Der Anruf

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Er hatte das Café schon verlassen und saß im Zug, während er immer noch darüber nachdachte, wer ihm dieses Handy geschickt haben könnte und was er von ihm wollte. Er hätte sein Vater sein können, hatte die Bedienung gesagt. Aber sein Vater war es bestimmt nicht. Sein Vater war tot. Gestorben als er noch ein kleines Kind war bei demselben Autounfall, bei dem auch seine Mutter ums Leben kam. Also konnte er es nicht gewesen sein. Aber wer sonst? Wen kannte er, der alt genug gewesen wäre, sein Vater zu sein und ihn so gut kannte? Ihm wollte einfach niemand einfallen, der über 50 Jahre alt war und dem es ähnlich gesehen hätte, ihm dieses Handy zu schicken.

Noch einmal sah er sich die Fotos durch. Dabei fiel ihm auf, dass eines zwei Mal abgespeichert war, am Anfang und am Schluss. Es zeigte ihn mit seiner Frau im Café an seinem Hochzeitstag letzte Woche. Er hatte sich zu diesem besonderen Anlass sein bestes Jackett angezogen und die schöne Uhr getragen, die er bei seinen alten Sachen gefunden hatte. Ob ihn der mysteriöse Unbekannte fotografiert und verfolgt hatte, weil es so ausgesehen hatte, als ob er viel Geld besaß? Aber warum hätte er ihm dann ein teures Handy schicken sollen?

Wie Jens es auch drehte und wendete, es ergab einfach keinen Sinn. Er war so in Gedanken versunken, dass er fast seine Haltestelle verpasst hätte. Hastig sprang er auf und stürmte mit seiner Aktentasche aus dem Zug. Nun hatte er es nicht mehr weit nach Hause. Jens entschloss sich, nicht mehr über den mysteriösen Unbekannten nachzugrübeln. Dafür war auch ein andermal noch genug Zeit.

Es sollte sich herausstellen, dass er sich geirrt hatte. „Hallo, Schatz!", rief Jens in sein trautes kleines Heim hinein, aber er erhielt keine Antwort. Das war ungewöhnlich. Seine Frau arbeitete als Erzieherin in einem Kindergarten und hatte dadurch normalerweise immer früher Schluss als er. Obwohl es natürlich auch schon vorgekommen war, dass sie danach noch mit ihren Kolleginnen ausgegangen war. Jens versuchte krampfhaft sich zu beruhigen, als er seine Frau nirgendwo in seiner Wohnung fand.

Müde ließ er sich in den Sessel gleiten. Was für ein Tag! Erst die vielen Meetings, dann das mysteriöse Handy und nun verspätete sich seine Frau. Er wollte gerade den Fernseher einschalten, als es klingelte. Er zog sein Handy aus der Hosentasche, doch der Bildschirm war schwarz. Verwundert starrte er es an. Dann fiel ihm ein, dass er das Handy des Unbekannten in seine Aktentasche getan hatte. Rasch holte er es hervor. Jemand rief dieses Handy von einer unbekannten Nummer an.

Jens zögerte. Für heute hatte er eigentlich genug Ärger gehabt. Doch schließlich siegte seine Neugier und er hob ab. „Hallo?", sagte er. Wenn der Anrufer ihm blöd kam, konnte er schließlich immer noch auflegen, dachte er. Eine elektronisch verzerrte Stimme antwortete ihm: „Jens Kirchner?" – „Ja?" – „Sie haben meine Frau umgebracht!" Jens fiel fast das Handy aus der Hand. Er hatte sich sicher verhört. „Wie bitte?" – „Sie haben meine Frau umgebracht!", wiederholte der Fremde. „Nein! Ich habe nie...umgebracht? Sie müssen mich verwechseln!", stammelte Jens.

„Ich verwechsele Sie nicht, Jens Kirchner. Sie haben meine Frau umgebracht! Jetzt töte ich Ihre. An dem Ort, wo sie sterben musste!", tönte die elektronisch verzerrte Stimme unheilvoll aus dem Telefon, bevor die Leitung unterbrochen wurde.

Der Zahn der Zeit - Wenn die Vergangenheit dich einholtWhere stories live. Discover now