6. Ein Messer und ein Versprechen

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Goldküste
Chicago, Illinois

8. Juni

Es war drei Uhr früh, ehe in Yancys Schlafzimmer endlich das Licht ausging. Finn erhob sich aus seiner geduckten Haltung und streckte seine Beine aus. Es schmerzte, als das Blut wieder richtig zu zirkulieren begann, derart lange kauerte er schon auf dem Dach eines Nachbarhauses und beobachtete das Fenster.

Er bliess auf seine kalten Finger und schaute sich die umliegenden Häuser und Strassen an. Immer noch keine Dämonen. Das Schutzschild, das Yancy um sein Haus aufgestellt hatte, musste sehr mächtig sein. Ansonsten hätte ihn mit Sicherheit längst irgendetwas gefressen, während er darauf wartete, dass der Magier sich endlich zur Ruhe legte.

Er kontrollierte seine Waffen als er seinen steifen Nacken streckte. Die Prellungen an seinem Rücken protestierten und als er den einem Arm über den Kopf streckte, musste er die Zähne zusammenbeissen, um nicht zu stöhnen. Verdammte Kirche, verdammter Drache, verdammte Tankstelle. Wäre das Ganze gestern auch nur halbwegs nach Plan gelaufen, wäre er jetzt nicht auf diesem Dach gesessen. Sie hätten dieses verfluchte Versteck auch ohne den Magier finden können, keiner wäre verletzt gewesen und er hätte genügend Zeit gehabt das, was er meinte gestern bei der Kirche gesehen zu haben, zu untersuchen. Aber stattdessen war sein Plan komplett Bach ab gegangen, seine Schwester blieb verschwunden und der wohl gefährlichste Magier im ganzen Land hatte nun ein Fläschchen von Emmalyns Blut, was dieser obendrein offensichtlich noch eine Heidenangst einjagte.

Die Feuerleiter knarrte leise als er vorsichtig Stufe um Stufe an ihr herunterkletterte. Zwei Mal hielt er im Schatten Inne, um sicherzugehen, dass ihn nichts jagte, ehe er zu Boden sprang und geduckt über die Strasse huschte. Unten an der nächsten Kreuzung fuhr ein Auto vorbei, aber ansonsten war alles still.

Im Verlaufe der letzten Stunden hatte er sechs Mal versucht, die Schutzschilder um Yancys Haus in seinem Geist abzutasten. Eigentlich hasste er es, zu meditieren – langes Stillsitzen war noch nie seine Stärke gewesen – aber die Kopfschmerzen hatten sich dieses Mal gelohnt. Von der Strasse aus genügte ein einziger Steinwurf gegen die Barriere etwas zu seiner Rechten, dass das Energiefeld sich für einen winzigen Moment verschob und er unbemerkt hindurchtreten konnte.

Von da aus, war das Ganze ein Kinderspiel. Das Schloss der Eingangstür hatte er selbst vor wenigen Stunden mit nichts als einem einfachen Klebestreifen vorübergehend blockiert und jetzt brauchte er bloss die Klinge eines Messers zwischen den Türrahmen und die schwere Eichentür zu zwängen, dass diese geräuschlos aufsprang.

Der Flur des Hauses war schummrig und voller dunkler Schatten, als er sich vorsichtig durch die Tür schob. Er zweifelte nicht, dass irgendwo im Haus immer noch Diener herumlungerten, die sich zu hundert Prozent um ihren Meister kümmerten, aber die teuren Teppiche verschluckten jedes Geräusch und er begegnete keiner Seele, bis er vor Yancys Schlafzimmertür stand.

Er presste sein Ohr gegen die dicke Holztür. Kein Ton drang von innen heraus. Er wartete noch einen Moment, dann drückte er die Klinke nach unten. Der Magier regte sich nicht. Seine langsamen, regelmässigen Atemzüge waren das einzige Geräusch.

Yancys Schlafzimmer war ebenso prunkvoll eingerichtet wie der Rest des Hauses. Zwei Türen führten von der linken Seite aus in ein Badezimmer und einen grossen Kleiderschrank. Das eigentliche Zimmer an sich war so gut wie leer, abgesehen von einem grossen Ohrensessel und dem Baldachinbett aus dunklem Holz, das mitten an der Wand gegenüber der Tür stand. Die Fensterfront zu seiner linken hätte eine grossartige Aussicht auf den See geboten, jetzt aber fiel einzig durch einen schmalen Spalt in den dicken Vorhängen ein Strahl Mondlicht auf den Teppich.

Die verlorene ProphezeiungOù les histoires vivent. Découvrez maintenant