1. Teil

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Melanie blickte sich im dem kleinen, gemütlichen Wohnzimmer um. Es war der erste Advent und sie war allein. Allein mit einem fast sechs Monate alten Baby. Sie sah den Weihnachtsbaum, an dem die Holzfiguren hingen, die sie von ihren Eltern geerbt hatte. Die kleine, etwas schiefe Tanne mit der Lichterkette, die Melanie kannte, seit sie ein kleines Kind gewesen war.  Die goldene Tannenbaumspitze, die verstaubte Krippe mit der Corona, die graugrünen Nadeln unter dem Baum... Ein Standbild. Vor fast einem Jahr eingefroren.

Als sie von zu Hause ausgezogen war, hatte ihre Mutter ihr die Lichterkette gegeben, damit  ihre zukünftigen  Enkel diese an  dem Baum sehen konnten. Sie schluckte und drängte die Tränen zurück, die sich hartnäckig in ihre Augen drängten. Immer wieder erinnerte die junge Frau sich an den Weihnachtsabend ein Jahr zuvor.  Ein Jahr zuvor - als Daniel noch lebte.

Daniel- ihr Herz klopfte schneller. Daniel , Danny, war ihre grosse Liebe gewesen. Jetzt - in vier Wochen - jährte sich sein Tod zum ersten Mal. Es war so ungerecht, an Weihnachten sollte niemand sterben müssen...und schon gar nicht so ein junger Mann wie Danny. Er war doch erst 24. Das war doch kein Alter zum Sterben.

Melanie konnte noch immer nicht begreifen, was geschehen war. Ihre Welt hatte vor einem Jahr von einem zum anderen Moment aufgehört, sich zu drehen. Sie war aus der ruhigen Umlaufbahn ihres Lebens geschleudert worden. Melanie hatte eines erkennen müssen: Fiona würde ihren Vater niemals kennen lernen.

Dabei hatte alles so schön angefangen. Melanie hatte Danny an der Universität kennen gelernt. Sie hatten beide studiert, Melanie auf Lehramt, Danny Bauingenieurswesen. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen. Sie waren vom zweiten Semester an unzertrennlich gewesen.
Von Anfang an wussten sie, dass sie zusammenbleiben und eine Familie gründen wollten.

Sie erinnerte sich den Abend, als sie Danny erzählt hatte, dass sie schwanger war. Melanie stand vor dem großen Spiegel in ihrem gemütlichen Schlafzimmer. Sie bewunderte die leichte Wölbung an ihrem Leib. Ein neues Leben wuchs heran. Melanie freute sich auf das Baby. Sie wünschte sich viele Kinder. Selbst war sie als Einzelkind aufgewachsen und hatte  immer von  Geschwistern  geträumt. Ihr Lebenstraum war vollkommen gewesen als sich das Baby anmeldete. Danny hatte Tränen in den Augen gehabt, als Melanie ihm von der Schwangerschaft erzählt hatte. Sie würde nie vergessen, wie er sie in die Arme genommen und zärtlich geküsst hatte. Dann strich er liebevoll mit seiner Hand über die kleine Wölbung unter ihrem Kleid. Er hatte sich so sehr gefreut. In diesem Moment war ihrer beider Leben vollkommen gewesen.

Sie hatten sich auf Weihnachten gefreut. Ihr erstes gemeinsames Fest. Schließlich Melanie erinnerte sich daran, wie sie mit Danny ins Kaufhaus gefahren war, um Weihnachtsdekoration zu besorgen. Sie hatten sich einen Spass daraus gemacht, möglichst kitschige Sachen auszusuchen. Es sollte ein ganz besonderes Weihnachtsfest werden. Ihr erstes in der gemeinsamen Wohnung. Sie wollten ihren Traun leben und die Wohnung nach ihrem Geschmack dekorieren.

Doch, was sie dann erlebt hatte, war ein Alptraum gewesen. Sie hoffte immer noch, irgendwann daraus zu erwachen, doch der Abschied war ein endgültiger. Sie musste akzeptieren, dass sie Danny nie wieder sehen würde.

Es war am heiligen Abend. Melanie stand noch am Anfang ihrer Schwangerschaft. Sie hatten alles vorbereitet. Das Mittagessen war fast vorüber, als Melanie der Heißhunger einer Schwangeren überfiel.

" Ich könnte sterben für ein Glas voller Gewürzgurken," hatte sie lachend zu Danny gesagt.

Während sie die Geschenke unter dem Tannenbaum arrangierte, griff Danny zu seinem Autoschlüssel, gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Stirn:" Wenn ich zurückkomme, will ich aber die Kerzen anzünden."

Er lächelte und zog die Wohnungstür hinter sich zu. Sie hatte nichts Böses geahnt. Während sie Teelichter in der Wohnung verteilte, merkte sie nicht, wie die Zeit verging. Sie träumte von einer glücklichen Zukunft mit ihrer kleinen Familie, als es an der Wohnungstür läutete.

Sie verstand nicht, was die Männer ihr erzählten. Sie sprachen von einem Unfall. Vom Tod. Sie blickte verständnislos von einem zum anderen. Der Tag, der so harmonisch begonnen hatte, verwandelte sich von einem Moment auf den anderen in einen Alptraum.

Es dauerte, bis sie begriff: " Danny war tot." Nichts war mehr, wie es einmal gewesen war. Ihre Mutter hatte dafür gesorgt, dass Melanie die ersten, schrecklichen Tage überlebt hatte. Sie kümmerte sich rührend um ihre Tochter, war sogar bei der Geburt dabei und sorgte später für Melanie und ihr Enkelkind. Melanie hatte in einem Nebel aus Trauer verharrt.

Ein jämmerliches Weinen riss Melsnie aus ihren Erinnerungen. Sie brauchte einen Moment, um in die Gegenwart zurück zu kommen. Fiona brauchte sie. Das Baby hatte sie schließlich aus der Lethargie gerissen, die sie nach Dannys Tod befallen hatte. Sie konnte sich kaum noch daran erinnern, wie sie die Beerdigung und die Beileidsbekundungen ihrer und Dannys Familie überstanden hatte. In den ersten Monaten hatte ihre Schwiegermutter immer wieder versucht, Melanie zu einem Besuch zu überreden. Doch sie hatte abgelehnt. Ihre eigene Trauer war zu groß, um auch noch die traurigen Augen von Dannys Mutter zu ertragen, die auf ihrem Enkelkind ruhten.

Sie hielt es einfach nicht aus. Melanie hatte sich eingeigelt in ihrer Trauer. Sie hatte keinen Plan: Wie sollte sie ohne Danny weiter leben? Wie konnte sie ihr Leben weiter leben, wenn die Liebe ihres Lebens nicht mehr bei ihr war? Die Monate vergingen, doch die Verzweiflung blieb. Worte der Liebe - unausgesprochen. Lippen - ungeküsst

Sie funktionierte. Für Fiona fand die junge Frau die Kraft, weiter zu machen. Wenn sie ihr Baby auf dem Arm hielt und in die Augen blickte, die denen Dannys so ähnelten. Wenn die kleinen Hände sich um ihre Finger schlossen, dann schien es ihr, das ein Stück von Danny noch bei ihr war. Und doch war er unendlich weit weg.

Sie funktionierte am Tag, und weinte sich nachts in den Schlaf. Ihre blauen Augen, die Danny gern mit funkelnden Sternen verglichen hatte, ähnelten nun trüben Teichen, in denen alles Leben für immer verschwunden war. Das goldene Haar, das normalerweise in gleichmäßigen Wellen ihr herzförmiges Gesicht veredelte, hatte allen Schwung verloren und ähnelte nun vertrocknetem, strohigem Gras, das zu kurz war, um bei der Ernte einen Gewinn zu versprechen. Wie abgeschnitten und liegengelassen- fühlte Melanie sich. Ihr Lebensmut hatte sie verlassen.

Fiona war es, die verhinderte, dass ihr von der Trauer gequälter Geist die Realität verließ und in eine bessere Welt flüchtete. Ihr Kind brauchte sie und Melanie funktionierte. Sie blinzelte, um die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken.

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24.12.2020
Hier ist meine Weihnachtsgeschichte 2020. Heute, am heiligen Abend, schenke ich Euch, meinen Lesern, den ersten Teil. Viel Spaß dabei. Auf Eure Kommentare und Sternchen freue ich mich. Frohe Weihnachten.

Der WunschbaumWhere stories live. Discover now