Plötzlich und ohne Vorwarnung ertönt ein lauter, durch Mark und Bein gehender Schrei. Dora zuckt zusammen und dreht ihren Kopf ruckartig.
Mit geweiteten Augen blickt sie zum Waldrand.
Langgezogen erklingt er in der Stille der Nacht und Dora weiß, ohne überlegen zu müssen, wer da schreit.
Gerade als sie alle Vorsicht fallen lassen und ihr Versteck verlassen will, sieht sie wie Anna dem Ältesten fast anerkennend auf die Schulter klopft und die beiden sich vom Waldrand abwenden.
In Windeseile zieht sich Dora mehr in den Schatten des Baumes zurück und hält die Luft an.
Das Blut rauscht laut in ihren Ohren und sie gibt sich alle Mühe mit dem Stamm zu verschmelzen, während die beiden langsam an ihm vorbeigehen.
Doras Herz setzt aus, als sie mit ihr auf gleicher Höhe sind.
Sekunden, die sich wie ein kleine Ewigkeit anfühlen vergehen, während Dora sich um den Stamm schiebt. Weder Anna noch der Älteste bemerken sie. Langsam gehen sie an der Kastanie vorbei und als sie außer Sichtweise sind, erhebt sich Dora vorsichtig.

Immer wieder wirft sie einen Blick über die Schulter, während sie in gebeugter Haltung zum Waldrand läuft. Vor ihm bleibt sie stehen, blickt nochmal zurück, atmet tief ein und schiebt sich dann durch das Unterholz.

Es ist, als betrete sie eine fremde Welt. Ihre Umgebung wirkt kalt und dunkel. Sonst mochte sie den Wald immer, doch nun wirkt er anders auf sie. Bedrohlicher, feindseliger.
Vorsichtig setzt Dora einen Fuß vor den anderen, als sie tiefer hineingeht. Der Mond schafft es kaum seine Strahlen gen Boden zu schicken. Auch wenn es Winter ist und die Baumkronen kahl sind, wirkt es auf Dora so, als griffen die Zweige ineinander, als wollten sie das Licht aussperren.

"Kala?", traut sich Dora nach einiger Zeit in den dunklen Wald zu flüstern. Auch, wenn die Zweige es dem Mondlicht schwer machen, ganz können sie sein Licht nicht ausschließen und dafür ist Dora dankbar. So kann sie zumindest schemenhaft die Stämme der Bäume und die Konturen der Büsche erkennen.

"Kala, bist du hier? Sag doch was?", fragt sie nun in normaler Lautstärke, doch zu rufen traut sie sich nicht. Zu groß ist die Angst, dass man sie doch noch erwischen könnte.

Dora geht tiefer in den Wald hinein, sagt immer wieder Kalas Namen und kommt nicht umhin bemerken zu müssen, dass der Wald sich immer mehr verändert.
Es wird merklich stiller.
Zuvor hörte sie das Rascheln von Tieren und den Hauch des Windes. Mittlerweile sind alle Geräusche verstummt, selbst der Wind, als wolle er sich hier nicht aufhalten.

Noch nie war Dora so tief im Wald und je stiller es um sie herum wird, desto größer wird das Unwohlsein.

Sie blickt hin und her.
Fröstelnd reibt sie sich über die Arme.
"Kala?", piepst sie und bleibt stehen, "Kala bitte, sag was."

Ein Knacken ertönt. Hinter ihr, in der Nähe.
Dora wirbelt herum und blickt in die Dunkelheit.
Sie wagt nicht zu atmen, als sie in die Richtung blickt, aus der sie das Knacken vermutet.
"Kala, bist du das?", haucht sie und geht einen Schritt, bleibt dann aber wieder stehen.

Erneut ertönt ein Knacken, lauter als das Erste.
Dora stolpert zurück und ohne zu überlegen was sie tut, dreht sie sich um und rennt los.
Zweige schlagen ihr ins Gesicht, hinterlassen ein stechendes Gefühl auf ihrer Haut, als sie blind davon läuft.
Ganz leise flüstert eine Stimme in ihrem Kopf, dass das Knacken auch von Kala stammen könnte. Sie könnte verletzt sein und kann nicht anders auf sich aufmerksam machen.

Schlitternd bleibt Dora stehen und rauft sich die Haare, während sie hin und her blickt und nicht glauben kann in was für einer Situation sie sich befindet. Sie hatte sich diese Nacht ganz anders vorgestellt.
Dora schüttelt sich, "Ich muss einen klaren Kopf bewahren", sagt sie sich, "Hier ist nichts!"

Dora dreht sich wieder um und geht festen Schrittes zurück in die Richtung, aus der sie kam, die Brust vorgestreckt und das Kinn erhoben, doch je weiter Dora zurück geht, desto mehr ergreift sie wieder die Unsicherheit.
Sie versucht dieses Gefühl abzuschütteln und bevor sie es sich anders überlegen kann, ruft sie laut Kalas Namen.

Ihre Stimme hallt in der Luft wieder und verklingt.
Wartend steht Dora da und sieht sich um.

Plötzlich wirbelt sie herum, als sie hinter sich ein Rascheln wahrnimmt.
"Kala?", fragt sie und geht ein Schritt. Doch das Rascheln verweilt nicht. Nein, es bewegt sich im Schutz der Dunkelheit um Dora herum.

Sie dreht sich mit, verfolgt das Rascheln mit ihrem Blick.

"Kala", sagt sie mit fester Stimme, "Hör auf mir Angst zu machen! Wir haben keine Zeit für Spielchen!"

"Wirklich nicht?", erklingt plötzlich eine kühle Stimme, "Bis jetzt hatte ich recht viel Spaß."

"Was?", keucht Dora und stolpert zurück. Sie hatte mit allem gerechnet; mit einer fiesen oder verletzten Kala, einem Wildschwein oder einem alptraumhaften Wesen, das durch die letzten Momente ihrer Fantasie geboren wurde, doch sie hatte gewiss nicht mit einem anderem Menschen gerechnet.

Wer war er und was machte er hier?

Zweige knacken, als sich der Besitzer der Stimme aus dem Unterholz schiebt. Einige Meter vor Dora bleibt eine schemenhafte Gestalt stehen.

"Wer seid Ihr?", fragt sie mit zitternder Stimme. Die Gestalt gibt einen schnalzenden Ton von sich und geht einen Schritt auf Dora zu.
Diese weicht zurück, streckt den Arm aus und ruft: "Kommt nicht näher!"

Doch die Gestalt kommt näher, langsam, geradezu animalisch.
Dora weicht zurück, die Silhouette nicht aus den Augen lassend.
Plötzlich und ohne Vorwarnung macht diese einen Satz nach vorne und stürmt auf Dora zu.
Erschrocken schreit sie auf, dreht sich um und rennt davon.
Verfolgt von dumpfen, schnellen Geräuschen, bei denen Dora nicht den Kopf drehen muss, um zu wissen, dass ihr Vorsprung gering ist.

Sie spornt sich an, fordert all ihre Kräfte auf ihre Beine schneller werden zu lassen. Laut jaulend zieht sie das Tempo an und fliegt praktisch über den Waldboden, während ihr Herz so laut in ihrer Brust hämmert, dass das Blut in ihren Ohren rauscht.

Plötzlich schiebt sich etwas in ihren Weg.
Schlitternd kommt sie zum Stehen und ihre Augen weiten sich vor Entsetzen. Bevor sie sich  abwenden und einen neuen Weg einschlagen kann, setzt ein Schmerz ihren Körper in Flammen. Unbarmherzig breitet sich dieser aus. Ein gellender Schrei hallt durch die friedliche Nacht. Der Blick geht hinauf zu dem nachtblauen Himmel, der sich schwarz färbt.

Ein letzter Atemzug, ein letztes Pochen, das in der Nacht verklingt.

When the snow falls - Band 1Where stories live. Discover now