ihr erklang dasselbe scheußliche Heulen, wütend und verzerrt, gepaart mit dem Schrei eines Menschen.

Es war grausam.

Alvadee klammerte beide Hände in den Riemen ihrer Tasche, während ihre Absätze auf dem Boden hallten. Schnell bog sie in eine weitere Gasse ein, knickte um und stürzte mit der Schulter gegen die Steinwand. Ein Fenster befand sich neben ihr, war einen Spalt geöffnet. Daraus drangen ein Stöhnen und Schmatzen zu ihr. Alvadee wollte nicht wissen, was die Leute dort drin veranstalteten. Es könnte ein einfaches Festmahl sein ... oder etwas Anderes.

Nein, nicht nachdenken!

Sie presste die Kiefer aufeinander, verdrängte den Schmerz in ihrem Knöchel so gut es ging und lief weiter. Der Gelehrte würde einen anderen Weg finden, die Goldmünzen zu umgehen – sie hielten kein Monster wirklich lange auf, sorgten nur für Verwirrung. Doch bis das Monster ihre Spur aufgenommen hatte, wäre sie hoffentlich bereits in ihrem sicheren Versteck verschwunden.

Es musste nicht mehr weit sein.

Alvadee hielt sich an den groben Steinen der Hauswände fest und zog sich mühsam weiter. Schweißperlen liefen ihr über die Schläfen, mischten sich mit den salzigen Tränen, die aus ihren Augen traten. Immerhin der stechende Schmerz in ihrem Knöchel, als würde jemand einen Dolch zwischen die Knochen schieben, verschwand mit jedem mühsamen Schritt, zu dem sie sich zwang.

Sie war zwar in Mhernyk geboren worden, doch sie war für das Leben eines Kerkermeisters ungeeignet. Sie hatte vier Nächte überstanden. Mit ein bisschen Glück würde sie auch die fünfte schaffen. Und die sechste. Doch irgendwann würde die unheilvolle Nacht kommen, in der ihr die Flucht verwehrt war und die Gelehrten sie zu fassen bekämen.

Und dann würde sie das Morgengrauen nicht mehr erleben. 

Pokračovať v čítaní

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