Anmutig sprang sie von einem Ast und ließ sich zu Liam, Audra und mir herunter fallen. Augenblicklich spannte Liam sich an. Für seinen Geschmack war die Mutantin Audra zu nahe gekommen. Ohne zu zögern schickte er ihr eine Feuersalve entgegen, der sich im freien Fall kaum ausweichen konnte.
Augenblicklich fing ihre enge schwarze Hose Feuer. Doch sie handelte schnell, ließ sich auf dem Boden angekommen abrollen und brachte genug Abstand zwischen sich und uns. Sofort wälzte sie sich auf der Erde herum, um das Feuer zu ersticken. Es gelang ihr.
Dennoch war sie nicht unversehrt geblieben. Brandlöcher hatten sich in ihre Hose gefressen und die helle Haut darunter war gerötet. Aber sie ließ es sich kaum anmerken.
Trotzdem tat sie ihr Bestes, um den Schmerz zu ignorieren, sodass es beinahe wirkte, als wäre sie genauso schmerzresistent wie emotionslos. Ihre braun-gelben Augen funkelten uns entgegen.
Sie ging in den Sprint über und rauschte geradewegs auf uns zu. Da sie vielleicht ausweichen könnte, verzichtete ich dieses Mal auf meine Eissäulen und griff wieder auf die Vereisung des Waldbodens zurück. Rasch legte sich das Eis genau in Fünfundachtzigs Bahn. Wie der Bär zuvor verlor sie den Halt, rutschte aus. Auch sie hatte zu viel Schwung, als dass sie sich irgendwie helfen könnte. Und genau das würde ich ausnutzen. Mitten in ihrem Weg schoss eine eisige Wand aus dem Nichts empor. Mit voller Wucht knallte die Mutantin dagegen und wurde schmerzhaft zum Anhalten gezwungen.
Das Stöhnen konnte sie sich nicht verkneifen.
»Freya...«, seufzte Audra blinzelnd. Ihre Stimme klang schon wieder kräftiger und sie fokussierte die Eiswand mit ihren Augen an. »Bin ich froh, dass du nicht meine Feindin bist.« Ich lächelte leicht. Das war das erste Mal, dass Audra mich und meine Kräfte während eines Kampfes beobachtete. Zuvor hatte ich sie in ihrer Anwesenheit meist genutzt, um Eiswürfel herzustellen. Auf sie musste ich jetzt ganz fremd wirken. Sie nahm das erstaunlich gut auf.
»Und was ist mit mir?«, versuchte Liam Audra von dem blutigen Geschehen um sie herum abzulenken. Immerhin sollte sie nicht auch noch die Leiche des Bären sehen, wenn es sich vermeiden ließ.
»Dich möchte ich auch nicht zum Feind haben.«, sagte sie mit einem leisen Lächeln, obwohl ich bezweifelte, dass sie Liam gerade in Aktion gesehen hatte. Zuvor war sie noch ganz schön weggetreten gewesen.
Nun wankte Fünfundachtzig hinter der Eiswand hervor. Ströme von Blut liefen ihr aus der Nase und bereits jetzt konnte ich sagen, dass ihr Gesicht schon begann, anzuschwellen. Der Aufprall war doch ziemlich heftig gewesen. Doch das änderte nichts an ihrer Entschlossenheit.
Sie näherte sich uns. Jetzt war sie vorsichtiger, jederzeit bereit, auszuweichen. Und das musste sie auch. Unaufhörlich ließ ich Eisspeere aus dem Boden schießen, doch kein einziger von ihnen konnte sich in sie hinein bohren. Geschickt hüpfte sie hin uns her, ehe sie eine Lücke erwischte und hindurch stürzte. Plötzlich stand sie genau vor uns. Mit ausgestreckter Hand, wollte ich ihr Eis entgegen schießen, doch sie warf sich zu Seite, sprang wieder auf und war mit einem Mal Audra ziemlich nahe. Erschrocken schrie Audra auf, als sie die Mutantin bemerkte. Liam handelte.
Glühend heiße Feuersalven kamen ihr entgegen. Meinem Eis, das ich ihr gleichzeitig zu warf, wich sie ebenfalls aus. Mit vor Schreck geweiteten Augen starrte Audra Fünfundachtzig an. Sie versuchte, sich mit dem Baumstamm als Stütze, aufzurichten, doch sie scheiterte. Noch war ihre Kraft nicht zurückgekehrt und die vielen Schnitte mussten ihr ganz schön zusetzen.
»Liam, Freya ...«, murmelte sie. Panik schwang in ihrer Stimme mit.
»Keine Sorge.«, sagte ich und schaffte es, ihr ein beruhigendes Lächeln zu schenken, während ich Fünfundachtzig abwehrte, die in den Nahkampf übergegangen war und mit ihren spitzen Fingernägeln nach mir schlug.
»Wir lassen nicht zu, dass dir was geschieht.«, versprach Liam zuversichtlich. Beinahe beiläufig warf er der Mutantin Flammen entgegen. Diese schlitterte über den Boden außer Reichweite der Flammen und gelangte so auch hinter Liam. Dem war der Schreck anzusehen. Er reagierte mehr instinktiv, als bewusst. Mit dem Ellenbogen holte er aus und ließ ihn in das Gesicht des Mädchens donnern. Diese wurde von der Wucht schlagartig von den Beinen gefegt und schlug hart am Boden auf.
Sofort fixierte ich sie mit meinen Eisspeeren am Boden. Gequält stöhnte sie auf, als sich mein Eis durch ihre Handflächen bohrten und sie dort unten festnagelten. Audra wandte entsetzt ihren Blick ab.
Auf einmal schoss Zweihunderteins wie ein Raubvogel herbei und riss mein Eis aus der Erde und aus Fünfundachtzigs Händen. Erneut gab sie ein schmerzerfülltes Stöhnen von sich. Doch zu meiner Überraschung sprang sie sofort auf. Zweihunderteins hatte seine Pflicht, seiner Kameradin zu helfen, getan und widmete sich wieder Kieran.
Eines musste ich ihr lassen. Sie war zäh und unnachgiebig. Leider konnte ich nicht sagen, ob das ihrer Ausbildung und den fehlenden Emotionen geschuldet war, oder ob das schon vorher ein Teil von ihr gewesen war.
Blut tropfte aus den Löchern in ihren Händen und doch verzog sie das Gesicht nicht weiter vor Schmerz. Und auch die Hände bewegte sie nach wie vor. Als gäbe es den Schmerz gar nicht. Als wären ihre Hände noch ganz. Ich wusste nicht, ob mich das mehr faszinieren oder entsetzen sollte. Vermutlich eine Mischung aus beidem.
Liam dagegen wirkte komplett fassungslos. Ich konnte ihn schlucken sehen, als er zur nächsten Feuersalve ansetzte. Auch Fünfundachtzig machte sich bereit. Sie visierte Liam an und hechtete genau auf ihn zu. Augenblicklich flackerten heiß glühende Flammen auf, unter denen sie sich hinweg duckte. Gerade als ich zwischen ihr und Liam eine schützende Eiswand erschaffen wollte, änderte sie urplötzlich die Richtung.
Mit einem Mal stand sie statt vor Liam vor mir. Mir blieb noch nicht einmal genug Zeit, um überrascht zu sein, denn da brauste mir auch schon ihre Faust entgegen und versetzte mir einen knallharten Kinnhaken. Augenblicklich explodierte der Schmerz und stöhnend taumelte ich zurück. Auf die Verhärtung meiner Haut hatte ich mich gar nicht mehr konzentriert. Irgendwann im Laufe des Kampfes war sie mir abhanden gekommen.
»Freya!«, rief Liam besorgt und machte einen Schritt in meine Richtung, ehe er sich an Audra erinnerte, die seiner Hilfe mehr bedurfte als ich. Entschuldigend sah er mich an, doch mit einer kaum merklichen Handbewegung signalisierte ich ihm, dass alles gut war.
Während ich mich mit meinem schmerzenden Kinn beschäftigte, setzte sich Fünfundachtzig auch schon wieder in Bewegung. Ihre Faust flog auf Liam zu, der sie mit Hilfe seines Unterarmes ablenkte. Doch wie sie mit ihrem Bein ausholte, bemerkte er nicht.
Mit einem »Uff!« ging Liam in die Knie, hob dennoch die Hand, um sie mit seinem Feuer zu erwischen. Aber Fünfundachtzig war die ausgebildete Kämpferin. Nicht wir. Wir verließen uns zum Großteil auf unsere Fähigkeiten und auf unsere Stärke. Aber Fünfundachtzig war ebenfalls eine Mutantin. Auch sie verfügte über eine gewaltige Stärke, selbst wenn sie nicht mit Feuer oder Eis kämpfen konnte.
Blitzschnell schlug sie seine Hand beiseite, trat Liam mit ihrem Fuß gegen die Brust, weshalb er mit dem Oberkörper auf dem weichen Erdboden landete. Die Tränen des Schmerzes blinzelte ich verbissen weg. Ich musste mich wieder konzentrieren. Um Liam zu helfen, schickte ich der Mutantin Eis entgegen. Das brachte sie zumindest wieder auf Abstand. Aber schneller als erwartet, war sie wieder bei Liam und Audra. Mit zügigen Schritten wollte ich mich zu ihnen gesellen, als mich lange dünnen Finger von hinten packten und mit aller Kraft zurück rissen. Die Wucht, die dahinter steckte, ließ mich einige Meter zurück fliegen. Mein Kopf dröhnte, als ich mit ihm voran gegen einen Baumstamm donnerte. Dennoch kämpfte ich mich sofort wieder auf die Beine, schwankend.
In mein Sichtfeld schlich sich Schwärze. Verschwommen nahm ich wahr, wie Fünfundachtzig und Liam gegeneinander kämpften. Wie er versuchte, sie zurück zu drängen, fort von Audra.
Immer wieder versuchte er, sie mit Feuer auf Abstand zu halten, doch sie wurde immer hartnäckiger. Zwar duckte sie sich noch immer und wich aus, doch nie war sie weit fort. Mit erhobener und zitternder Hand schoss ich ihr ein Dutzend Eisnadeln entgegen, doch sie brauchte noch nicht einmal auszuweichen. Ich hatte sie um gut einen halben Meter verfehlt.
Leise fluchend stieß ich mich vom Baumstamm weg, wollte wieder näher heran kommen. Jeder Schritt fiel mir schwer und mein Kopf dröhnte nach wie vor schmerzlich.
Es benötigte all meine Konzentration, um meine Haut wieder zu verhärten und mich gleichzeitig auf Liam und Fünfundachtzig zu fokussieren. Unaufhörlich schickte ich ihr Eisnadeln entgegen. Irgendeine davon musste sie doch treffen. Egal, wo. Aber dem war nicht so. Meine Sicht war verzerrt. Dass ich noch immer schwankte, machte es nicht besser.
Plötzlich tauchte in meinem Sichtfeld ein großer, dunkler, lederner Flügel auf, der mich erneut fort stieß, ehe auch er zurück gerissen wurde. Gemeinsam mit dem Fledermausmutanten landete ich im Dreck. Grob wurde ich von einer Klaue vom Boden in die Höhe gehoben und schließlich wieder auf meine Füße gestellt. Dann stürzte sich auch schon Zweihunderteins wieder auf Kieran.
Halt suchend klammerte ich mich an einen Baum. Blinzelnd versuchte ich, die schwarzen Punkte aus meinem Sichtfeld zu vertreiben. Ich war weiter von Liam und Audra entfernt, als es mir lieb war. Alleine musste er sich gegen Fünfundachtzig beweisen. Mir entging nicht, dass er immer verzweifelter versuchte, sie zurück zu drängen.
Aber es brachte alles nichts. Immer und immer wieder setzte sie ihm nach. Mittlerweile hatte Liam sich in Feuer gehüllt, um zu verhindern, dass sie ihm zu nahe kam. Doch seine Hoffnung war vergebens. Fünfundachtzig fürchtete das Feuer nicht. Und im Laufe des Kampfes war sie immer weniger auf ihre eigene Sicherheit bedacht.
Mit feurigen Händen packte Liam die zierliche Mutantin und stieß sie gewaltsam zurück, doch anders als ich zuvor behielt sie die Kontrolle und landete auf ihren Füßen. Flink sprang sie in die Höhe und landete geschickt auf einem Ast. Liam, der wusste, dass er den Baum nicht in Brand stecken durfte, konnte nur zusehen. Mit einem kurzen Sprung ließ sie sich fallen und tauchte genau hinter ihm auf. Der war zu langsam. Gerade, als er zu ihr herum wirbelte, setzte auch sie sich in Bewegung. Erneut tauchte sie wie ein bedrohlicher Schatten hinter ihm auf. Ihre braun-gelben Augen blitzten tödlich auf.
Liam sah ihre spitzen Nägel nicht kommen. Mit einem Ausdruck der Überraschung auf dem Gesicht sank er auf die Knie. Unglaube zeichnete seine Miene.
Ich begriff nicht. Noch immer an den Baum geklammert starrte ich auf Liam, dessen Blick den meinen fand. Doch das Leuchten in seinen rubinroten Augen erlosch mit jeder vergehenden Sekunde. Seine Flammen erstickten.
»Liam?«, hauchte ich. Ob mein Herz raste oder zu schlagen aufhörte, wusste ich nicht. Die Welt war verschwunden. Ich sah allein Liam, meinen besten Freund, meinen Bruder. Liam, der immer für mich da gewesen war.
Er setzte an, etwas zu sagen, doch kein Laut kam über seine Lippen. Und dann sah ich es. Das Rot, das unaufhörlich und erbarmungslos aus seiner Kehle rann. Das Leben, das Feuer, das ihn verließ, als würde es von einem sinkenden Schiff fliehen.
Fest krallten sich meine Finger in die raue Baumrinde. Ich hatte nur Augen für meinen besten Freund. Doch unser Blickkontakt brach, als Liam nach vorne sackte und sein warmes Blut in den lockeren Erdboden sickerte.