Kapitel 95.3

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Audra schluchzte immer lauter und presste mich nur noch fester an sich. „Ich dachte, sie hätten dich getötet!", schluchzte sie kaum verständlich. „Ich dachte, sie hätten dich mir nun auch noch genommen!" Natürlich. Sie wusste mittlerweile, dass Aldric tot war. Liam hatte es ihr erzählt. Meine Lippen wurden zu einem schmalen Strich zusammengepresst. Er hatte es ihr nicht verschweigen können. Wie auch? Darum war sie so fertig. Sie trauerte um ihren Ehemann, der viel zu früh aus ihrem Leben gerissen worden war. Und brutal noch dazu. Und sie hatte das noch nicht einmal gemerkt, weil sie bereits in das Gefängnis gebracht worden war, bevor sie etwas davon mitbekommen konnte. Um dem Ganzen noch die Krone aufzusetzen, war Audra nun eine Flüchtige ohne ein Zuhause und ich, eines der Kinder, die sie aufgenommen hatte, war auch noch entführt worden. Kein Wunder, dass ihr all das so dermaßen zusetzte.

„Ich lebe.", murmelte ich in ihr rotes Haar, während ich Audra sanft weiter an mich drückte.

„Und das ist wunderbar!", schluchzte diese. Sie schien mich nie wieder loslassen zu wollen. Leise schniefte sie. Mittlerweile war meine Kapuze von ihren Tränen ganz nass. „Komm rein!" Langsam und widerstrebend ließ sie mich los, zog mich jedoch sogleich an der Hand durch die Tür. Erst dann, als sie die anderen Gestalten hinter mir entdeckte, bemerkte sie, dass ich gar nicht allein gekommen war. Ein überraschter Ausdruck trat auf ihr Gesicht.

Mein Bruder war der Erste, der herantrat. „Du bist Lucius.", stellte Audra fest. „Du warst dabei, als ihr mich aus dem Gefängnisbefreit habt." Lucius nickte knapp. Als Audra die anderen musterte, wirkte sie verwirrt. „Und wer seid ihr?"

Ernst trat Harlan vor. „Mein Name ist Harlan Scott und das hier sind meine Frau Michelle und unsere Kinder Sophia und Felix.", stellte er sich und seine Familie vor. „Freya, Lucius und wir sind ein Stück zusammen gereist."

Audra nickte leicht, während sie ihn musterte. „Audra Harris.", stellte sie sich kurz vor. „Kommt herein." Sie trat zur Seite und ließ alle eintreten. Im Gegensatz zu draußen war es im Haus widerlich warm. Dennoch verzog ich keine Miene. Sobald alle eingetreten waren, blickte Audra kurz aufmerksam nach draußen, als sie jedoch nichts Ungewöhnliches vorfand, schloss sie die Tür. Erst jetzt nahm ich den Flur genauer in Augenschein. Es war offensichtlich, dass das Cottage nur als Ferienhaus diente. Keine persönlichen Bilder hingen an den Wänden. Bloß irgendwelche gekauften Bilder, die wohl irgendwo hier in der Umgebung aufgenommen worden waren. Sie zeigten die Klippen und das Meer, aber auch die umliegenden Felder und Bauernhöfe. Ansonsten stand nur ein einzelnes schmales Schränkchen an der rechten Seite der Wand, auf dem zur Deko eine nichtssagende, billige Vase abgestellt worden war.

Wortlos, aber mit einem Lächeln auf den Lippen ging Audra voran. Dabei ließ sie meine Hand kein einziges Mal los. Es war, als fürchtete sie, dass ich bloß eine Illusion sei, die verloren ginge, sobald sie sie losließ. Sie öffnete die Tür, die am Ende des Flures gegenüber der Haustür lag. Sogleich durchflutete warmes Licht den zuvor finsteren Flur. Vor uns lag ein gemütlich eingerichtetes Wohnzimmer mit einer großen Fensterfront, die jedoch von Rollläden verschlossen blieb.

Das Wohnzimmer war nicht sonderlich groß. Zwei hellgraue Sofas passten hinein, die in einer L-Form um den dunkelbraunen kleinen Tisch aufgestellt worden waren. Rechts daneben gab es eine Essecke mit Esstisch und den dazugehörigen Stühlen. Daneben stand eine moderne Holzvitrine, die mit Büchern zur Umgebung gefüllt war. Ansonsten gab es noch einen Fernsehtisch und einen Fernseher, genau gegenüber der Sofaecke.

Sieben Personen saßen bereits auf den Sofas. Sie alle wirkten angespannt und blickten uns angriffsbereit entgegen. Als sie jedoch bemerkten, dass Audra keine Geisel war, entspannten sie sich ein wenig.

Keiner von ihnen sah aus, als wäre er ernsthaft verletzt. Das beruhigte mich. Sie alle wirkten wohlauf und vollkommen kampffähig. Ein unerwünschter Besucher hätte das jetzt wohl zu spüren bekommen. Doch Audras strahlendes Lächeln – es kam zumindest ein wenig an ihr altes Lächeln heran – ließ sie alle innehalten.

Dann fielen die Blicke auf meine vermummte Gestalt. Misstrauisch wurde ich beäugt, ehe Liam bemerkte, dass Audra meine Hand fest umklammert hielt. Irritiert runzelte er die Stirn. Ich konnte gar nicht sagen, wie erleichtert ich war, dass es Liam gut ging. Ein Stein schien mir vom Herzen zu fallen. Auch, wenn ich ihn für sein unüberlegtes Handeln während des Gefängnisausbruchs am liebsten eine reinhauen wollte.

 „Wer...?", fragte Liam misstrauisch, ehe er innehielt. Die Jäger hielten sich im Hintergrund. Ihre Blicke waren mehr als präsent und ihre Haltung sagte bereits aus, dass ich mit meinen Handlungen vorsichtig sein sollte. Bloß Kieran war noch angsteinschüchternder. Er war nur halb zu sehen. Seine Farben hatte er der Umgebung angepasst. Bloß seine dunklen Augen blitzten mir bedrohlich entgegen. Fast schon hatte ich vergessen, wie gefährlich er wirken konnte. Alles an ihm wirkte bedrohlich. Beinahe schon wie ein Raubtier, das seine Beute ins Visier genommen hatte. Es war unheimlich.

Schließlich kniff Liam leicht die rubinroten Augen zusammen. „Freya?", fragte er zögerlich. Als ich bestätigend nickte, war alle Anspannung auf einmal verschwunden. Fassungslos riss er seine Augen auf. „Unglaublich!", rief er aus und ehe ich mich versah, stand er bei mir und hatte mich Audra auch schon entrissen. Ein Seufzen der Erleichterung entschlüpfte ihm, als er mich fest an sich drückte. 

Freya Winter - MutantWo Geschichten leben. Entdecke jetzt