Nirgendwo (BoyxBoy) - Lesepro...

By DesasterTristan

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- Leseprobe - Es sind nicht viele Dinge, die Tarn wirklich benötigt. Ein Zuhause, eine Familie, nur ein wenig... More

Vorwort

Prolog - In einem anderen Leben

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By DesasterTristan


Im Grunde war es nicht seine Schuld. Wie konnte es?

Egal, was bei seiner Geburt auch schief gelaufen war, welche Hexe seine Mutter mit dem bösen Blick gestreift hatte: Er war an seinem Schicksal völlig unbeteiligt gewesen. Solange er zurückdenken konnte, war es in ihm gewesen, ein Teil seiner selbst. Weder die Schläge seines Vaters noch die Gebete seiner Mutter änderten etwas daran.

Mit vierzehn Jahren, als er blutend am Boden lag und sein Vater ihn anbrüllte, akzeptierte Tarn, dass er es nicht loswerden würde.
Mit sechzehn Jahren stand er knietief in Sünde. Hätte er jemals gebeichtet, hätte er bis ans Ende seines Lebens Rosenkränze beten müssen. Zu diesem Zeitpunkt war er längst verloren. Er hatte sich damit abgefunden, dass er nicht erwünscht war. Nirgendwo.

Aber wenn es nicht seine Schuld war, wessen dann? Auch wenn er seinen Gefühlen gegenüber machtlos war: Es waren untrüglich seine eigenen.

Es gab keine schlüssige Erklärung dafür, dass er Männer liebte. Hätte ihn jemand danach gefragt, hätte er viele Antworten geben können. Doch keine davon hätte seine Empfindungen wirklich ausgedrückt. Dazu waren seine Gefühle zu komplex, zu vielschichtig, und gleichzeitig schrecklich eindeutig. Kein Mädchen verursachte die gleiche Aufregung, nervöse Unruhe oder gar Erregung in ihm, die ein Mann in ihm auslöste. Selbst, wenn die Unterschiede manchmal gering waren, bedeuteten sie letztendlich alles. Frauen mit breiten Schultern, schmalen Hüften und kantigen Gesichtern gab es schließlich genug. Aber keine von ihnen hatte je sein Interesse geweckt. Das war so sicher wie die Tatsache, dass ihn blonde Männer besonders anzogen.

So wie Antoine. Tarn hätte seine Hände stundenlang in seinem dichten Haar vergraben können. Er spielte abwesend mit einigen Strähnen, so golden wie das Stroh unter ihnen. Ein paar verirrte Lichtstrahlen, die durch das Gebälk des Dachs fielen, ließen sie leuchten, und einen stillen Moment lang bewunderte er den Glanz. Er lebte für diese kurzen, völlig ruhigen Minuten, in denen alles in weite Ferne rückte. Der Lärm der Arbeit, die Geräusche der Pferde und die Unterhaltungen der Menschen im angrenzenden Stall existierten nach wie vor. Aber sie wurden unwichtig, verblassten zum Hintergrundmurmeln. Der niedrige Strohboden der Scheune, auf dem sie sich verbargen, wurde zu einer eigenen Welt, nur geschaffen für sie beide. Hier gab es keine misstrauischen Blicke, keinen Grund, Abstand zu wahren. Nur den Duft nach trockenem Gras, den funkelnden Staub in der Luft, die wohlige Spätsommerwärme, und Antoine. Sie konnten sich immer nur ein paar Minuten davon stehlen, manchmal eine Stunde. Die Gefahr entdeckt zu werden war groß, aber Tarn vergaß sie in diesen Momenten.

Viel wichtiger war der warme Körper unter ihm, der sich jeder seiner Berührungen entgegenstreckte. Antoine atmete schwer, die Lippen halb geöffnet, aber er blieb still. Jedes laute Geräusch hätte sie verraten können. Auch deshalb ließ Tarn seine Hand, die er um Antoines Glied geschlossen hatte, nur langsam auf und ab gleiten. Mit der anderen strich er über Antoines breiten Brustkorb, die Bauchmuskeln, die jetzt deutlich angespannt waren, und die Spur dunkelblonder Haare, die sich von dort bis hinunter zu seinem Becken zogen. Tarn beneidete ihn darum, genauso wie um seine kräftige Statur und seine muskulösen Arme. Er wirkte wie ein erwachsener Mann, und so wurde er auch behandelt, obwohl er gerade erst 18 Jahre alt geworden war. Schon jetzt wurde er von den anderen Bediensteten und den Dorfbewohnern geschätzt. Noch etwas, von dem Tarn nur träumen konnte.

Ob das anders gewesen wäre, wenn jemand Verdacht geschöpft hätte? Wenn die geflüsterten Gerüchte, die über Tarn kursierten, auch ihn einbezogen hätten? Vermutlich schon. Wahrscheinlich wäre Antoine dann nicht mehr der heimliche Schwarm so vieler Mädchen gewesen. Er hatte sich nie darüber beschwert, aber Tarn hatte sehr wohl gesehen, wie sie ihn aus der Ferne betrachteten. Pech für sie, dass der Mann ihrer Träume nichts für sie übrig hatte.
Der Gedanke trieb Tarn ein Grinsen ins Gesicht. Er durfte Antoine vielleicht nicht unverhohlen anhimmeln. Aber hier, in den wenigen Minuten, die sie allein waren, gehörte er ganz ihm. Tarn wusste, wie er selbst den stärksten Männern weiche Knie verschaffte.

Wenn er denn genug Zeit dafür hatte. Noch einmal lauschte Tarn, ergründete das Gewirr der Stimmen, das Stampfen der Pferde, ferne Hammerschläge. Niemand war in ihrer Nähe, also konnte er seine angefangene Arbeit auch zu Ende bringen.

Er ließ Antoines Glied los, umarmte ihn stattdessen, fuhr mit den Händen in sein weiches Haar, küsste ihn zärtlich. Antoine öffnete die Augen, die er eben noch hingerissen geschlossen gehalten hatte, wandte sich ihm zu und sah ihn fragend an. Für einen Moment lagen sie nur da; Körper an Körper, entspannt, braune Augen versunken in blassgrünen. Dann zog Antoine Tarn näher zu sich heran.
„Hör doch nicht auf."
Tarn lächelte und küsste seine Schläfe.
„Komm her, das wird dir gefallen."
Er zog ihn mit sich, ließ ihn über sich knien. Seine Hände legten sich auf Antoines Hüften. Er öffnete den Mund, schloss seine Lippen um ihn.
Antoine stöhnte auf, schob sich ihm reflexhaft entgegen. Tarn musste ihn festhalten, damit er nicht zu heftig vorstieß, und Antoine bedachte ihn mit einem entschuldigenden Blick.
„Alles in Ordnung? Ich will dir nicht wehtun."
Tarn zuckte nur mit den Achseln. Selbst wenn, es hätte keine Rolle gespielt. Sanft zog er Antoine zu sich, ließ ihn seinen eigenen Rhythmus finden. Antoine stieß nur vorsichtig zu, aber sein hastiger Atem verriet, dass es völlig ausreichte. Er war kurz davor, zu kommen, und Tarns Lippen verzogen sich zu einem zufriedenen Lächeln. Männer zu befriedigen war das, was er konnte. Es gab kaum etwas in seinem Leben, auf das er stolz sein konnte, aber in Momenten wie diesen wurde er gebraucht.

Das Gefühl wurde unvermittelt in den Hintergrund gedrängt, als Antoine nach ihm tastete und seine Hand um Tarns Erektion schloss. Es war wohl besser, dass Tarn den Mund voll hatte, weil sein Aufstöhnen nur dadurch gedämpft wurde. Ärgerlich blickte er zu Antoine auf, bedeutete ihm, zu warten. Er würde viel zu abgelenkt sein, um noch zu lauschen, was um ihn vorging. Antoine wusste das auch, aber heute schien irgendetwas anders zu sein. In seinen Augen lag ein flehender Ausdruck.
„Bitte."
Nach kurzem Zögern gab Tarn ihm nach.
„Na schön", nuschelte er, ein wenig ärgerlich. Er machte nicht gern Kompromisse. Mit voller Absicht ließ er seine Zunge nur sacht und spielerisch über Antoines Glied gleiten, hielt ihn noch stärker als zuvor zurück. Wenn er nicht darauf warten konnte, ihn anzufassen, würde er eben selbst warten müssen.

Er hätte diesen Vorsatz gern aufrecht erhalten, aber Antoines warme, von der Arbeit raue Hand ließ das nicht zu. Tarns ganze aufgestaute Lust, die er mühsam schon die ganze Zeit zurückgehalten hatte, forderte ihren Tribut. Diesmal stöhnte er, ohne dass er den Laut dämpfen konnte. Er jagte seinen Ärger zum Teufel, den brauchte er jetzt nicht, und zog Antoine zu sich heran, nahm ihn so tief wie möglich in sich auf.
Er musste nicht lange Rätsel raten, ob es nun das gewesen war, was Antoine gewollt hatte, denn er ergoss sich mit einem kaum hörbaren Seufzer schon nach wenigen Stößen in Tarns Mund. Noch während Tarn reflexartig schluckte kam er selbst zum Höhepunkt und verkrallte sich in Antoines Hüften.

Und damit war es auch schon wieder vorbei. Tarn wischte sich den Mund, schwer atmend, und rappelte sich auf. Nichts wie weg. Hastig stand er auf und benutzte Stroh, um das Gröbste abzuwischen, dann zog er seine Kleider über. Antoine tat es ihm gleich, aber er ließ sich viel Zeit dabei und machte keine Anstalten, sich selbst auf den Weg zu machen.
„Was trödelst du? Wir müssen los", murmelte Tarn und wollte sich abwenden. Doch Antoine hielt ihn mit einem sanften Griff an seine Schulter ab, streckte ihm die Hand entgegen.
„Hast du nicht noch einen Moment?"

Was sollte das jetzt? Widerwillig setzte Tarn sich wieder, ergriff Antoines Hand, die warm und kräftig in seiner eigenen lag.
„Ja? Was ist denn?"
Antoine schwieg eine Weile. Schließlich fragte er: „Wollen wir uns nicht öfter sehen? Ich meine, einmal oder zweimal in der Woche... das ist zu wenig."
Tarn lachte bitter auf.
„Wie stellst du dir das denn vor? Denkst du, dafür habe ich Zeit? Ich muss auch irgendwann arbeiten!"
Antoine ließ resigniert die Schultern hängen.
„Ich dachte nur-", murmelte er, und Tarn unterbrach ihn unwirsch: „Was? Was dachtest du denn?"
„Ich dachte... musst du dich denn unbedingt auch mit Joel und Thomas treffen?"
Tarn traute seinen Ohren nicht, und innerlich ging er sofort auf die Barrikaden.
„Ich dachte, wir hatten gleiches Recht für alle vereinbart! Ich werd doch nicht zum Mönch, während du-".
„Ich habe keine anderen, nicht mehr", unterbrach Antoine ihn. „Da war sowieso nie viel. Ich meine es ernst, verstehst du? Ich will ... ich will nur dich sehen. Kannst du nicht wenigstens darüber nachdenken?"

Er klang plötzlich verletzt, und Tarn fühlte vage Schuld, die er hastig verdrängte. Übrig blieb nur Verwirrung. Antoine erhoffte sich irgendetwas aus diesem Gespräch, das war ihm anzusehen. Nur dass Tarn absolut keine Ahnung hatte, was das sein sollte. Natürlich sahen sie sich nicht zu oft, das war die einzige Art, auf die sie nicht entdeckt wurden. Dazu kam, dass Antoine anscheinend nicht wusste, dass Tarn es zu seltenen Gelegenheiten auch noch mit ein paar anderen trieb. Er hatte sich dieses Netz aus Freunden ganz bewusst aufgebaut, er hatte schließlich auch Bedürfnisse. Wenn der Personenkreis groß genug wurde, fiel das, was sie taten, nicht mehr so auf.
„Aber warum denn? Bisher ist doch alles gut gegangen?"
„Ist das denn so schwer zu verstehen? Ich ... ich hab mich in dich verliebt. Und ich dachte... ich dachte, wir könnten ..."
Tarn entglitten in diesem Moment tatsächlich die Gesichtszüge.
„Du bist was?"
Obwohl Tarn ihn offensichtlich schon beim ersten Mal verstanden hatte, wiederholte Antoine, fast trotzig: „I-ich ... ich bin in dich verliebt. Seit ... na ja, eine ganze Weile schon."
„Bist du nicht."
Antoine starrte Tarn verwirrt an. „Doch, ich-", versuchte er, zu widersprechen, aber Tarn ließ ihn nicht zu Wort kommen.
„Bist du nicht! Das bildest du dir ein! Und wie stellst du dir das überhaupt vor? Denkst du, das hat irgendeinen Sinn? Denkst du, das bleibt lange geheim?"
„Und wenn nicht, na und?" Antoines Stimme war lauter geworden. Grob griff er nach Tarns Schulter, packte sie. „Wir könnten auch einfach abhauen, und es wäre doch auch egal, oder? Wir schlagen uns irgendwie durch! Du kannst so viel wie ein Stallmeister, und ich kann schuften bis zum Umfallen! Wir könnten-"
„Es gibt kein wir", unterbrach Tarn ihn mit Grabesstimme und schlug seine Hand weg. Damit beendete er es. Er konnte es in Antoines Gesicht sehen.

Und war es nicht besser so? Antoine würde niemals blutend auf dem Boden liegen und sich fragen, was mit ihm nicht stimmte. Er würde niemals die Schande seiner Familie sein, ein offenes Geheimnis, an das niemand zu rühren wagte. Und im Grunde wollte er auch nicht Tarn, nicht wirklich. Er wollte das, was alle Männer irgendwann hatten, ein normales Lebens.
Das war schließlich das, was auch die anderen sagten; all die Männer, die Tarn traf, manchmal für ein paar Stunden, manchmal nur Minuten. Sie waren nicht wie Tarn. Was sie taten, war nicht mehr als eine Ablenkung, ein Zeitvertreib. Die Ziele, von denen sie erzählten, klangen alle gleich, geordnet, anständig: Ein Haus, eine Frau, ein paar Kinder. Antoine würde irgendwann dasselbe wollen. Irgendwann würde er vergessen, dass er sich einmal, für ein paar verwirrte Tage in seiner Jugend, eingebildet hatte, er hätte sich verliebt.

Tarn rappelte sich auf. Ohne zurück zu sehen stieg er vom Strohboden und verließ die Scheune. Antoine hielt ihn nicht auf. In einer schwachen Sekunde fragte Tarn sich, was geschehen wäre, wenn er es doch getan hätte. Aber wo wären sie hingegangen? Wo gab es schon einen Ort, an dem sie unbehelligt sie selbst hätten sein können?

Tarn hatte den Rest des Tages zu tun, die Pferde brauchten ihn. Zäune mussten ausgebessert, Zaumzeug geflickt, Tränken gefüllt werden. Einfache Arbeiten, bei denen er sich aus allen Gesprächen heraus hielt.
Er ging spät nach Hause, wie immer. Nicht, weil er Arbeit liebte, sondern weil sein Vater vor ihm den Rückweg antrat, zusammen mit den anderen Knechten, die den Weg hinunter in die Stadt gingen. Tarn wusste nie, in welcher Stimmung er ihn vorfinden würde, und im Zweifelsfall war es einfacher, die Tür direkt hinter sich zu haben.

Um das Unvermeidliche hinauszuzögern, nahm Tarn den Umweg am äußeren Wall entlang, der ihm einen Ausblick auf das Städtchen bot. Er betrachtete die Häuser außerhalb der Mauern, das blaue Band des Flusses und die sanft ansteigenden und abfallenden Hügel. Alles lag ruhig im schwindenden Tageslicht vor ihm und kam ihm unendlich fern vor. Eine andere, unschuldigere Welt, zu der er keinen Zugang hatte.

Je weiter er dem Wall folgte, der sich in einem weiten Bogen um den Hügel spannte, desto mehr geriet das Château wieder in sein Blickfeld. Uralt und grau ragten die zwei runden Türme empor, und hohen Mauern und Bauten zerschnitten bedrohlich das dunkle Blau des Abendhimmels. In den Fenstern glomm nur spärlich Licht, wenn sie nicht gänzlich überwuchert waren. Die Grafschaft hatte schon besser Tage gesehen. Mittlerweile waren die Kaltblüter, die sie züchteten, das Einzige, was ihren Namen noch wert war. Das Château hatte darunter gelitten, es war seit Jahren der Verwitterung preisgegeben, genauso wie die winzigen Häuschen, die sich innerhalb des Walls befanden.

Wahrscheinlich war es früher einmal ein Privileg gewesen, eines dieser Häuser zu besitzen, in unmittelbarer Nähe zum Comte, abseits vom Trubel der Stadt. Tarns Großmutter hatte bis zu ihrem Tod gepredigt, wie viel sie ihrem Herren schuldeten. Armand Garonne, Tarns Großvater und Stallmeister des Comte, hatte nur einen Sohn gezeugt und war dann unerwartet von einem Pferd zu Tode getreten worden. Das Haus hatte seine Witwe geschenkt bekommen. Sie erhielt es als Rückzahlung für die geleisteten Dienste ihres Mannes und als Rückversicherung, dass ihr Sohn in die Fußstapfen seines Vaters treten würde.

Während Tarn auf das winzige, zweistöckige Haus zuging, wünschte er, seine Großmutter hätte das Geschenk verschmäht und wäre zu ihrer Familie aufs Land zurückgekehrt. Vielleicht hätte sie anderswo neu anfangen können. Sie hätten nicht im Schatten der grauen Mauern gelebt, abgeschnitten von den Menschen außerhalb. Dann hätte Tarns Vater auch nicht ehrfürchtig daran festgehalten, das Haus zu bewohnen, obwohl es für eine Familie mit vier Kindern nicht annähernd groß genug war. Selbst an guten Tagen ließen ihnen die bröckelnden Wände keinen Platz zum Atmen.

Heute war kein guter Tag. Tarn hörte schon von Weitem den Lärm. Sein Vater brüllte jemand an, und etwas zerbrach mit lautem Klirren, sodass Tarn zusammenfuhr. Er blieb stehen, lauschend.
Für einen unbeteiligten Beobachter hätte er wie ein Hund ausgesehen, der den Kopf schief legte und auf die Stimme seines Herren horchte. Armselig, geprügelt. Treu, aber mit eingeklemmtem Schwanz, immer Schläge erwartend.
Schließlich hörte Tarn die ineinander zerfließenden Worte heraus. Er war gut darin geworden, die Trunkenheit seines Vaters einzuschätzen, und heute hatte er kein Glück. Sein Vater war längst nicht betrunken genug, um bald bewusstlos umzukippen.

Ohne zu zögern drehte Tarn um. Er würde im Stall schlafen, irgendwo im Heu, und die Aussicht erleichterte ihn. In letzter Zeit blieb er seinem Zuhause, sofern man es so nennen konnte, sowieso lieber fern. Im Grunde tat er seinen Geschwistern einen Gefallen. Zumindest war das seine Rechtfertigung vor sich selbst, während er über den verlassenen Hof zurück zu den Wirtschaftsgebäuden schlenderte, das Tor aufschob und sich in einen Heuhaufen fallen ließ.
Vermutlich würden die anderen heute Nacht besser schlafen. Sie hatten zu viert nur zwei schmale, zusammengeschobene Betten, und mittlerweile nahm Tarn darin den meisten Platz ein. Er war knochig und dünn, aber seine Schultern waren breiter geworden, genauso wie Arizes Hüften. Seine Schwester hatte darüber gescherzt, aber er hatte die Erschöpfung in ihren Augen gesehen. Auch sie quälte sich mit ihrer Lage, nur auf andere Weise.
Auch wenn Tarn sich dafür hasste: Er hoffte, dass Arize schnell heiraten würde. Bis auf ihre schrecklich magere Aussteuer gab es nichts, was sie bei ihrer Familie hielt. Es wäre zu ihrem Besten gewesen, und sie hätte ihre kleine Schwester Hers mitnehmen können. Die Kleine war in sich gekehrt und schrecklich schüchtern. Nachts klammerte sie sich entweder so fest an Tarn, als wolle sie in ihn hinein kriechen, oder schlug um sich, weil sie wieder Albträume hatte. Er konnte es ihr nicht verübeln, bei dem, was sie von ihrem Vater zu sehen bekam.

Es wurde schlimmer. Der Abstieg zeichnete sich seit Jahren ab, aber die Wut und die ständige Trunkenheit seines Vaters hatten zugenommen, seit er wusste, wie es um Tarn stand. Als ältester Sohn hätte Tarn das Werk seines Vaters fortführen und irgendwann Stallmeister werden müssen. Dazu war er ausgebildet worden, und er schlug sich nicht schlecht. Er kam gut mit Pferden zurecht, schmiedete passable Hufeisen, arbeitete zuverlässig. Aber seine Vorlieben machten ihn, ohne dass der Comte es jemals erfahren durfte, zu einem unwürdigen Nachfolger. Tarns Vater ließ ihn spüren, wie sehr er ihn dafür hasste. Schließlich hatte er all die Mühe, all das Wissen und all seine Zeit in ihn investiert, um am Ende von vorn zu beginnen. Seit etwa einem Jahr bildete er Tarns jüngeren Bruder Ciron aus, und Tarn bekam nur noch die einfachsten Arbeiten zugeteilt. Seit dem Abend, an dem sein Vater ihn fast totgeschlagen hatte, und ihm Schlimmeres angedroht hatte, wenn er nicht sofort verschwand.

Tarn hatte gehorcht und die Stadt verlassen, für ein paar Wochen zumindest. Aber wo hätte er hingehen sollen? Instinktiv begriff er, dass er nirgendwo willkommen sein würde. Für eine Weile streifte er herum, arbeitete, hielt den Kopf unten. Erstaunlicherweise funktionierte es. Er funktionierte.
Doch am Ende hatte er sein kurzes neues Leben zurückgelassen. Er kehrte heim.
Es kümmerte niemand, dass er weg gewesen war. Schon am ersten Tag entband er eine trächtige Stute, zusammen mit seinem Vater. Auch wenn es zwischen ihnen keine Zuneigung gab, so herrschte doch zumindest Ruhe. Der Zorn schwelte, aber er loderte nicht mehr, und der hässliche Klatsch hatte das Übrige erledigt. Es gab einen Ruf zu wahren, und so war oberflächlich alles gut, für eine Weile.
Dann begann alles von vorn. Die Beschimpfungen und die Schläge wurden häufiger, und Tarn mied sein Elternhaus, wann immer er konnte, bis er seine Familie erneut verließ.

Inzwischen war das zu oft passiert, als dass Tarn noch mitzählte. Fünfmal, zehnmal, wen kümmerte es? Während er in die Dunkelheit starrte, beschloss Tarn, dass es wieder Zeit wurde.
Am nächsten Morgen verließ er ohne Abschied sein Zuhause. Als er nach Wochen zurückkehrte, war Antoine fort. Zu Verwandten aufs Land, sagte man ihm. Obwohl ihm die Nachricht einen Stich versetzte, akzeptierte er sie. Und obwohl er oft an Antoine dachte, ging er niemals auf die Suche nach ihm.
Die Welt drehte sich ohne ihn weiter, das hatte er längst verinnerlicht. Es spielte keine Rolle, wohin er ging oder was er tat. All seine Freundschaften, so nannte er sie in Ermangelung eines besseren Wortes, pausierten, so lange er fort war. Kommentarlos wurden sie wieder aufgenommen, wenn er zurückkehrte. Niemand vermisste ihn, und er tat gut daran, auch niemand zu vermissen. Er hätte sich nur lächerlich gemacht.
Die Zeit verging, und immer wieder verschwand er, für Tage, Wochen, schließlich Monate. Er zog immer größere Kreise, doch irgendwie führte ihn sein Pfad immer wieder zurück.

Seine Mutter begrüßte ihn wie immer, wenn er durch die Tür ihres winzigen Hauses trat, egal ob er für eine Stunde oder zwei Monate verschwunden gewesen war. Sie fragte nie, wohin er gegangen war. Ihr Schweigen, ihr besorgter Blick, ihre blauen Flecken, sie änderten sich nie.
Tarns Geschwister wichen ihm aus, bis sie sich wieder an seine Anwesenheit gewöhnten. Aber er sah in ihren Augen, dass sie immer mit den Zweifeln lebten, wann er wieder gehen würde. Wann er sie wieder mit ihrem Vater allein ließ.

Im Grunde war es nicht seine Schuld. Wie konnte es? Wie konnte man von ihm erwarten, ein guter Mensch zu sein, wenn die Welt ihm nur die Zähne zeigte?

Aber wessen Schuld war es dann? Die Wahrheit war, dass er seinen Schmerz nicht hätte verwenden müssen, um andere zu verletzen. Doch jetzt war er 16, und das Schlimmste stand ihm noch bevor. Er war irgendwo zwischen Kindheit und Erwachsensein verloren gegangen, und es gab nichts mehr, das ihm irgendetwas bedeutete.

Sein Leben hätte an einem Strick enden müssen. Doch am tiefsten Punkt, nach einem langen, qualvollen Abstieg in die Dunkelheit, brannte Aubin Karvash sein Zeichen in Tarns Fleisch und verdammte ihn zu einem ganz anderen Schicksal.

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