5. Teil

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Pia sprang auf, kaum dass die Schulglocke den ersten Ton von sich gegeben hatte. Endlich Schulschluss. Sie raffte ihre Schulsachen zusammen und schlich aus dem Klassenraum, hoffend, dass niemand ihren schnellen Rückzug bemerkte und sie von weiteren Hänseleien verschont blieb.
Vor der Schule blieb sie stehen. Bis zum Mittagessen bleib ihr noch genug Zeit. Die letzte Stunde war ausgefallen und ihr Vater erwartete sie erst in einer Stunde zu Hause. Pia verschwendete keinen Gedanken an die Schulkinderbetreuung, die sie in solchen Fällen eigentlich aufsuchen sollte. Sie wusste genau, wohin sie wollte. Ihr Herz klopfte, als sie den zusammengefalteten Zettel aus ihrem Matheheft zog, den sie am vergangenen Abend geschrieben hatte.

Pia blickte sich um, bevor sie das Schulgelände verließ.  Doch niemand bemerkte das kleine Mädchen, das mit seiner großen Schultasche klein und verloren aussah. Sie achtete genau auf den Weg, den sie schon oft mit ihrem Vater gegangen war. Sie kam an dem Tiergeschäft vorbei, wo der bunte Papagei im Fenster sass, den sie so gern beobachtete. Er kletterte oft auf den Stangen in seinem Käfig herum. Pia war begeistert von den leuchtenden Farben des Tieres.
Doch heute würdigte sie ihn keines Blickes. Sie hatte ein anderes Ziel. Auch das große Sportgeschäft, in dem es viele Arten von Bällen im Schaufenster gab, konnte sie nicht aufhalten. Pia liebte Bälle aller Arten. Egal ob große oder kleine Bälle, mit einem Ball konnte sie sich stundenlang allein beschäftigen.

Sie ging schnurstracks zum Kaufhaus. Die Rolltreppe lief heute besonders langsam. Pia hatte das Gefühl, dass es unendlich lange dauerte, bis sie endlich in der kleinen, aber gut ausgestatteten  Spielwarenabteilung des Kaufhauses ankam. Endlich war sie am Ziel. Da stand er. Der Wunschbaum. Pia blieb einen Moment stehen und betrachtete den Baum. Ihr Herz klopfte. Die Lichterpyramide neben dem Baum ... Im Hintergrund hörte sie leise Musik. Pia erkannte das Lied sofort. Morgen Kinder wird was geben... war eines ihrer Lieblingsweihnachtslieder.

Wie gross der Baum war. Und so bunt geschmückt mit Kugeln und Lametta. Eine lange Lichterkette liess den Baum hell erleuchten. Und überall zwischen dem Schmuck hingen rote Wäscheklammern, an denen Zettel hingen, auf die Kinder ihre Wünsche geschrieben hatten. Pia sah sich um. Sie suchte nach einer freien Klammer. Doch überall hingen schon Wunschzettel. War sie zu spät? Würde sie keinen Platz für ihren Zettel mehr finden? Pia ging um den ganzen Baum herum, doch sie fand keinen freien Platz.
Doch, dort war eine freie Klammer. Aber leider hing die viel zu hoch. Das kleine Mädchen stellte sich auf ihre Zehenspitzen, machte sich ganz groß und versuchte, die Klammer zu erreichen. Doch so sehr sie sich auch streckte, es war vergeblich. Sie konnte den Ast nicht erreichen. Er rutschte ihr immer wieder aus den Fingern.

Das Mädchen  blickte sich um und sah die Frau mit dem Kinderwagen. Sie stand neben einer anderen Frau, die ihrem Sohn dabei zusah, wie er seinen Wunschzettel an einer Klammer in der unteren Reihe befestigte. Pia schob sich vorsichtig näher heran, so dass sie neben der Frau stand. Sie beobachtete, dass diese nett aussah. Aber die Frau hatte traurige Augen. Erstaunt stellte Pia fest, dass ihr eine Träne über das Gesicht kullerte. Das Kind in der Karre griff mit seinen kleinen Händen nach Pia. Es weinte leise. Doch die Mutter schien es überhaupt nicht zu bemerken. Sie war völlig in den Anblick des Weihnachtsbaumes versunken.
Es war, als wenn die Frau nichts davon bemerkte, was um sie herum geschah. Was sie an dem Weihnachtsbaum wohl so traurig machte? Sollte Pia die nette Frau fragen? Vielleicht konnte sie ihr helfen. Pia versuchte noch einmal, die Klammer selbst zu erreichen, doch wieder vergebens. Sie trat von einem Fuss auf den anderen, den Zettel weiter in ihrer Hand haltend. Immer wieder blickte sie zu der netten Frau. Doch sie traute sich nicht, sie anzusprechen.

Noch einmal schaute  Pia sich um. Da sah sie die Rettung. Ein kleiner Hocker, der hinter dem Kassentresen auf der anderen Seite von dem Weihnachtsbaum stand. Die Kasse war geschlossen, wie ein entsprechendes Schild verkündete. Pia überlegte. Wenn sie sich den Hocker... sie blickte sich um. Nirgends war eine Verkäuferin oder ein Verkäufer zu sehen. Sie wußte,  dass sie eigentlich erst hätte fragen sollen. Doch, es war ja niemand da. Und sie wollte sich den Hocker ja auch nur ausleihen. Schnell umrundete sie den Tresen und griff nach dem Hocker.

Sie trug ihn zu dem Weihnachtsbsum und stellte ihn direkt unter die freie Stelle . Sie zog ihren inzwischen schon etwas zerknitterten Zettel heraus und befestigte ihn schnell an der roten  Klammer. Pia atmete auf. Geschafft.

Doch beim Absteigen kam ihr Schulranzen, den sie sich über einen Arm gehängt hatte - sie hatte sich nicht getraut  ihn auf den Boden zu stellen -   ins Rutschen. Die Verschlüsse öffneten sich und Pias Schulsachen verteilten sich ringsherum auf dem Boden.
Im ersten Moment war sie starr vor Schrecken. Dann beeilte sie sich, ihre Sachen wieder zusammen zu räumen und schob sich  mit hochrotem Kopf, den Hocker vor ihrem Körper haltend,  rückwärts zurück in die Richtung zu den grossen Rolltreppen, wo sie hergekommen war. 

Pia schämte sich, dass sie ihre Tasche ausgekippt hatte. Zum Glück hatte das niemand aus ihrer Klasse gesehen. Die anderen Schüler hätten viel Spaß dabei gehabt, ihre Sachen zu verstecken und die Sache noch schrecklicher für sie zu machen,  als sie schon war, bloß weil Pia keine Mama hatte.
Sie waren so gemein.

Pia stellte den Hocker zurück an seinen Platz, dann verließ sie,ohne sich noch einmal umzusehen, das Kaufhaus und machte sich auf den Weg nach Hause.

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28.12.2020
Pia hat ihren Brief an den Wunschbaum angehängt. Wollt Ihr wissen, ob er sich erfüllt? Dann bleibt dran.

Der WunschbaumKde žijí příběhy. Začni objevovat