Freya Winter - Mutant

By 00elem00

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Mutanten. Genveränderte Menschen. Die neue Zukunft. Weltverbesserung. So sollte es zumindest laut Ambrosia se... More

Prolog
Teil I
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Teil II
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Teil III
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 44.2 Lucius
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Teil IV
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 55.2 - Lucius
Kapitel 56 - Lucius
Kapitel 57 - Lucius
Kapitel 58 - Lucius
Kapitel 59 - Lucius
Kapitel 60 - Lucius
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Kapitel 65
Kapitel 66
Kapitel 67
Kapitel 68
Kapitel 69
Kapitel 70
Kapitel 71
Kapitel 72
Kapitel 72.2
Kapitel 72.3
Kapitel 73
Kapitel 73.2
Teil V
Kapitel 74
Kapitel 75
Kapitel 75.2
Kapitel 76
Kapitel 76.2
Kapitel 77
Kapitel 77.2
Kapitel 78
Kapitel 78.2
Kapitel 79
Kapitel 79.2
Kapitel 80
Kapitel 80.2
Kapitel 81
Kapitel 81.2
Kapitel 82
Kapitel 82.2
Kapitel 83
Kapitel 83.2
Kapitel 84
Kapitel 85
Kapitel 85.2
Teil VI
Kapitel 86
Kapitel 86.2
Kapitel 87
Kapitel 87.2
Kapitel 87.3
Kapitel 88
Kapitel 88.2
Kapitel 88.3
Kapitel 89
Kapitel 89.2
Kapitel 90
Kapitel 90.1
Kapitel 90.2
Kapitel 90.3
Kapitel 90.4
Kapitel 91
Kapitel 91.2
Kapitel 91.3
Kapitel 91.4
Kapitel 91.5
Kapitel 92
Kapitel 92.2
Kapitel 92.3
Kapitel 92.4
Kapitel 92.5
Kapitel 93
Kapitel 93.2
Kapitel 93.3
Kapitel 93.4
Kapitel 93.5
Kapitel 94
Kapitel 94.2
Kapitel 94.3
Kapitel 94.4
Teil VII
Kapitel 95
Kapitel 95.2
Kapitel 95.3
Kapitel 95.4
Kapitel 95.5
Kapitel 95.6
Kapitel 95.7
Kapitel 96
Kapitel 96.2
Kapitel 96.3
Kapitel 96.4
Kapitel 97
Kapitel 97.2
Kapitel 97.3
Kapitel 97.4
Kapitel 98
Kapitel 98.2
Kapitel 98.3
Kapitel 98.4
Kapitel 98.5
Kapitel 99
Kapitel 99.2
Kapitel 100
Kapitel 100.2
Kapitel 100.3
Kapitel 100.4
Kapitel 101
Kapitel 101.2
Kapitel 101.3
Teil VIII
Kapitel 102
Kapitel 102.2
Kapitel 102.3
Kapitel 102.4
Kapitel 103
Kapitel 104
Kapitel 105
Kapitel 106
Kapitel 107
Kapitel 108
Kapitel 110
Kapitel 111
Kapitel 112
Epilog
Schlusswort

Kapitel 109

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By 00elem00

Trotz unseres Zeitdrucks ließ Kieran Flavio seine Zeit, auch wenn ich ihm ansehen konnte, dass er noch deutlich mehr davon gebraucht hätte, als Kieran ihm schließlich beim Aufstehen half und ihn stützte. Langsam bewegten sie sich auf uns zu. Jeder einzelne Schritt schien für Flavio eine Qual zu sein, doch ich bezweifelte, dass seine Schmerzen physischer Natur waren.

Misstrauisch beäugten Elliot und Samuel die Fledermaus, während ich in Siebenundvierzigs Miene Mitgefühl und Verständnis ausmachen konnte. Anders als die beiden anderen hatte sie keinerlei Bedenken, ihn mit uns zu nehmen. Das fiel auch Samuel auf und sogleich entspannte er sich merklich. Er vertraute auf ihr Urteil.

»Die Soldaten -«, begann Samuel mit gesenkter Stimme, doch Kieran unterbrach ihn.

»Sie sind desertiert. Haben sich in alle erdenklichen Ecken verstreut und werden darauf achten, dass keinem Mutanten mehr etwas zuleide getan wird.«, sagte er knapp.

Samuels Gesichtszüge entgleisten. »Du hast dir doch nicht etwa deine eigene Privatarmee aufgebaut?«

»Ich brauche keine Armee.« Kierans Antwort war so trocken wie eh und je. »Mit dem, was sie mit ihrem zurückgewonnenen Leben jetzt anfangen, habe ich nichts zu tun.« Nachdenklich nickte der andere Mutant und beließ es dabei. Schweigend überquerten wir den Platz. Jeder in seinen eigenen Gedanken versunken.

Erleichterung erfüllte jeden Zentimeter meines Körpers, als mir nun klar wurde, dass die Regierung nichts mehr gegen uns in der Hand hatte. Ihre Waffe waren die Elitesoldaten gewesen. Aber die gab es nicht mehr. Jetzt musste sie endlich einsehen, dass sie uns nicht stoppen konnte. Der Stein war unwiderruflich ins Rollen geraten. Nichts konnte daran mehr etwas ändern. Egal, was sie noch tat: Sie konnte den Wandel nicht aufhalten. Verzögern, das vielleicht. Aber auf keinen Fall aufhalten.

Das würde die Regierung selbst auch bald feststellen müssen. Dieser Gedanke versetzte mich in Hochstimmung. Der Kampf mit den Jägern und den Elitesoldaten war unerwartet gekommen. Doch unser Sieg war alles andere als unbedeutend. Er besiegelte die Wandlung. Wir Mutanten würden nicht mehr aufzuhalten sein.

Mir Mr Melnikova im Parlament würde es vermutlich nicht mehr lange dauern, bis wir offiziell mit den Menschen auf einer Stufe standen. Es war nur eine Frage der Zeit. Wir hatten gewonnen. Unglaublich, dass ich noch nie darüber nachgedacht hatte, was es für uns bedeuten würde, die Elitesoldaten zu besiegen. Die Regierung war schutzlos. Nichts konnte sich mehr zwischen sie und uns stellen. Auch ihre Soldaten hatten sich von ihr abgewandt. Sie musste uns jetzt einfach anerkenne. Als teilte das Wetter meine Freude, hörte es auf zu regnen. Zwar verzogen sich die dichten, dunklen Wolken nicht, aber dafür war es trocken. Dennoch war mir der Himmel nie heller erschienen.

»Du lächelst.«, stellte Kieran fest. »Wieso?«

Jeder Schritt, den wir taten, fühlte sich federleicht an. All die Anspannung, all die Angst waren mir mit einem Mal von den Schultern gefallen und mit ihnen war ein gewaltiges Gewicht verschwunden, das mich niederzudrücken gedroht hatte. Ich konnte es noch gar nicht richtig glauben. Obwohl es natürlich noch nicht offiziell war, waren wir an unserem Ziel so gut wie angelangt. Es war nur noch eine Sache von Formalitäten. Ein paar Wochen, vielleicht, tippte ich.

»Wir haben gewonnen.«, sagte ich mit einem seligen Lächeln auf den Lippen. Ungläubig lachte ich leise auf. »All die Jahre. All die Unterdrückung. Und jetzt wird es bald endlich Wirklichkeit. Kieran, die Freiheit ist zum Greifen nahe.«

Zu meiner Überraschung schien er meine Freude nicht zu teilen. Finster starrte er nachdenklich in die Luft. »Da wäre ich mir nicht so sicher.«, sagte er.

»Die Elitesoldaten sind besiegt! Es gibt nichts mehr, das uns aufhalten kann. Nichts mehr kann uns davon abhalten, zu den Menschen durchzudringen. Die Regierung ist machtlos gegen uns.«, erklärte ich enthusiastisch. Wir konnten nach Hause. Nach all der Zeit konnten wir endlich nach Hause. Selbst, wenn sie die Regierungsagenten auf uns hetzen sollten, würde das nichts ändern. Nicht, wenn sie auf zu viel Gegenwehr stießen. Und es hatte doch schon längst begonnen. Die neuen Sendungen im Fernsehen waren der Beweis dafür.

»Das mag stimmen.«, meinte Kieran ohne die Miene zu verziehen. »Dennoch wird sich die Regierung nicht so schnell geschlagen geben. Sie mag nicht so stark sein, wie wir. Aber sie hat einen starken Willen. Gegen einen solchen kommt man auch mit Gewalt nicht immer an. Ein Wille muss brechen, damit die Gewalt einen Effekt auf ihn hat.«

»Du meinst also, dass die Regierung selbst jetzt noch versuchen wird, uns weiter unten zu halten.«, fasste Samuel zusammen.

»Was hat uns die ganzen Jahre zuvor aufgehalten, unsere Wünschen zu erfüllen?«, stellte Kieran die Frage in die Runde. »Es waren nicht die Elitesoldaten. Von denen wusste ohnehin nicht einmal der Großteil der Mutanten oder der Menschen. Sie haben uns nicht mit körperlicher Kraft unterdrückt, sondern mit der ihres Willens. Sie haben uns glauben lassen, dass unsere Wünsche unerreichbar seien. Somit hat unser eigener Geist uns die Freiheit vorenthalten.«

»Willst du mir weismachen, dass es meine eigene Schuld ist, dass ich keine Rechte habe und kaum mehr wert als eine Kakerlake bin?« Missbilligend schüttelte Siebenundvierzig ihren Kopf. »Was du erzählst, ist Mist.«

»Ach, wirklich?« Gleichgültig zuckte Kieran mit seinen Schultern. »Wieso hast du dir deine Rechte und deine Freiheit dann nicht einfach genommen? Du bist viel stärker als die Menschen.«

»Na, weil das nicht so einfach ist!«, knurrte sie.

»Doch. Ist es.«, entgegnete er. »Du hättest dich nur erheben müssen. Hättest dich gegen die Menschen, die dich unterdrücken wollen, stellen müssen. Was hätten sie dir schon entgegenzusetzen? Und wenn sich dann noch ein paar Mutanten an deiner Seite befunden hätten, hättest du dieses gesellschaftliche System ganz einfach auseinander nehmen können. Aber du hast es nicht getan. Keiner hat das. Weil sie die Macht über euren Willen hatten.«

»Und jetzt nicht mehr?«, brummte sie nicht sonderlich begeistert.

»Nein.«, sagte er. »Du bist aus dem System ausgebrochen. Auch, wenn du noch immer nicht begreifst, wie viel Macht wir eigentlich haben. Du und die anderen habt versucht mit den Mitteln der Menschen unsere Freiheit einzufordern. Allein darum sind wir noch nicht da, wo wir gerne hin wollen.

Sie fürchten uns. Daher wollen sie uns unterdrücken. Meinst du etwa, dass man uns Mutanten grundlos fürchtet?« Schweigen breitete sich aus. Legte sich schwer über uns. Durch Kierans trockene Worte hatte sich mein Hochgefühl gelegt. Stattdessen hatte mich die Beklommenheit ergriffen.

»Genug davon.«, schaltete sich nun auch Samuel ein. »Wir sind fast an unserem Ziel angelangt. Es bringt uns nichts, jetzt darüber nachzudenken, was wir hätten besser machen können. Es mag sein, dass der Wille der Regierung unbeugsam ist. Aber der Verlust der Elitesoldaten wird sie dennoch treffen. Sie wird nicht ewig so weiter machen können wie bisher.«

Er sah das also genauso wie ich. Dennoch wollte sich die Freude über das, was wir erreicht hatten, nicht wieder einstellen. Und jetzt wollte ich einfach nur noch zurück, es mir vor dem Fernseher gemütlich machen und auf die Nachrichten warten.

»Wer sind die denn?«, kam es plötzlich von Elliot.

»Wer?« Alle Köpfe drehten sich in die Richtung, in die Elliot sah. Drei Gestalten schlitterten gerade über meine Eisbrücke, sprangen am Ende hinunter und kamen genau auf uns zu. Mit zielstrebigen Schritten eilten sie uns entgegen. Ich brauchte einige Sekunden, ehe ich sie als James, Jo und Brenda identifizierte. Mir kam es so vor, als hätten wir uns seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen. Aber wo war der Rest von ihnen?

»Sie kommen genau auf uns zu.«, knurrte Siebenundvierzig bedrohlich. Sie machte sich bereit zum Angriff.

»Sie sind nicht der Feind.«, hielt ich sie zurück.

»Ach, nein?« Skeptisch warf sie mir einen forschenden Blick zu.

»Nein.«

»Freya!« Die letzten Meter war James gerannt und nun blieb er keuchend vor mir stehen. Schweiß glänzte auf seiner Stirn und irgendetwas an seiner Erscheinung ließ mich unruhig werden. Irgendwie wirkte er hektisch. Ruhelos schweiften seine Augen über unsere Umgebung.

»James?«, fragte ich misstrauisch. Alarmiert musterte ich ihn. Irgendetwas stimmte nicht. Aber was? Sie waren nur zu dritt. Wo war der Rest? Hatte Jo nicht noch vor Kurzem gesagt, dass die Jäger eine Gruppe waren und zusammengehörten? Das war doch schließlich der Grund, weshalb sie meinem Bruder gefolgt waren, als Liam ihn zum Gehen gezwungen hatte. »Wo ist der Rest?«

»Wir haben uns aufgeteilt.«, informierte mich Jo, als sie uns erreichte. »Wir drei waren auf der Suche nach dir.« Mein ungutes Gefühl verstärkte sich. Etwas war nicht richtig. Ganz und gar nicht.

»Hey, sollte Liam nicht bei dir sein?« Suchend sah James sich um. Somit entging ihm, wie sich mein Gesicht schlagartig verdüsterte und sich ein trauriger Schleier über meine Miene legte. Jo allerdings bemerkte es.

»Freya?«, forderte sie mich auf, mit der Sprache rauszurücken.

»Liam ist tot.« Die Worte auszusprechen schmerzte so sehr, dass ich es kaum beschreiben konnte. Sie fühlten sich giftig und falsch an. Und doch waren sie die Wahrheit.

Augenblicklich wich den drei Jägern alles Blut aus den Gesichtern. Ich konnte Brenda entsetzt keuchen hören. Stimmt, sie war ja in ihn vernarrt gewesen. Das hatte ich schon fast vergessen, so wie sie sich, sobald sie wusste, wer Liam war, zurückgezogen hatte.

»Was?«, donnerte Jos Stimme über den Platz. Die Fassungslosigkeit hatte sie fest im Griff. Unglaube zeichnete sich in jeder Faser ihres Körpers ab.

»Aber Liam ... Er ist ... Er war -« James stockte.

»Wie?« Brendas Stimme war kaum mehr als ein klägliches Krächzen.

»Kurz nachdem wir Morvah verlassen haben, haben uns einige der Elitesoldaten überrascht.«, antwortete Kieran an meiner Stelle, wofür ich ihm echt dankbar war. Ich glaubte kaum, dass ich es über mich gebracht hätte, auch noch die Ursache seines Todes beschreiben zu müssen.

»Und wo ...?«, fragte Jo vorsichtig.

»Wir haben ihn noch vor Ort begraben.«, sagte Kieran. Erschüttertes Schweigen. Und obwohl keiner mehr sprach, verfestigte sich in mir das Gefühl, dass auch die drei Jäger schlechte Nachrichten hatten. Vermutlich hatten sie mich deshalb gesucht.

»Lasst uns das nicht hier besprechen.«, murmelte ich. Das war mir im Moment alles zu viel. Außerdem wollte ich hier nur noch weg. Zustimmend nickten alle und wir setzten uns wieder in Bewegung. Dennoch bemerkte ich, wie unruhig die drei Jäger waren. Worte brannten ihnen auf der Zunge, doch sie hielten sie zurück.

Mit einem Seitenblick auf Flavio stellte ich fest, dass der Fledermausmutant kaum mehr ansprechbar war. Kraftlos hing er neben Kieran, der ihn stützte. Er war kaum mehr bei Bewusstsein. Ich wollte mir gar nicht vorstellen, was er gerade durchmachen musste.

»Wo wollt ihr denn hin?«, schallte auf einmal eine kalte Stimme über den Platz. Schlagartig bleiben wir stehen. »Noch ist es nicht vorbei.« Ohne es zu wollen erschauderte ich. Ich kannte diese Stimme. Aber das konnte gar nicht sein. Die Frau, zu der sie gehörte, saß im Gefängnis. Aus dem würde sie vermutlich auch nie wieder herauskommen.

Quälend langsam drehte ich mich um und wagte es dabei, kaum zu atmen. Dort stand sie. In sicherer Entfernung zu uns erkannte ich sie. Das angegraute dunkle Haar hatte sie wie damals schon zu einem strengen Knoten zurückgebunden. Nichts an ihr deutete darauf hin, dass sie gerade aus dem Gefängnis geflohen war. Über ein schneeweißes Hemd trug sie einen dunkelblauen Blazer und ihre Füße steckten in ebenso dunkelblauen Schuhen mit leichtem Absatz.

»Dorothea Magpie!«, stieß Samuel ein hasserfülltes Knurren aus.

Elliot bleckte die Zähne und wollte schon losmarschieren, als ich ihn zurückhielt. »Nicht.« Etwas stimmte nicht. Die verabscheute Wissenschaftlerin von Ambrosia stellte sich nicht einer Übermacht von Mutanten und Jägern, wenn sie sich nicht sicher sein konnte, dass ihr keine Gefahr drohte. Zweifellos war sie ein Miststück, doch sie war nicht dumm.

In meinem Inneren brodelte es gefährlich. Nichts hätte ich lieber getan, als zu tun, was ich schon vor vielen Jahren hätte tun sollen. Sie hätte in meinem Eis sterben sollen. Stattdessen stand sie hier und lebte. Und ich bezweifelte, dass sie ohne jeden Grund hergekommen war, zumal sie eigentlich im Gefängnis sitzen sollte.

»Lass sie mich zerfetzen!«, knurrte Elliot. »Wieso hältst du mich auf?«

»Ich verhindere bloß, dass du ein verfrühtes Ende findest.«, erwiderte ich. Keine Sekunde ließ ich Miss Magpie aus den Augen. Sie nach fünf Jahren wieder vor mir zu sehen glich einem Schlag ins Gesicht. Diese Frau war Schuld an allem. Diese Frau hatte mich aus meinem Leben gerissen, hatte mir meine Familie genommen. Sie verdiente den Tod. Und sie jetzt hier zu sehen machte mich rasend.

Überlegen lächelte sie. »Glaubt ihr wirklich, dass es vorbei ist? Die Elitesoldaten haben versagt. Aber unsere wunderbare Regierung hat für diesen Fall bereits vorgesorgt. Jetzt steht ihr vor der letzten Instanz.«

»Sie?«, spottete Siebenundvierzig. »Na schön, dann kommen Sie doch näher.« Angriffslustig strich sie sich durch das Haar und ihre Knopfaugen funkelten mordlustig. Doch Miss Magpie ließ sich nicht beeinflussen. Stattdessen bedachte sie Siebenundvierzig mit einem Lächeln, das man Kindern schenkte, die versuchten, sich erwachsen zu benehmen. Da war keinerlei Respekt.

»Oh, nein, Nummer Siebenundvierzig. Nicht ich werde euer Gegner sein.« Mit solch einer Ruhe, die eigentlich niemand aufbringen konnte, der sechs Mutanten und drei Jägern gegenüberstand, schaute sie uns zufrieden entgegen. »Eure kleine Rebellion findet heute ihr Ende. Dafür habe ich gewissenhaft gesorgt.« Was meinte sie damit? Unwohl verkrampfte ich mich. Was übersah ich?

Die Jäger hatten wir in die Flucht geschlagen und die Elitesoldaten besiegt. Was konnte es jetzt noch geben, das uns womöglich gefährlich werden konnte? Selbst wenn sie irgendwelche Technologien dabei hatte, die unsere Fähigkeiten unterdrücken konnten, war sie noch immer im Nachteil. Dafür waren wir einfach zu viele. Außerdem hatte Samuel noch immer seine Zähne und Elliot seine Krallen. Und Kieran war ein ausgebildeter Kämpfer. Diese drei benötigten keine besonderen Fähigkeiten, um Miss Magpie zu töten.

Ihr Verhalten wollte also irgendwie nicht zu der Situation passen. Genau das machte mir Angst. Diese Frau war unberechenbar.

Dann wandte sie sich plötzlich an mich. »Dreiundneunzig, ich bin mir sicher, dass dir mein kleines Ass im Ärmel besonders gut gefallen wird. Dank eurer kleinen Rebellion hat sich die Regierung gezwungen gesehen, mit mir zusammenzuarbeiten und mich frühzeitig aus dem Gefängnis zu entlassen. Und ich danke dir, dass du Doktor Clausen für mich aus dem Weg geschafft hast. Wäre er noch am Leben, wäre ich deutlich schlechter an seine Forschungsergebnisse gelangt. Ruhe er in Frieden.« Das ungute Gefühl verwandelte sich in Entsetzen. Irgendetwas ging hier vor. Irgendetwas Schreckliches. Doch ich erkannte es einfach nicht. Wofür benötigte Miss Magpie Forschungsergebnisse? Clausen hatte an Varya, Lucius und mir geforscht. Aber Miss Magpie gehörte zu Ambrosia. Sie sollte also eigentlich alle nötigen Daten bezüglich der Mutanten haben. Was bezweckte sie damit?

»Mir reicht es.«, murmelte Jo, zog blitzschnell eine Pistole und schoss. Mir gefror das Blut in den Adern. Dort, wo Miss Magpie sich gerade noch befunden hatte, stand niemand mehr. Das sollte gar nicht möglich sein. Es sei denn ... Entsetzen breitete sich in jedem Winkel meines Körpers aus. Die Angst schloss ihre kalten Finger um mein Herz. Hatte Miss Magpie sich etwa selbst zum Mutanten gemacht? Was würde das für uns bedeuten?

»Freya.« James' Stimme hatte jeden Klang verloren. Er war so bleich wie die Wand. Und er sah so aus, als würde er sich gleich übergeben müssen. Alarmiert folgte ich seinem Blick. Dann fand ich sie. Gelassen beobachtete uns die Ambrosia-Wissenschaftlerin, die nun am entgegengesetzten Ende des Platzes stand. Und sie war nicht allein.

Die Gestalt war so finster wie der Schatten, aus dem sie getreten war. Dunkelgraue Schuppen zierten ihre Haut. Das Haar war schwarz wie die Nacht und die Augen glühten wie Höllenfeuer. Er wirkte, als sei er der Unterwelt entstiegen. Mit den schwarzen, leicht gebogenen Krallen könnte er Metall schneiden, als handelte es sich um Butter.

In seinem Blick war keinerlei Gewissen zu erkennen. Keine Reue, kein Mitgefühl. Diese Kreatur dort war nicht menschlich. Sie hatte alle Menschlichkeit eingebüßt. Wortlos richteten sich die Höllenschlünde, die seine Augen waren, auf uns.

Mir gefror das Blut in den Adern. Erschrocken schnappte ich nach Luft, voller Entsetzen weiteten sich meine Augen. Das durfte nicht sein! Nein! Was hatte sie getan? Mein Innerstes war in Aufruhr. Meine Gedanken überschlugen sich. In mir herrschte ein einziges Chaos. Widersprüchliche Gefühle prallten gegeneinander, ließen mich völlig verzweifelt zurück. Mir war schwindelig. Außerdem hatte ich das Gefühl, mich gleich übergeben zu müssen. Wieso? Wieso musste immer alles so grausam sein?

»Lucius.«, hauchte ich.

Doch er reagierte gar nicht. Erkannte er mich denn nicht? Wusste er denn nicht, auf wessen Seite er sich da gestellt hatte? Was hatte diese schreckliche Frau ihm nur angetan? Lucius war ein Mutant. Niemals hätte er das freiwillig zugelassen. Zu einem Mutanten zu werden, war für ihn der schlimmste Albtraum. Aber dieser Lucius da vorne sah so fremd aus.

»Sie haben ihn entführt.«, flüsterte James neben mir. Wie vom Donner gerührt starrte er seinen besten Freund an. »Drei Elitesoldaten kamen an dem Tag, an dem wir das Cottage verlassen hatten. Und sie haben ihn mitgenommen.« Jetzt war mir auch klar, weshalb Audra, Kieran, Liam und ich auch nur auf drei von ihnen gestoßen waren.

Ich konnte mich kaum bewegen. Allein der Gedanke, auch nur einen Finger zu rühren, quälte mich. Mein Körper war wie erstarrt. Niemals hatte ich gewollt, dass das passierte. Hätte ich gewusst, was geschehen würde, hätte ich niemals zugelassen, dass Liam meinen Bruder wegschickte. Lucius hatte mich verraten. Aber das hier verdiente er nicht. Tränen brannten mir in den Augen.

Miss Magpie beobachtete mich zufrieden lächelnd. »Ich wusste, dass dir mein Ass gefällt. Ist es nicht unglaublich, was ich aus deinem Zwilling machen konnte? In all den Jahren, in denen Ambrosia Mutanten erschaffen hat, ist es uns niemals gelungen, ein solches Prachtexemplar zu kreieren. Er vereint all die Eigenschaften in sich, an denen wir damals bei euch gescheitert sind. Er ist perfekt.«, sagte sie und bedachte die Dämonengestalt meines Bruder mit einem stolzen Blick.

»Sie sind widerwärtig.«, flüsterte ich.

»Ach, Dreiundneunzig.«, lachte die Ambrosia-Wissenschaftlerin spöttisch. »Sag mir jetzt nicht, dass dich das überrascht. Du bist viel zu intelligent dafür.«

Ich konnte meinen Blick nicht von meinem Bruder losreißen. In seinem Gesicht zeigte sich keine noch so kleine Regung. Ihm war das Ganze hier vollkommen gleichgültig. Angst machte sich in mir breit. Hatte er etwa solch starke Qualen durchstehen müssen, dass er seine Gefühle abgeschaltet hatte? War er jetzt ein Elitesoldat? Nein, wohl kaum. Diese hatten ein Training durchlaufen. Dafür hatte Lucius keine Zeit gehabt.

»Aber genug geredet.«, sagte Miss Magpie ernst. »Schon viel zu lange seid ihr der Regierung und mir ein Dorn im Auge. Wir beendet diesen Unsinn noch heute.« Sie blickte zu dem dunkel geschuppten Mutanten. »Töte sie.«

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