Lügenmärchen

Von MarinaPaunovic

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Zwei Schwestern. Ein Mann. Viele Lügen. Eine Wahrheit. »Ich stelle mich vor den Spiegel und ziehe mich aus. S... Mehr

Prolog - Es war einmal ...
KAPITEL 1 - Lass dein Haar herunter
KAPITEL 2 - Tischlein deck dich
KAPITEL 4 - Goldmarie und Pechmarie

KAPITEL 3 - Spieglein, Spieglein an der Wand

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Von MarinaPaunovic

»Wow, so pünktlich warst du ja noch nie.« Brigitte lehnt sich in ihrem Bürostuhl zurück und verschränkt die Arme.

»Ich hatte keine Lust zu lernen, da dachte ich, ich komme etwas früher.« Ich lasse meine Tasche auf den Boden gleiten und setze mich meiner Chefin gegenüber. Dass ihr Stuhl deutlich höher ist, ist sicher kein Zufall. Schon wieder fühle ich mich klein, so wie heute Morgen. Brigitte mag es, auf ihre Mitarbeiter herabzusehen. Was aber nicht heißen soll, dass sie uns nicht gut behandelt, auch wenn Don das gerne behauptet.

»Ich habe Diel's Delicious Dishes heute unsere Ergebnisse präsentiert und den Geschäftsführern deinen Bericht freigegeben.« Brigitte schlägt elegant ihre Beine übereinander und fährt sich durch die schulterlangen, glatten Haare, die sie immer etwas streng wirken lassen. »Sie waren sehr zufrieden, meinten, dass der Bericht wirklich sehr aufschlussreich war, und möchten direkt einige unserer Verbesserungsvorschläge umsetzen.«

Ich nicke lächelnd und hoffe, dass sie ebenso wenig Lust hat, über gestern zu sprechen wie ich. Für einen kurzen Moment sieht es so aus, als läge ihr irgendetwas auf der Zunge. Etwas, das einen vergiftet, wenn man es nicht sofort ausspricht. Sie sieht mich an, als wäre ich ein ungezogenes Mädchen. Als wolle sie mich in eine Ecke schicken, in der ich über meine Fehler nachdenken soll. Meine Handflächen beginnen zu schwitzen.

Geht es um gestern? Glaubt sie mir nicht?

Doch dann wendet sie sich ab und widmet sich wieder ihrem Laptop. Ich atme langsam aus.

»Kommen wir zu deinem heutigen Auftrag«, fährt sie fort und sucht dabei irgendeine Datei. »Du testest die Bar in vino veritas. Deine Persona heißt Susanna, du bist das nette Mädchen von nebenan, neu in der Stadt und noch total überfordert von den vielen Eindrücken. Außerdem triffst du nur sehr schwer Entscheidungen, weshalb du auf Bestätigung und Unterstützung angewiesen bist. Du liebst Wein, aber die große Auswahl an Cocktails in der Bar überfordert dich total. Deshalb hoffst du auf eine gute Gesprächsführung der Mitarbeiter und klare Empfehlungen. Bitte agiere absolut briefing-konform, keine Alleingänge. Klar soweit?« Sie spitzt die Lippen.

»Klar soweit.«

»Gut. Das genaue Briefing schicke ich dir gleich noch durch. Eines vorweg: Das Besitzerehepaar Nowak hat schon länger den Verdacht, dass einer der vier Mitarbeiter immer wieder Geld einsteckt. Sie haben Angst vor einem Steuerbetrugsverfahren. Da sie aber ein gutes Verhältnis zu ihren Angestellten haben, möchten sie niemanden beschuldigen. Anscheinend arbeiten die alle schon etwas länger dort und sind ja sooo nett.« Sie verdreht genervt die Augen. »Wenn du mich fragst, sind die beiden einfach nur naiv. Die sollten ihre Angestellten bei so einem Verdacht einfach viel besser überwachen. Aber na ja, so springt für uns wenigstens noch ein Bonus dabei raus, solltest du den Dieb entlarven. Achte also bitte darauf, ob du irgendetwas Auffälliges siehst. Du kannst dich schon mal umziehen, dein Outfit hängt bereits im Ankleidezimmer. Ach, und Luna ... «

Ich bleibe stehen und drehe mich wieder zu ihr um.

»Keine Flirts, weder mit den Angestellten noch mit anderen Gästen. Du bist dort zum Arbeiten und nicht zum Vergnügen!«

»Geht klar, Girlboss.« Ich zwinkere ihr zu. Sie kann ein Grinsen nicht unterdrücken, wie immer, wenn ich sie so nenne.

»Gut. Sonst geht in Zukunft nur noch jeder dritte Auftrag an dich und alle anderen an Jürgen.« Sie setzt ihre Lesebrille auf. »Und ich glaube, das kannst du dir im Moment echt nicht leisten.«

Ich presse meine Lippen aufeinander, nicke und verlasse dann das Büro. Auf dem Weg zum Ankleidezimmer öffne ich Brigittes Briefing auf meinem Handy. Dann schließe ich die Tür hinter mir und sperre ab.

Dieser Moment trägt immer einen besonderen Zauber in sich und schmeckt jedes Mal ein bisschen anders. Ich liebe es, meine eigene Haut für ein paar Stunden abzustreifen und eine neue Identität anzunehmen. Oder viel eher einen der vielen Menschen, die in mir wohnen, an die Oberfläche kommen zu lassen. Wie langweilig es doch wäre, nur eine Person zu sein.

Auf der Kleiderstange finde ich eine hellblaue Jeans und einen schwarz-weiß gestreiften Pullover. Daneben liegt eine Perücke mit langen, glatten Haaren in Straßenköterblond und eine Brille mit dünnem Rand. Seufzend betrachte ich die beigen Chucks, die am Boden liegen. Überhaupt wirkt das gesamte Outfit ziemlich brav. Vermutlich hat Brigitte ein schlechtes Gewissen, weil ich gestern trotz der Kälte so freizügig unterwegs war. Vielleicht gibt sie sich die Schuld an dem Vorkommnis und spricht es deshalb nicht mehr an.

Soll mir recht sein.

Ich stelle mich vor den Spiegel und ziehe mich aus. Streife nicht nur meine Klamotten ab, sondern auch meine Persönlichkeit. Ich schäle mich aus ihr heraus wie eine Schlange aus ihrer Haut. Vollkommen nackt und unbefleckt stehe ich vor meinem Spiegelbild. Betrachte mich. Meine Wahrnehmung verschwimmt. Ich gebe mich auf. Weiß nicht mehr, was mich ausmacht. Wer ich gerade bin. Mein Ich verblasst so lange, bis ich nicht mehr existiere.

Dann nehme ich die Klamotten von der Kleiderstange und ziehe sie an. Mit jedem Kleidungsstück wird meine Persönlichkeit wieder klarer, die verschwommenen Grenzen lösen sich langsam auf. Die Verwandlung hat begonnen. Luna ist verschwunden und Susanna fängt an, nach und nach die Kontrolle über meinen Körper zu übernehmen.

Hallo Susanna.

Ich fühle mich wohl in deiner Haut.

Du fühlst dich gut an.

Unschuldig, nett, immer gut gelaunt und ein bisschen naiv. The girl next door.

Ich lege mir eine Halskette mit Herzchenanhänger um und bürste mir durch mein neues Haar. Dann nehme ich meinen Ring ab und stecke ihn in meine Hosentasche. Auf der Kommode neben der Kleiderstange liegt meine heutige Handtasche bereit. Ich werfe einen Blick in den Geldbeutel. Vierzig Euro stehen mir für den Abend zur Verfügung.

Gott, ich liebe meinen Job.

Zwei Stunden später betritt Susanna die vollkommen überfüllte Bar. Mit einem flauen Gefühl im Magen, das zu einem Teil aus der Angst vor dem Unbekannten, zum anderen Teil aus der Aufregung des Unbekannten besteht, sieht sie sich im Raum um. Da Donnerstag ist, tummeln sich hier hauptsächlich Studenten, die in kleinen Grüppchen zusammenstehen und sich schreiend unterhalten. Der Raum ist nicht besonders groß. Auf der rechten Seite gibt es eine kleine Bar, hinter der vier Personen stehen und die Gäste mit Drinks versorgen. Vor der Theke befinden sich fünf rosafarbene Barhocker, von denen vier besetzt sind. In der Mitte des Raumes gibt es eine kleine Tanzfläche und daneben ein paar Sitzecken mit dunkelgrünen Ledersofas und runden Tischen. An den braunen Wänden hängen verschiedene gerahmte Bilder und von der Decke baumeln mehrere kugelförmige Lampen.

Eigentlich ziemlich gemütlich hier. Sieht aus wie eine Mischung aus einem englischen Pub und einem liebevoll eingerichteten Wohnzimmer. Trotzdem kommt Susanna sich etwas verloren vor. Luna ist es gewohnt, allein in Bars zu gehen, aber für Susanna ist es das erste Mal.

Was sich die Leute nur denken, wenn sie bemerken, dass ich ganz allein hier bin? Das kommt doch irgendwie armselig rüber.

»Sorry!« Der Typ, der mich gerade von hinten angerempelt hat, hebt beschwichtigend die Hände. »Ich habe dich nicht gesehen.« Er mustert mich kurz eindringlich, setzt dann ein charmantes Lächeln auf und sagt: »Verstehe gar nicht, wie mir das passieren konnte.«

Ich erwidere sein Lächeln und will gerade auf den Flirt eingehen, als sich eine Stimme in meinem Hinterkopf meldet, die mich an Brigittes Worte erinnert.

Reiß dich zusammen, Luna. Du willst diesen Job doch behalten. Außerdem ist Susanna nicht der Typ, der auf so etwas eingehen würde.

Ich gebe ihm nichts weiter zurück als mein Lächeln und schiebe mich dann weiter in Richtung Bar. Die riesig lange Cocktailliste, die mit weißer Kreide an eine Tafel hinter der Theke geschrieben wurde, überfordert mich tatsächlich.

»Kann ich dir helfen?«, meldet sich einer der Barkeeper, als er bemerkt, wie ich konzentriert die Augen zusammenkneife.

It's showtime!

»Ja, das wäre wirklich sehr nett«, sage ich, ohne meinen Blick von der Liste zu nehmen. »Könntest du mir einen Drink empfehlen? Ich kann mich bei der Auswahl einfach nicht entscheiden.«

Als ich mich endlich zu dem Barkeeper umdrehe, muss ich mit Bedauern feststellen, dass er unglaublich attraktiv ist. Dunkle Haare, dunkle Augen und definierte Armmuskeln – genau mein Typ.

»Selbstverständlich!« Er zwinkert mir zu und tritt näher an den Tresen, damit ich ihn mit all dem Lärm um uns herum besser verstehen kann. »Das geht den meisten Leuten so, wenn sie das erste Mal hier sind. Schließlich sind unsere Cocktails Eigenkreationen, da kann man sich unter ihren Namen natürlich erst mal nichts vorstellen.«

»Puh, und ich dachte schon, dass diese Cocktailnamen in Berlin zum Allgemeinwissen gehören und ich mich gleich total blamiere, weil ich keinen einzigen davon kenne.«

Der Barkeeper lacht, was seine Grübchen noch stärker hervorhebt. »Du bist nicht aus Berlin?«, fragt er, während er anfängt, verschiedene Flüssigkeiten in einen Shaker zu schütten.

»Nein, ich bin erst vor zwei Wochen hergezogen.«

»Na dann: herzlich willkommen in der besten Stadt der Welt.« Er schüttelt den Shaker, seiht den Inhalt in ein Weinglas mit einem bauchartigen Kelch ab und reicht es mir über den Tresen. »Geht aufs Haus.«

»Was ist das?«, frage ich und betrachte die schimmernde Flüssigkeit, in der zwei Rosenblätter schwimmen.

»Ein Cocktail mit einem rubinroten Wein als Basis. Er überrascht mit einem würzigen Aroma, ist wuchtig, aber nicht zu schwer, ist warm am Gaumen mit einer erfrischenden Säure und besonders vielschichtig.« Belustigt zwinkert er mir zu, was mein Herz leider sofort schneller schlagen lässt. »Probier!«

Meine Güte, wenn ein paar Grübchen und ein schönes Lächeln ausreichen, um dich so aus dem Konzept zu bringen, dann hast du wirklich ein Problem, Susanna!

Schüchtern versenke ich mein Gesicht in dem Glas und nehme einen großen Schluck. Und es schmeckt ... wirklich gar nicht mal so übel. Tatsächlich sogar ziemlich phänomenal! Würzig, aber nicht zu süß. Intensiv, aber nicht zu stark. Und das leichte Prickeln auf der Zunge sorgt dafür, dass ich mich sofort viel entspannter fühle.

»Und?« Der Barkeeper beobachtet mich verschmitzt von der Seite. »Genau dein Ding, oder?«

»Woher wusstest du, was mir schmeckt?«, frage ich ihn und bemühe mich um ein naives Lächeln.

»Tja, jeder hat andere Talente. Das hier ist meines.« Er zuckt mit den Schultern und deutet dann auf die Tafel an der Wand. »Der Cocktail heißt Rouge, falls du ihn dir später noch mal bestellen möchtest.«

»Und was genau ist da jetzt drinnen?«, frage ich ihn, schließlich bin ich hier, um die Kompetenz der Mitarbeiter zu testen.

»Das ist geheim. Wir verraten unsere Rezepte nicht. Das Besondere an unseren Cocktails ist, dass in jedem Wein enthalten ist, daher auch der Name der Bar.« Er drückt mir einen Flyer in die Hand, auf dem wohl all das steht, was er mir gerade erklärt hat.

»Ich mag eigentlich keinen Wein«, sage ich, ohne nachzudenken, und verziehe mein Gesicht. »Ich bin eher Team Bier.«

Moment. Das war nicht Susanna, die da gerade gesprochen hat. Verdammt, was passiert hier gerade?

»Das soll wohl ein schlechter Scherz sein?« Er fasst sich dramatisch an sein Herz und sieht mich mit schmerzverzerrtem Gesicht an. »Bier ist Menschenwerk, Wein aber ist von Gott!«, rezitiert er leidenschaftlich und streckt dabei seine Hände zum Himmel. Ich ziehe eine Augenbraue nach oben und sehe ihn fragend an. »Martin Luther«, erklärt er und grinst.

»Ich bevorzuge da lieber andere Mönche. Zum Beispiel die Augustiner. Die wussten schon damals, wie man gutes Bier braut.«

Er lacht und schüttelt den Kopf. »Dir ist nicht zu helfen.«

»Das stimmt wohl.« Wir lächeln uns an und für einen Moment habe ich das Gefühl, als würden die Leute um uns herum plötzlich verstummen. Als wäre es mit einem Mal so leise im Raum, dass er mit Sicherheit das Klopfen meines Herzens hören kann.

Doch dann ist der Moment vorbei, die Stimmen der anderen Gäste kommen in mein Bewusstsein zurück und ich verwandle mich wieder in Susanna. Verlegen räuspere ich mich, senke meinen Blick und rücke die Brille auf meiner Nase zurecht.

»Du bist also neu in der Stadt«, sagt er und erinnert mich damit daran, dass ich hier noch eine Mission zu erfüllen habe. Ich nicke und beobachte gleichzeitig, wie der zweite Barkeeper in Rekordzeit einen Cocktail mixt und einem Typen mit Baseball Cap überreicht. Außer den beiden Jungs gibt es noch zwei Mädchen, die hinter der Bar stehen. Alle tragen die gleiche schwarze Uniform, scheinen sehr nett mit den Gästen umzugehen und viele davon auch schon gut zu kennen. Ich kann mir kaum vorstellen, dass jemand von ihnen ein Dieb ist. Aber welchem Dieb sieht man es schon an?

Der andere Barkeeper kassiert den Typ mit der Baseballmütze ab, steckt das Geld in die Kasse und wirft das Trinkgeld in einen Becher daneben. Sieht alles ziemlich korrekt aus, auch wenn oftmals keine Belege rausgegeben werden. Es gibt nur eine einzige offene Kasse, welche von allen Mitarbeitern genutzt wird. Sobald einer der Barkeeper mit seiner Bestellung durch ist, nimmt er die nächste an: Bestellung, Cocktail shaken, abkassieren. Jeder arbeitet seine Aufträge selbstständig ab. Und es ist viel los, die Mitarbeiter haben wirklich alle Hände voll zu tun. Alle, bis auf einen.

»Was hältst du von einer kleinen Stadttour?«

»Was?« Ich unterbreche meine Observation und schaue ihm wieder in die Augen.

»Na ja, du wirst vermutlich noch nicht so viele Leute kennen, wenn du erst seit zwei Wochen hier bist. Ich wäre so freundlich, mich als City-Guide zur Verfügung zu stellen. Denn zufälligerweise wohne ich schon mein ganzes Leben in Berlin und kann dir deshalb auch Orte zeigen, die du in keinem Stadtführer finden wirst.«

Shit.

»Das ist wirklich sehr nett, aber das musst du echt nicht tun.«

Er sieht mich etwas enttäuscht an, aber lässt mich nicht aus den Augen. »Na gut. Dann keine Stadttour. Wie wäre es stattdessen mit einem Date? Oder hast du einen Freund?«

Ernsthaft?

»Ähhm ... nein«, stammle ich und nehme noch einen Schluck von meinem Cocktail, damit ich ihn nicht mehr ansehen muss. Hat Susanna einen Freund? Ich kann mich nicht mehr an das Briefing erinnern, weil mein Gehirn anscheinend gerade ernsthafte Konzentrationsprobleme hat.

»Ist das jetzt auf meine erste oder auf meine zweite Frage bezogen?«

»Auf beide.«

Kurzschlussreaktion.

Er grinst. »Gut.«

Gut?

»Darf ich dann wenigstens deinen Namen wissen?«

Also, ganz ehrlich, ich mache das hier doch nicht mit Absicht. Brigitte kann mir absolut nichts vorwerfen!

»Susanna«, sage ich und der Name fühlt sich irgendwie gut auf meiner Zunge an. Ich mag Susanna. Ich mag ihre Naivität.

»Hör auf zu flirten, Enzo, und mach verdammt noch mal deinen Job. Du siehst doch, dass wir hier schwimmen!« Eines der Barkeeper-Mädels stupst ihn mit ihrem Ellbogen in die Seite, während sie einen Shaker schüttelt. Enzo verdreht die Augen und grinst mich an. »Das ist Meggie. Sie ist bloß eifersüchtig.«

»Das hab ich gehört!«, ruft das Mädchen und schleudert dabei einen Eiswürfel gegen Enzos Kopf. Er verdreht die Augen, löst sich dann aber von der Theke und macht sich wieder an die Arbeit.

»Viel Spaß hier, Susanna«, raunt er mir noch augenzwinkernd zu. »Falls du es dir doch noch anders überlegst, weißt du ja, wo du mich findest.« Dann knufft er Meggie in die Seite. Sie erschrickt und haut ihm spielerisch ein Geschirrtuch um die Ohren.

Was für eine billige Masche.

Ich trinke meinen Wein-Cocktail aus und beschließe, mir noch einen zu bestellen. Immerhin habe ich vierzig Euro, die ich ausgeben darf. Da die Namen an der Wand sowieso nichtssagend sind, bestelle ich bei Meggie einfach einen Lombradardo. »Gute Wahl«, sagt sie und lächelt mich an, aber ich habe das Gefühl, dass ihre Freundlichkeit nur aufgesetzt ist.

Als sie mir den Drink überreicht, hole ich mein Handy aus der Tasche, um ein Foto von dem Glas zu machen. Dann tue ich so, als würde ich jemandem eine Nachricht schreiben, mache aber heimlich Bilder von der Theke und dem Arbeitsbereich. Die Fotos, auf denen die Gesichter der Mitarbeiter zu erkennen sind, lösche ich sofort wieder.

Datenschutz und so.

Wie unbefangen sich die Menschen doch verhalten, wenn sie nicht wissen, dass sie beobachtet werden. Sobald sie das Gefühl haben, jemand könnte ihr Verhalten analysieren oder bewerten, verwandeln sie sich im Nu in eine Version ihrer selbst, von der sie denken, dass sie anderen besser gefallen könnte.

Gibt es überhaupt einen Menschen, der wirklich aufrichtig ehrlich ist? Der auch hundertprozentig zu sich und seinen Charakterschwächen steht? Ich glaube nicht.

Also muss ich mir auch keine Vorwürfe machen. Immerhin verstelle ich mich nicht, ich werde nur zwischendurch zu jemand anderem. Man könnte sagen, dass ich nicht täusche, sondern mit der Wahrheit verhandle. Gedankenverloren nippe ich an meinem Drink und verziehe sofort das Gesicht.

Was zum Henker ist das denn?

Der Cocktail läuft mir süß und klebrig den Rachen hinunter und ich muss mich dazu zwingen, ihn nicht sofort wieder hochzuwürgen. Ist das Kiwi? Ich hasse Kiwi!

»Du solltest hier lieber nichts ohne meine Empfehlung bestellen.« Ich fahre herum und sehe Enzo, der mit einem zufriedenen Grinsen und verschränkten Armen hinter der Theke steht. »Lombradardo, oder? Klar, dass der dir nicht schmeckt. Viel zu süß für dich.«

Ich ziehe eine Augenbraue in die Höhe. »Was soll das denn heißen?«

Er lacht und zuckt mit den Schultern. »Du stehst nicht auf Zuckersüßes. Du brauchst etwas Prickelndes, eine unerwartete Zutat, etwas, das dich überrascht, dir aber irgendwie auch vertraut vorkommt.«

»Du kennst mich doch überhaupt nicht«, sage ich und bin mir nicht mehr sicher, ob er noch über Cocktails spricht. Außerdem passt seine Beschreibung so gar nicht zu Susanna.

»Nein.« Er dreht sich bereits zum nächsten Gast um. »Aber im Wein steckt die Wahrheit.«

Enzo hebt noch verschwörerisch die Augenbraue und fragt dann das Mädchen neben mir nach seiner Bestellung.

Ich weiß nicht recht, was ich von ihm halten soll.

Aber ich sollte auch nicht über seinen Charakter oder seine schönen Augen nachdenken, sondern darüber, was für einen Job er macht. Verstohlen beobachte ich ihn dabei, wie er routiniert den Drink für das Mädchen mixt. Seine Hände bewegen sich wie von selbst. Es gefällt mir, ihm dabei zuzusehen. Enzo gibt ein paar Eiswürfel in den Shaker und schüttet dann drei verschiedene Flüssigkeiten und eine Art Sirup hinzu. Dabei misst er jede Flüssigkeit haargenau ab.

Was sich in den unterschiedlichen Glasflaschen befindet, kann man nicht erkennen, da keine von ihnen mit einem Label beklebt ist. Sie unterscheiden sich lediglich in ihrer Form und in der Farbe der enthaltenen Flüssigkeit. Die Rezepte sind also tatsächlich streng geheim.

Gar keine üble Marketingidee.

Enzo schüttelt den Shaker und seiht den Inhalt in einen Tumbler ab. Dann überreicht er ihn dem Mädchen, nimmt ihr Geld entgegen, wechselt ein paar Worte mit ihr, lacht und zwinkert ihr dann kurz zu.

Er flirtet mit ihr.

Genauso, wie er es bei mir getan hat.

Sicher bekommt er eine Menge Trinkgeld mit der Nummer. Doch das ist wohl kaum etwas, was ich ihm in meinem Bericht vorwerfen könnte. Ich glaube nicht, dass die Barbesitzer etwas dagegen haben, wenn ihr Personal ein wenig mit der Kundschaft flirtet und diese dadurch großzügiger wird.

Enzo bedient mittlerweile schon den nächsten Gast, einen großen, breiten Typen mit Surfer-Frisur. Es fasziniert mich, wie leicht er mit den Leuten ins Gespräch kommt. Als wäre es das Natürlichste der Welt. Der Surfer-Typ gestikuliert wild und Enzo wirft den Kopf in den Nacken und fängt an, laut zu lachen. Dann beugt er sich näher an den Typ und es sieht so aus, als würde er seine Stimme senken, um ihm etwas anzuvertrauen. Der Surfer-Typ hört gespannt zu und plötzlich bricht auch er in schallendes Gelächter aus.

So wie die beiden miteinander umgehen, haben sie sich sicher nicht gerade zum ersten Mal gesehen. Bestimmt ist er öfter hier. Ich wette, dass der Laden viele Stammgäste hat.

»Und? Schmeckt dir der Lombradardo?« Meggie sieht mich an, während sie die Theke abwischt. »Das ist mein Lieblingscocktail.«

»Er ist super«, sage ich und nehme demonstrativ einen großen Schluck.

Pfui Teufel!

Meggie nickt mir zufrieden zu und geht dann nach hinten ins Lager. Kaum ist sie aus meinem Sichtfeld verschwunden, spucke ich den Rest der Flüssigkeit wieder ins Glas zurück.

Ekelhaft.

Wie kann man denn bitte auf die Idee kommen, Kiwisirup in einen Cocktail zu mischen?! Und was sagt das über Meggie aus, wenn das ihr Lieblingscocktail ist? Doch auch das kann ich ihr in meinem Bericht nicht vorwerfen und so, wie sie sich den Gästen gegenüber verhält, hat sie bis jetzt nur Pluspunkte auf dem Fragebogen gesammelt.

Ich richte meine Aufmerksamkeit auf die andere Barkeeperin. Sie hat lange schwarze Haare, blasse Haut und sieht irgendwie ein bisschen aus wie Schneewittchen. Gerade wischt sie sich ihre Hände an der Schürze ab, zieht sie aus und verlässt dann den Barbereich durch die Schwingtür in Richtung Toiletten. Ich stehe auf, nehme mein Glas und folge ihr durch das Gedrängel. Erleichtert kippe ich den Drink ins Waschbecken und hole dann meinen Lippenstift aus der Handtasche, um die Farbe wieder etwas aufzufrischen. Susanna trägt ein mattes Rosa.

Unauffällig, unschuldig, verspielt.

Ich streiche meinen Pullover glatt und lächle Susanna im Spiegel an.

»Schöne Farbe.« Plötzlich taucht ein Gesicht neben meinem auf. Das von Schneewittchen.

»Was?« Unsere Blicke treffen sich im Spiegel.

»Dein Lippenstift«, sagt sie und tritt ebenfalls an das Waschbecken. Ein leichter osteuropäischer Akzent klingt in ihren Worten mit und verleiht ihrer Stimme etwas Sinnliches.

»Ach so, äh ... danke. Deiner ist auch sehr schön.«

Lippen so rot wie Blut.

Haut so weiß wie Schnee.

Haare so schwarz wie Ebenholz.

Schneewittchen wäscht sich die Hände, nickt mir kurz zu und verlässt dann den Raum. Ich schaue Susanna erneut ins Gesicht. »Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?«, murmle ich vor mich hin und muss dann lachen. Ich glaube, der Lombradardo ist mir schon zu Kopfe gestiegen.

Auch von dem Toilettenraum mache ich Fotos mit meinem Handy. Alles sieht sauber aus. Mist – Brigitte ist nie begeistert, wenn es nichts zu beanstanden gibt. Natürlich freut es die Kunden, wenn wir ihnen mitteilen, dass alle einen guten Job machen. Aber als Unternehmensberatung sollten wir eben auch konkrete Verbesserungsvorschläge liefern. Da brauchen wir halt irgendwas, das optimiert werden muss. Und wenn ich hier zusätzlich dem Dieb auf die Schliche komme, gibt das auf jeden Fall Pluspunkte bei Brigitte. Vielleicht sogar eine Bonuszahlung. Und ehrlich gesagt könnte ich beides gerade wirklich gut gebrauchen.

Ich werfe noch mal einen prüfenden Blick auf meinen Lippenstift, schnappe mein leeres Glas und gehe zurück an die Bar. Der Stuhl, auf dem ich vorher saß, ist immer noch frei und da ich nicht weiß, was ich sonst tun soll, setze ich mich wieder drauf. Immerhin muss ich das Personal im Auge behalten. Ich finde, bis jetzt habe ich einen guten Job gemacht. Drei Mitarbeiter habe ich schon gecheckt. Fehlt nur doch der Typ mit den blonden Haaren und den verträumten blauen Augen, durch die er irgendwie ein bisschen abwesend wirkt.

Ich versuche, Blickkontakt mit ihm herzustellen, während er mir gegenüber gerade die Eiswürfel auffüllt. Es dauert nur etwa fünf Sekunden, bis er mich ansieht. Seine eisblauen Augen blicken direkt in meine und plötzlich beginne ich am ganzen Körper zu frösteln.

Wieso merken Menschen eigentlich immer sofort, dass man sie ansieht? Als würde ein Blick tatsächlich berühren. Da bekommt die Aussage »mit einem Blick streifen« gleich eine ganz neue Bedeutung.

Er lächelt, ich lächle zurück und zeige auf mein leeres Glas. Er versteht sofort und kommt zu mir herüber. Ich muss schon sagen, der Service hier ist wirklich ausgezeichnet.

»Weißt du schon, was du möchtest, oder brauchst du ein wenig Hilfe?« Jetzt, wo er direkt vor mir steht, habe ich das Gefühl, als würde ihn eine dünne Eisschicht umgeben. Seine Augen sind so eisblau, dass sie fast unnatürlich aussehen. Ich rechne jeden Moment damit, dass er weißen Rauch ausatmet.

»Ich brauche eindeutig Hilfe«, sage ich und zeige ihm mein unschuldiges Lächeln. »Der letzte Drink ging nämlich total daneben.«

Er lacht. »Du bist zum ersten Mal hier, stimmt's?«

»Ist das so offensichtlich?«

»Na ja, ich habe dich noch nie in der Bar gesehen und ich arbeite fast jeden Tag hier.« Er stützt sich mit den Händen an der Theke ab und mustert mich. »Außerdem kann ich mir Gesichter ziemlich gut merken.«

»Beeindruckend.« Ich bin froh, dass ich tatsächlich das erste Mal hier bin.

»Also, möchtest du eher etwas Süßes, Fruchtiges oder Saures?« Er richtet sich wieder auf und versperrt mir dabei den Blick auf die Karte hinter ihm. Ich ziehe mir den Pulli über meine kalten Finger.

»Ich dachte, das wüsstest du bereits?«

»Nein, nein, diese Gabe hat nur Enzo. Ich weiß auch nicht, wie er das immer macht. Der Rest von uns braucht erst ein paar Informationen, bevor wir den richtigen Cocktail empfehlen können. Wir haben da alle unsere eigene Technik. Aber keine Sorge, jeder von uns findet für jede Person den perfekten Drink.«

»Süß«, sagt Susanna mit zuckersüßer Stimme.

»Bist du eher der Hunde- oder der Katzentyp?«

»Was?«

»Beantworte einfach die Frage.«

»Ähhh, Katzen.«

»Horror- oder Liebesfilme?«

»Liebesfilme.«

»Blumen oder Schokolade?«

»Blumen.«

»Berge oder Meer?«

»Ähhh, Meer.«

»Superman oder Batman?«

»Was hat das mit ...«

»Beantworte einfach die Frage.«

»Superman?«

»Sanft oder leidenschaftlich?«

»Also, das wird langsam ...«

»Sanft oder leidenschaftlich?«

»Sanft ...«

»Danke.« Er dreht sich um und zieht vier Glasflaschen aus dem Wandregal. Dann geht er damit zurück an die Theke und beginnt, einen Cocktail zu mixen.

Was war das denn bitte? Wollte er mich verarschen, oder macht er das mit jedem neuen Gast so?

»Hier, bitte sehr«, der namenlose Barkeeper stellt mir eine Martinischale vor die Nase und verschränkt die Arme vor der Brust. »Probier.«

Unsicher nehme ich einen Schluck, während er mich dabei beobachtet.

»Wirklich lecker«, sage ich, was er nur mit einem leichten Nicken quittiert. »Wie heißt der Cocktail?«

»The girl next door.«

Ach was.

»Ich wollte dir nur sagen, dass ich weiß, wer du wirklich bist. Und dass du besser bist als das hier«, flüstert er und das Eis in seinen Augen leuchtet dabei. Mir läuft ein Schauer über den Rücken.

»Wie bitte?«

»Das ist aus The girl next door.« Er zuckt mit den Schultern. »Hast du den Film nicht gesehen?«

»Ähh ... doch. Klar.« Ich fahre mit meinen Fingern über den Rand des Glases. »Guter Film. Gutes Zitat.«

Plötzlich spüre ich, wie etwas meine Wange streift. Ein Blick. Ich schaue zur Seite und sehe, wie Enzo in unsere Richtung schielt.

Als wären Blicke Berührungen ...

Ich wende mich wieder ab und krame in meiner Handtasche nach einem Geldschein, um ihn dem namenlosen Barkeeper in die Hand zu drücken.

»Stimmt so.«

Er zieht einen Mundwinkel leicht nach oben. »Danke. Ich muss jetzt wieder weitermachen. Viel Spaß noch.« Er will gerade in Richtung Kasse gehen, als mir klar wird, dass ich seinen Namen noch immer nicht kenne.

»Warte!« Er dreht sich wieder zu mir und sieht mich fragend an. »Darf ich wissen, wie du heißt?«

Seine Miene verändert sich und wird plötzlich hart und unnahbar. Er mustert mich und ich wüsste nur zu gerne, was ihm durch den Kopf geht. Denkt er etwa, dass ich ihn gerade anmache?

»Also, nur weil ... deine Kollegen haben sich auch alle bei mir vorgestellt. Deshalb dachte ich, dass ... ach egal.« Shit. Das war nicht gerade elegant.

Hat er etwas gemerkt? War das zu offensichtlich?

»Finn«, antwortet er, aber irgendwie habe ich immer noch das Gefühl, dass ihm die Situation unangenehm ist.

»Ich bin Susanna«, sage ich und mit jedem Mal glaube ich es mehr. Er nickt, zieht seine Mundwinkel wieder kurz nach oben und geht dann zur Kasse, um dort mein Getränk einzutippen und das Geld abzulegen. Sofort wird es wieder ein paar Grad wärmer.

»Nimm's ihm nicht übel.« Enzo sieht zu mir rüber, während er gerade eine Flüssigkeit in einen Messbecher gibt.

»Was?«, frage ich etwas verlegen, weil er anscheinend alles mitgehört hat.

»Dass er dir diesen Cocktail empfohlen hat, wo es doch offensichtlich ist, dass der ganz und gar nicht zu dir passt.«

Wie bitte?!

»Wie kommst du darauf?«

Er legt den Becher zur Seite und sieht mich an, als wäre das die dümmste Frage überhaupt. »The girl next door?« Er lacht. »Nie im Leben.«

»Er schmeckt mir.«

»Lüge.«

Ich erstarre. Meine Haut beginnt zu bröckeln. Susannas Haut beginnt zu bröckeln. Er sieht direkt durch sie hindurch.

»Schau nicht so geschockt«, sagt er und grinst dabei. »Ich habe dir gesagt, dass das eine Gabe ist. Und du bist einfach zu höflich, um Finn zu sagen, dass er es diesmal verbockt hat. Komm, ich mach dir einen Rouge.«

Er greift nach meinem Glas und will es von der Theke nehmen, doch ich halte es fest.

»Lass das«, zische ich. »Ich habe gesagt, dass es mir schmeckt.«

Irritiert weicht er zurück und hebt beschwichtigend die Hände. »Okay, wie du meinst«, sagt er, dreht sich um und lässt mich allein.

Ich greife nach meinem Cocktail und nehme einen großen Schluck.

Und ja, ich gebe es zu.

Er schmeckt furchtbar.

Noch schlimmer als der Lombradardo.

Aber was ich denke, ist nicht wichtig, denn er trifft eben genau Susannas Geschmack. 

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