Herzbruchversicherung

By FleurDeCel

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Als Emma eines Tages in der Schleuse ihres Arbeitgebers stecken bleibt und beinahe schon ein Testament ihrer... More

Vorwort & Widmung
1 - Schleusenprobleme
2 - Das WhatsApp-Testament
3 - Flug auf dem Einhorn
4 - Krankenhausfrass
5 - Tina und Nina
6 - Die Sensoren einer Mutter
7 - Versicherungs-ception
8 - Shots auf leeren Magen
9 - Das Schlafzimmer
10 - Katerfrühstück und Philosophiestunde
11 - Erster Tag im Vertrieb
12 - Blutwurst vs. Austern
13 - Die Einladung
14 - Karottenmassaker
15 - Fahrdienst
16 - Kochkurs
17 - Der Deal mit dem Schwein
18 - Mutter-Töchter-Abend
19 - The King's Chamber
21 - Ausgewechselt
22 - Muffins im Bademantel
23 - Wolke sieben
24 - Erste Verkaufserfolge
25 - Das rote Sommerkleid
26 - Teig kneten
27 - Zwei Wochen Verspätung
28 - Vorbereitungen
29 - Candlelight Dinner mit Hindernissen
30 - Flutsch
31 - Gasleck und Phobien
32 - Der Tiger im Badezimmer
33 - Kissenburgen bauen
34 - Erwachsenengespräch
35 - Besuch der roten Tante
36 - Blickduell
37 - Die 100er Kondompackung
38 - Beim Frauenarzt
39 - Die Hochzeitslocation
40 - Durch die Pforte der Verdammnis
41 - Bittere Wahrheit
42 - Die fünftägige Selbsttherapie
43 - Lorbeeren
44 - Unter Platanen
45 - Beschützerinstinkt
46 - Feiern wie ein Verkäufer
47 - Strassenschlacht
48 - Ausnüchterung
49 - Zwischen Daunen und Entscheidungen
50 - Langusten in Centuri
Nachwort & Leserkommentare

20 - La Bilirrubina

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By FleurDeCel

„Sag mal, hast du einen Besenstock verschluckt?", fragt mich Teo, als er seine Hand um meine Taille legt und mich mit sich zieht. Der Bachata Song dröhnt durch die Lautsprecher, während die wenigen Tanzenthusiasten hier im Raum dazu wackeln.

„Nein, aber ich habe Muskelkrämpfe", stöhne ich.

Wir haben gerade mal vor drei Minuten mit dem Tanzen angefangen und ich fühle schon jede Faser meines Körpers ächzen. Die Musik ist für meinen Geschmack viel zu laut. Den Takt höre ich auch nicht heraus, was bei dem Chaos an Instrumenten, die alle gleichzeitig spielen auch echt unmöglich ist. Teo führt mich, denn er wollte mir den Basis-Schritt beibringen, bevor er mich auf die anderen – oder besser gesagt auf seinen besten Freund – loslässt.

„Bachata ist wie Sex, Mamacita. Nur mit Kleidern. Bewege deine Hüfte so, als würdest du den heissesten Hengst auf Erden reiten", haucht mir Teo ins Ohr.

Ich muss trocken schlucken. Sein Griff um meine Taille verstärkt sich und ich spüre seine Lenden deutlich an meinen. Kein Blatt passt mehr zwischen uns.

„Woah, Teo. Zu heftig", murmle ich.

Sowas sagt man nicht, wenn man die Körper aneinander reibt, denke ich mir.

No, carajo. So tanzt man eben in der Dominikanischen Republik. Gewöhn dich besser daran, weil danach werfe ich dich Chris in die Arme und der hat einen Hüftschwung, da wird selbst mir schwindelig."

„Wirst du nicht!"

„Oh doch", droht er mir und zieht mich an einem eng aneinander tanzenden Pärchen vorbei.

„Teo, bitte nicht. Ich kann mich vor ihm nicht blamieren", flehe ich absichtlich dramatisch, um ihn die Ernsthaftigkeit darzulegen.

Wenn Chris merkt, wie steif ich tanze, werde ich nicht bei ihm punkten können. Der findet sicher – wie die Mehrheit der Männer dieser Welt – eine lasziv bauchtanzende Schlangenmensch-Frau attraktiv, aber nicht so ein ungelenkiger Pinguin wie mich.

„Wirst du nicht. Ihr zwei passt ganz gut zusammen, das sieht man von Weitem. Ihr strahlt euch an wie zwei Sonnenblumen im Hochsommer. Eure Hüften werden sich harmonisch miteinander bewegen, sowohl beim Tanzen, als auch im Bett."

Ich befreie meine Hand aus seinem Griff und boxe ihn in die Schulter.

„Teo!"

Er lacht, packt meine freie Hand wieder und dreht mich plötzlich um meine eigene Achse. Dabei wird mir schwindlig und ich muss mich reorientieren, aber da fühle ich schon seine Arme an meinem Körper. Dieser Kerl ist auch wirklich schnell.

Teo führt mich geschickt durch die tanzende Meute und so langsam gewöhne ich mich an den Rhythmus der karibischen Klänge. Die Musik bewegt sich in sanften Wogen durch den Raum und ich stelle mir vor, am Meer zu sein und barfuss im Sand zu stehen.

Ich schliesse die Augen und lasse mich von Teos sicheren Händen leiten. Drehe mich, wenn er es anzeigt, und folge der Bewegungen seines wiegenden Beckens.

„Genau so, Mamacita!", feuert mich Teo an, denn er muss die Verbesserung gespürt haben. Ich lerne eben schnell, wenn man mich nötigt.

Das Lied endet und ich rette mich aus Teos Fängen, indem ich auf eine Ecke zusteuere, um meine Füsse auszuruhen. Einen Song muss ich aussetzen, denn ich bin nicht mehr so sportlich wie früher. Während geschlagenen drei Minuten zu hüftschwingender Musik koordiniert zu wackeln ist verdammt anstrengend. Der Hocker, der dort in der Ecke steht, lächelt mich an. Ich muss mich setzen.

„Partnerwechsel!", ruft Teo.

Ich bleibe wie erstarrt stehen, denn an meinem linken Ellbogen spüre ich Fingerspitzen, die mich sanft antippen. Es ist Chris, der sich angeschlichen hat.

„Darf ich bitten?", höre ich seine tiefe Stimme.

Ein solch herzerwärmendes Lächeln strahlt mich an, als ich mich ihm zudrehe. Eine Strähne hängt ihm in die Stirn. Ich blicke auf die offene Handfläche, die er mir anbietet und zögere.

„Bist du dir wirklich sicher, dass du mit mir tanzen möchtest?", frage ich.

In seinen Augen blitzt ein Funke auf und er grinst.

„Zu hundert Prozent."

„Hast du mich vorhin mit Teo gesehen?"

„Ja, hab ich."

„Und hat dich das nicht abgeschreckt?"

„Nein. Im Gegenteil."

„Oh. Naja, ich dachte, wir könnten hier in der Ecke bisschen reden."

„Das können wir auch während wir tanzen. Das nächste Stück habe ich gewünscht. Es ist eines meiner Lieblingslieder. Und es ist Merengue. Da musst du noch weniger nachdenken, du musst dich einfach nur gehen lassen. Meinst du, du schaffst das?"

Ich blicke in seine braunen, warmen Augen und werde weich. Wie kann ich da nein sagen? Diesen Kaffeebohnen kann man auch wirklich keinen Wunsch verwehren!

Das Lied La Bilirrubina von Juan Luis Guerra setzt an und Chris nimmt meine Hand vorsichtig in seine. Er drängt mich nicht, wartet, bis ich mich entspanne und ihm folge. Ganz sachte bewegt er sich im wiegenden Merengueschritt hin und her und blickt mich dabei so eindringlich an, dass ich mir auf die Lippen beissen muss.

Chris bewegt sich mit einer atemberaubenden Hingabe zum Lied, seine Lider sind leicht gesenkt, während er der Musik horcht und seinen Körper im Rhythmus wiegt. Er zieht an meiner Hand und ich merke, wie ich ihm mit jedem Schritt näher komme.

Ich habe zwar noch nie Merengue getanzt, aber ich kenne die lateinamerikanischen Tänze. Die werden quasi aufeinander beziehungsweise aneinander getanzt. Das ist nicht wie der höfliche Walzer, nein, hier wird die Leidenschaft der Musik an den Körpern ausgetragen.

Kurz bevor der Refrain einsetzt, hat er es geschafft, mich ganz zu sich heranzuziehen. Sein rechter Arm ruht auf meinem Rücken und ich spüre, wie er auf meine Schulterblätter einen leichten Druck ausübt, um mich an sich zu drücken. Meine rechte Hand liegt sanft in seiner, während ich die andere auf seiner Schulter ausruhe. Meine Wange lehne ich an seine Brust, denn anderswo kann ich meinen Kopf nicht hinlegen.

"Me sube la bilirrubina. Cuando te miro y no me miras." Die einzigartige Stimme des Sängers hallt durch den Raum und etwas Magisches geschieht. Chris nimmt mir jegliche Unsicherheit, die ich bei Teo noch gespürt hatte.

In diesem Moment gibt es für mich gerade nichts Schöneres, als seine Körperhitze an mir zu spüren, seinen elanvollen Bewegungen zu folgen, mich von ihm führen zu lassen und ihm mein vollstes Vertrauen zu schenken. Mich an ihn lehnen zu dürfen und einfach die Augen schliessen zu können. Obwohl der Takt recht schnell ist, fühlt sich der Tanz nicht weniger sinnlich an. Im Gegenteil, es lässt mein Herz höher schlagen, meinen Atem schneller gehen.

Als wäre ein Tor aufgestossen worden, strömt alles in mein Herz. Es ist eine fast metaphysische Erfahrung. Es übersteigt das Fühlbare. Es ist, als würde die Musik meine Seele berühren, als hätten die Trommeln, das Akkordeon und die Stimme des Sängers die Passion in mir geweckt, die sich schlafen gelegt hatte. Ich fühle mich so erfüllt. Aus meinem Inneren breitet sich eine Wärme aus und ich kann mir nicht erklären, was es ist. Es transzendiert jegliche Erfahrung, die ich bisher mit Musik und Tänzen gemacht hatte.

Eine Flamme flackert in mir, schlägt mit dem fröhlichen, lebensbejahenden Rhythmus ihre Lohen höher in die Lüfte, will sich ausbreiten und mit dem Atemzug des Lebens weiter anwachsen.

Die Sehnsucht des Liedes wird an den Körpern der Tänzer sichtbar, die sich durch den Raum schwingen, sich um ihre eigene Achse drehen und sich mit innigen Blicken liebkosen, necken. Tanzen ist ein Flirt mit dem Körper.

Chris löst seine Arme von mir, nimmt meine Hände und dreht mich. Da Merengue so trivial ist, der Schritt in seiner Basis so einfach, muss ich keine Profitänzerin sein, um die Drehung zu schaffen, ohne aus dem Takt zu fallen. Als ich wieder frontal vor ihm stehe, schenkt er mir dieses Lächeln, das ich nur erwidern kann. Sein Lachen ist so schön, es wärmt mir mein Herz. Er scheint die Musik genauso zu fühlen wie ich. Aus dem Innersten seiner Seele.

Sanft zieht er mich wieder zu sich, als wäre diese kurze Trennung zu lange gewesen und als würden sich unsere Herzen danach sehnen, näher beieinander zu sein.

„Du hast Talent", haucht er in mein Ohr, was mir alle Haare auf der rechten Körperseite zu Berge stehen lässt.

Einseitige Gänsehaut ist wirklich etwas Merkwürdiges, aber mich erstaunt mittlerweile nichts mehr. Chris könnte es wahrscheinlich sogar schaffen, mich mit seinem Blick in Flammen aufgehen zu lassen.

„Das liegt an dir. Ich spiegle nur das, was du tust", antworte ich und hebe die Lider.

Mir ist gar nicht aufgefallen, dass Chris seinen Kopf leicht gesenkt hält, so wie es alle anderen Tanzpärchen auch tun. Eine Körperhaltung, die so intim aussieht, als stünden wir uns nahe. Als spürten wir Zuneigung füreinander. Sein Kinn streift meine Stirn und er lehnt den Kopf an meinen. Die Augen hat er geschlossen. Er fühlt das Lied. Er fühlt es mit mir.

„Oder Juan Luis Guerra hat dir den Hüftschwung entlockt, den du vorher beim Dartspielen schon zeigen wolltest", murmelt er und ich kann das Schmunzeln hören, das auf seinen Lippen hängen muss.

„Wovon singt er eigentlich?", frage ich, während Chris uns sanft durch den Raum bewegt und dem Rhythmus gehorcht. „Billi-was?"

„Bilirrubina", sagt Chris lachend und zieht den Kopf etwas zurück, sodass er mir in die Augen schauen kann. Unsere Blicke treffen aufeinander. Es fühlt sich so an, als würden unsere Welten verschmelzen.

„Er singt davon, wie es ihm das Blut übersäuert, weil sie seinen Blick nicht erwidert."

Das Dunkelbraun schimmert verführerisch. Ich sehe die Lebenslust in diesen Kaffeebohnen. Es ist ansteckend. Auf eine wirklich angenehme Art.

„Diese Latinos wieder", witzele ich. „Jedes ihrer Lieder handelt nur von der Liebe. Oder von Sex. Oder von weiblichen Körperteilen, die sich in irgendeiner Weise erotisch bewegen."

„Die wissen eben, was die Essenz des Lebens ist. Worüber es sich lohnt, ein Lied zu singen."

Genau als er das sagt, endet das Stück und die Pärchen lösen sich voneinander. Nur wir halten uns noch in den Armen, blicken uns an und vergessen für einen Moment, dass wir in einem Raum mit anderen Menschen stehen. Es gibt nur uns in dieser unendlichen Stille und unsere Herzen, die noch immer miteinander tanzen.

Nachdem wir mindestens vier weitere Lieder durchgetanzt haben, setzen wir uns auf die Chesterfieldsofas im Loungebereich. Teo hat nach dem Merengue keinen Partnertausch von seinen Tanzschülern mehr verlangt. Ich verüble es ihm auch nicht, denn nach dem ersten Tanz mit Chris konnte ich nicht genug von ihm kriegen.

Die Art, wie er mich in den Armen hielt, wie er mich geführt hat, die Hingabe, die er der Musik und den Bewegungen gegenüber gezeigt hatte, war für mich so faszinierend, so ansteckend, dass ich einfach mit ihm tanzen musste. Ich wollte die Musik mit ihm erleben. Dieser Mann lebt den Moment mit seinem ganzen Wesen, mit allen Sinnen und ich weiss, dass es genau das ist, was mich so fesselt.

Ich selbst habe immer das Gefühl, taub geworden zu sein. Sinnestaub. Ich fühle das Leben nicht mehr und es macht mich traurig. Chris hat mir die Pforte zur Sinnlichkeit wieder geöffnet. Er hat mir nur den Stoss gegeben und meine ganze Wahrnehmung wurde wieder zum Leben erweckt.

Etwas schwummerig lehne ich mich ans rote Leder des Sofas. Teo winkt uns von Weitem zu. Grinsend kommt er mit einem kleinen Tablett zu uns, auf welchem er zwei knallgelbe Getränke balanciert.

„Hier einen Passion Fruit Porn Star, nur für euch", sagt er und zwinkert mir dabei schelmisch zu.

„Gott, ist der immer so?", lache ich, als sich der Exot wieder hinter die Bar begibt, um anderen Gästen einen Drink zu mischen.

„Ständig", grinst Chris und reicht mir das Glas. „Prost"

Das Klirren unserer Gläser ertönt. Meine durstigen Lippen berühren den Rand des Getränkes. Ich muss zugeben, nicht nur Teos Tanzkünste sind exotisch, auch seine Drinks haben das gewisse karibische Flair. Der süsse Maracuja-Cocktail weckt meine müde gewordenen Geister und löscht den Durst.

„Woher hast du eigentlich so tanzen gelernt?", frage ich Chris und blicke ihn über den runden Tisch, der zwischen uns steht, an.

Mein verstecktes Kompliment löst tatsächlich eine leichte Röte auf seinen Wangen aus. Oder bilde ich mir das nur ein?

„In der Dominikanischen Republik", antwortet er mir und ich nicke.

„Genauso wie das Fische-massieren?", komme ich zur richtigen Schlussfolgerung. „Das hat dir alles Teo beigebracht?"

Chris nickt energisch.

„Teo hat mir das Leben wieder eingehaucht", sagt er. „Er und seine Familie. Weisst du, es gibt etwas, das man von den Latinos lernen kann. Ihre Lebenslust ist unvergleichlich. Die Menschen in Lateinamerika – viele davon zumindest – leben unter den unmenschlichsten Bedingungen, erleben Hunger, Brutalität, Gewalt und Geldnot auf täglicher Basis. Lebensumstände, bei denen jeder Schweizer sich sofort vor den Zug werfen würde. Entschuldige diesen Vergleich, aber das ist einfach so. Wir meckern hier auf hohem Niveau. Aber die Menschen, die ich in Lateinamerika kennenlernen durfte, die verlieren nie ihren Lebensmut. Und genau das – diesen Mut, dem Leben auf Augenhöhe begegnen zu wollen, egal wie anstrengend und kraftraubend es ist – widerspiegelt sich in ihrer Musik. In ihren Melodien tragen sie die Hoffnung und die Freude in die Welt. Jeder Tag, an dem du aufwachen und die Sonne aufgehen sehen darfst, ist ein Segen, selbst wenn es mal bewölkt ist. Das ist ... Diese Musik ist einfach ... wie kann man das beschreiben ...?"

Er hält in seiner Schwärmerei inne und überlegt. Er sucht nach den richtigen Worten, denn er muss denken, dass ich nicht verstehe, was er mir sagen möchte. Dabei weiss ich ganz genau, was er meint. Ich hatte es soeben durch unsere Verbindung im Tanz gespürt. Er hat es mir gezeigt.

„Die Musik erfüllt dein Herz. In ihrer ganzen Fülle. Ihre Wärme schleicht sich in jede Wölbung, in jeden Winkel deines Körpers. Sie haucht dir Leidenschaft ein. Sie weckt eine Heiterkeit, von der du nicht wusstest, dass sie in dir schlummert. Sie erweckt dich wieder zum Leben", antworte ich.

So sehe ich das. So habe ich mich mit ihm gefühlt. Mit ihm in diesem Raum, der nur mit der Sehnsucht des Lebens gefüllt war.

Chris blickt mich erstaunt an. In seinen dunklen Kaffeebohnen spiegelt sich ein Ausdruck, den ich bisher noch nicht an ihm gesehen habe. Er sagt nichts, sondern mustert mich nur, mit diesem süssen Erstaunen in den Augen.

„Was?", frage ich, denn es verunsichert mich, wortlos angestarrt zu werden.

Habe ich irgendetwas Ekeliges in meinem Gesicht? Habe ich was Falsches gesagt?

„Ich hätte es nicht besser ausdrücken können", sagt er dann und nippt an seinem Getränk.

„Wie lange warst du eigentlich in Lateinamerika? Du scheinst dort wirklich viel gesehen zu haben", will ich weiter wissen.

Chris hat schon so viel in seinem Leben erlebt, ich würde am liebsten einfach alles von ihm erfahren. Nur blöd, dass ich immer bloss eine Frage auf einmal stellen kann.

„Ich war während vier Monaten unterwegs. War in der DomRep, bin dann nach Kolumbien, Venezuela, Panama und Costa Rica."

„Wow!"

Der Neid macht sich breit, denn das ist ein Traum von mir. Einmal in meinem Leben weit weg von meinem Zuhause zu sein. Alleine durch die Welt zu reisen und die schönsten, merkwürdigsten, skurrilsten und lustigsten Erfahrungen zu machen. Meinen Rucksack mit Erinnerungen zu füllen, die ich nie mehr missen wollen würde.

„Ich hatte es nach der Trennung bitter nötig", fügt er an und mein Lachen verstirbt augenblicklich.

„Oh ...", murmle ich verlegen. „Wie lange ist es her, seit ... seit ihr euch habt scheiden lassen?"

Erst sagt Chris nichts, sondern faltet die Hände vor sich und starrt auf seine eigenen Finger. Meine Frage hat die Stimmung gekippt, das spüre ich selbst, aber meine Neugierde hat sich Platz verschafft. Diese Frage musste irgendwann gestellt werden und offensichtlich musste es jetzt sein.

„Du musst nicht antworten, wenn es dir unangenehm ist", füge ich an, aber da schüttelt er den Kopf.

„Nein, schon in Ordnung. Ich muss mich sowieso daran gewöhnen, mehr darüber zu sprechen. Es ist zwei Jahre her, seit ..."

„Seit der Scheidung."

Ich habe keine Mühe, die Worte auszusprechen und übernehme das gerne für ihn, denn ich sehe, dass es ihn plagt.

„... seit sie mich betrogen hat und ich gegangen bin", beendet er seinen Satz.

Er presst die Lippen zusammen. Es wirkt für mich so, als wolle er mehr sagen, aber als hielte er sich zurück. Sicherlich hat er sich seine eigene Mauer aufgebaut, um den Schmerz nicht nach aussen treten zu lassen. Ich werde diese Mauer jetzt nicht einbrechen lassen. Sie hilft ihm, also soll sie auch stehen bleiben.

Ich muss leer schlucken.

„Diese Kuh weiss nicht, was ihr entgeht", antworte ich und versuche, dabei möglichst aufmunternd zu klingen.

Er lacht auf. Ich bin unglaublich erleichtert, dass er es locker aufnimmt, denn für einen kurzen Moment dachte ich, dass wir in eine Depristimmung verfallen würden, aus der wir uns nicht mehr hätten retten können. Dann wäre das Date für heute wohl gelaufen.

„Wie oft darfst du deinen Sohn sehen?", forsche ich weiter nach, um den Fokus auf die positiven Dinge zu richten.

Für mich ist zwar mit Kindern nichts Positives verbunden, aber für Chris ist das Thema bestimmt toll. Wer spricht schon nicht gerne über seine eigenen Kinder? Ich nehme einen Schluck von meinem Porn Star, um meine leichte Überforderung zu verstecken.

Wie vermutet, wirkt das Schlagwort Sohn Wunder. Chris Gesichtszüge entspannen sich und ein stolzer Funke strahlt mir entgegen.

„Ich sehe ihn alle zwei Wochen am Wochenende."

Ich nicke verständnisvoll.

„Das ist grosszügig", erwidere ich darauf. „Meine Mutter hat unserem Vater eine Weile lang den Kontakt mit uns verwehrt. Erst habe ich sie dafür gehasst, aber später habe ich verstanden wieso. Mein Erzeuger kann das nicht so gut. Das Vatersein."

Ich lache blöd auf, dieses peinliche Lachen, das ich manchmal habe, wenn ich von meinem traurigen Leben erzähle. Da hilft selbst Sarkasmus nicht mehr, um das zu überspielen.

„Und wie ist deine Beziehung zu ihm jetzt? Hat sich das mit der Zeit irgendwie verbessert?"

Chris zeigt sich interessiert und das freut mich umso mehr. Mein in Scherben liegendes Familienleben ist sonst nicht wirklich Thema bei Dates. Aber Chris und ich teilen uns hier die Schnittwunden. Wir haben beide gelitten und können uns die Narben zeigen.

„Ich versuche ihm immer wieder eine Chance zu geben. Wirklich. Ich gebe mir die grösste Mühe, aber es ist nicht einfach. Die Emotionen kochen hoch, ohne dass man es wirklich will und plötzlich steht man da und macht einem Mann Vorwürfe, der biologisch gesehen der Vater ist, aber von dem man eigentlich nie was gespürt hat. Ich habe keine Erwartungen an diesen Menschen, aber bin dann trotzdem enttäuscht, wenn er meine Gefühle verletzt. Ach, ich weiss gar nicht, wie man das erklären soll. Es ist einfach kompliziert und voll kacke. Merke dir das so."

„Davor habe ich am meisten Angst", meint Chris und lehnt sich zurück. In seinem Gesicht lese ich Bekümmerung.

„Bei deinem Sohn?", hake ich nach und er nickt langsam.

„Ich habe Angst, dass er eines Tages so über mich denken wird, weil ich halt einfach nicht immer da sein kann. Ich sehe ihn nicht jeden Tag, ich weiss nicht immer, wie es ihm geht. Nur an den Wochenenden, an denen er zu mir kommt, kann ich mich um ihn kümmern."

Ich lehne mich nach vorne, um den Augenkontakt mit ihm zu suchen. Er hebt den Blick und ich lächle ihm aufmunternd zu.

„Ich bin mir sicher, dass er niemals sowas von dir denken wird", sage ich mit vollster Überzeugung.

Da vertraue ich meinem Bauchgefühl. Chris kann kein schlechter Vater sein. Nur schon sein kummervoller Blick beweist es mir, dass das Wohl seines Sohnes bei ihm an oberster Stelle steht. Ganz im Gegenteil zu meinem Vater, der ständig meine Existenz vergisst.

„Wie willst du dir da so sicher sein?", fragt er und streicht sich die Haare nach hinten, sodass die Strähne, die ihm in die Stirn hing, jetzt ordentlich liegt.

Meine Mundwinkel wandern weiter in die Höhe, sodass mein Lächeln sich langsam in ein Grinsen verwandelt.

„Das habe ich einfach im Gefühl. Ich bin mir sicher, Emil merkt, dass du dir Mühe gibst. Du bist da, wenn du kannst und das reicht schon. Wirklich."

„Bemüht sich dein Vater denn?", stellt mir Chris die Gegenfrage und in seinen Augen sehe ich ehrliche Fürsorge.

Mein Lächeln verstirbt.

„Wie meinst du bemühen?"

Chris lehnt sich wieder nach vorne, sodass seine Ellbogen auf dem Tisch liegen. Er faltet die Hände und blickt mich forschend an.

„Merkst du, dass er sich Mühe gibt, die Beziehung aufrecht zu halten? Ich meine das natürlich im Rahmen seiner eigenen Möglichkeiten – völlig unabhängig von dem, was ein Vater tun sollte gemäss unseres gesellschaftlichen Standards. Tut er alles, was er kann, um eine gute Beziehung zu seiner Tochter zu haben, selbst wenn das deinem Bild, deiner eigenen Vorstellung, nicht genügt?"

Ich blinzle und muss nachdenken. Gibt sich mein Vater Mühe? Das ist eine gute Frage. Eine Frage, die ich mir noch nie so richtig gestellt habe.

„Hm ... So habe ich mir das noch nie überlegt."

Ich lehne mich zurück und denke ernsthaft darüber nach. Chris führt währenddessen fort, mir zu erklären, was er damit meint: „Weisst du. Männer haben manchmal Mühe, sich in der Vaterrolle wiederzufinden. Oft wird ein so unglaublich romantisches Bild von dem selbstlosen Vater vorgegeben, das für viele einfach nicht machbar ist. Aus verschiedenen Gründen."

„Ja, ich weiss, wie du meinst. Sie passen nicht in das Vorbildsvater-Schema."

Chris nickt vorsichtig. Er muss spüren, dass er sich hier auf sehr dünnem Eis bewegt. Das ist ein Thema, das mir weh tut. Immer. Insbesondere, wenn jemand die Seite meines Erzeugers einnehmen möchte und er tut das mit seiner Sachlichkeit.

„Also, glaubst du, er tut genug? Im Rahmen seiner Möglichkeiten?", bohrt er nach.

„Im Rahmen seiner sehr begrenzten Möglichkeiten: Ja. Er ist stets bemüht."

Das klingt distanzierter, als ich es gewollt habe. Chris zieht ab meiner Reaktion hörbar die Luft durch den Mund ein. Der lieblose Tonfall meiner Stimme muss ihm verraten haben, dass ich mässig begeistert bin von meiner eigenen Feststellung.

„Oh, ich wollte dir nicht zu nahe treten", meint er und hebt die Hand, als hätte er damit nach meiner greifen wollen, aber hält in der Bewegung inne.

Ich schüttle den Kopf.

„Bist du nicht. Alles in Ordnung. Es ist einfach ein schwieriges Thema für mich. Und jetzt, nachdem du mich weichgetanzt hast, brodeln die Emotionen einfach etwas hoch. Das Schicksal eines gebrannten Kindes eben. Sorry."

Chris seufzt und ich merke, dass es ihm leidtut, die Wunden aufgerissen zu haben.

„Du darfst dich so fühlen. Mir gegenüber musst du deine Gefühle nicht rechtfertigen."

Ich schaue ihm in die Augen und sehe, dass er wirklich meint, was er sagt. Wir tauschen uns aus, ohne wirklich was zu sagen. Ich spüre es so deutlich in diesem Moment. Diese unsichtbare Verbindung zwischen uns.

Das Leben war unbarmherzig mit uns beiden. Wir finden aber Trost. Hier, an dem kleinen Tisch mit den Chesterfieldsofas heilen wir unsere Wunden. Indem wir zulassen, uns so zu fühlen, wie wir uns fühlen und den anderen daran teilhaben lassen. So viel, wie wir beide ertragen können.

„Danke", hauche ich und lächle schüchtern.

Wir sitzen eine ganze Weile noch da und reden. Reden über Gott und die Welt, erzählen uns die wildesten Dinge, die uns im Leben schon passiert sind und lachen. Wir lachen gemeinsam über meine Tollpatschigkeiten, denn Chris scheint keine solchen Schusseligkeiten zu kennen. Ich eröffne ihm mit meinen Schilderungen eine ganz neue Welt. Und sie scheint ihm zu gefallen, denn er amüsiert sich köstlich.

Der Abend neigt sich dem Ende zu und als Teo den Tresen mit einem Lappen zu putzen beginnt, werden wir von ihm rausgeschmissen. Chris begleitet mich zur Bushaltestelle.

Wir verabschieden uns mit einer langen Umarmung.


✵✵✵


So, die zwei sind sich bisschen näher gekommen. Goldig, nicht?

Wer von euch hat schon mal Merengue oder Bachata getanzt? Aus eigener Erfahrung kann ich jeder empfehlen, einmal im Leben mal mit einem Latino-Burschen zu tanzen, denn das ist wirklich ein Erlebnis für sich ;-) Selbst die Besenstock-Tänzerinnen unter euch werden da weichgewackelt. Versprochen!

Habt ein wunderbares Wochenende

❤️

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