86 - Wut und Stille

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Blut rauschte in seinen Ohren. Vor Adrenalin war seine Sicht gestochen scharf. Mit zitternden Fingern kletterte er weiter, immer höher und höher hinauf, bis die Straße in dem tödlichen, schneeweißen Dunst des Gases versank.

Als sie oben standen - alle mit rasendem Puls, schweißgebadet und keuchend - war es, als ob sie auf einer Insel in einem unheimlich stillen, hellen Meer stehen würden. Weiße Schwaden bedeckten die Erde und gingen irgendwo in den aschgrauen Himmel über. Die Soldaten verweilten nur ein paar Wimpernschläge, bevor sie die Breite des Wolkenkratzers abliefen.

Die Himmelsdiebin war nichts weiter als ein Schatten, dessen Konturen vom Nebel verwischt wurden wie dunkle Aquarellfarbe von Wasser. Sie schien zwischen den beiden Betonkolossen mitten in der Luft zu schweben, so weit weg, dass Julian sie kaum noch sehen konnte.

Alles in ihm zog sich zusammen. Er hätte das verhindern müssen.

„Ich gehe", keuchte er, nachdem er kurz prüfend mit den Fingern über die Halterung des Drahtseils gestreift hatte. Gute Arbeit.

„Das ist keine gute Idee", widersprach Lukas einmal mehr, diesmal nicht so halbherzig wie zuvor.

Der einzige Blaue im Außenbezirk drehte sich zu seinen grünen Begleitern um. Er hätte sie an seinen Rang als ihr General erinnern können. Es stellte sich nur die Frage, ob er das zu diesem Zeitpunkt überhaupt noch war.

„Ich bin mit Abstand der beste Kletterer hier", sagte er anstelle eines direkten Befehls, zog eine Rolle von seinem Gürtel und hängte zwei Karabiner in das Drahtseil ein.

Er musste davon ausgehen, dass es auch auf der anderen Seite gut vertäut war. Julian hatte gar keine Wahl, er musste der Farblosen und ihrer Konstruktion vertrauen. Langsam ließ er sich in das Seil fallen, eine behandschuhte Hand an der Rolle, um seine Geschwindigkeit zu regulieren.

Der Nebel war schrecklich, obwohl er für Julian nicht tödlich war. Er kroch ihm sauer in Mund und Nase, ließ seine Augen tränen. Immerhin konnte er so nicht sehen wie weit er fallen würde, falls das Drahtseil nachgeben sollte. Das Metall ächzte, als er sich auf Cress zubewegte, langsam und vorsichtig, obwohl er sie so schnell wie möglich hier in Sicherheit bringen wollte. Meter um Meter entfernte er sich von seinen Freunden und glitt hinein in das unnatürlich stille Nebelmeer.

„Cress", seine Stimme wurde von Millionen kleiner Flüssigkeitstropfen verschluckt.

Ihr Kopf war nach vorne gekippt, feuchtes, schwarzes Haar verbarg ihr Gesicht. Sie hatte keinen Klettergurt, nur diese Rolle und die Hände in einer Schlaufe zusammengebunden. Es musste unglaublich weh tun. Sie musste geschrien haben und keiner hatte sie gehört. Keinen hatte es interessiert. Seine Hände verkrampften sich um das Drahtseil.

Er kam so knapp vor ihr zum Stehen, dass er sehen konnte, wie blau ihre zierlichen Fingerspitzen geworden waren, wie blass ihre Oberarme, wie sehr die blauen Venen und das scheinbar tiefschwarze Tattoo hervorstachen. Sie roch nach Schweiß und immer noch nach seiner Seife. Für einen Moment wurde ihm so übel, dass er die Zähne zusammenbiss und die Augen schloss.

Dies war seine Schuld.

„Ich hab' dich", flüsterte er in das Nichts.

Sein Herz schlug schnell und heftig genug für zwei Menschen, als er sie hochhob.

Ihre schwarze Kleidung war nass von Nebel und Schweiß. Sie trug seine Jacke, die nun über und über mit Glas- und Betonsplittern überzogen war. Er wollte sich gar nicht vorstellen, wieso. Ihr Körper war dicht an ihn gepresst, ihr Kopf nach hinten auf seine Schulter gesunken, als er die Schnallen an dem zweiten Klettergurt um ihre Beine festzog und den Karabiner einhakte. 

Dann erst wagte er es sich ihren Händen zu widmen. Ihre Hände. Sterne, wenn sie ihre Hände je wieder benutzen können würde, wäre es ein Wunder. Am liebsten hätte er einfach geschrien, hätte hier, mitten in der Luft, einen Wutanfall bekommen, wie ein kleines Kind. Er wäre in Flammen aufgegangen, hätte sämtliche Grenzen eingeäschert, die ihn davon abhielten. Doch er tat es nicht.

Es tat ihm leid, Himmel, es tat ihm so leid, was ihr geschehen war. Er wollte toben und er wollte weinen. Wann hatte er das letzte Mal geweint? Er wusste es nicht mehr.

Einen Arm um ihre Taille arbeitete er sich zurück zu den Soldaten. Lukas zog Julian zurück auf das Dach des Wolkenkratzers, sichtbar erleichtert, dass nichts schiefgegangen war.

„Sterne seid gnädig", murmelte der Soldat, als er Cress sah, „Das arme Mädchen."

Julian zog einen der Dolche, die sie im Wasserjet gelagert hatten, von seinem Gürtel, während er sie immer noch hielt, sodass so wenig Druck wie möglich auf ihre Arme wirkte.

„Die Handgelenke sind vermutlich gebrochen, viel zu wenig Blut in den Fingern, vielleicht sind schon welche abgestorben", merkte May durch das Headset an.

Hilfreich. Lukas und Julian legten Cress auf das Dach. Sie atmete wirklich noch, ihr Puls war schwach, aber vorhanden. Julian konnte sich nicht dazu bringen seine Finger wieder von ihrem Handgelenk zu nehmen. Sanft strich der Kronprinz über das Tattoo, während der blonde Soldat kopfschüttelnd zurücktrat.

„Wie bei den Sternen hat sie das überlebt?!"

„Ich weiß es nicht", flüsterte Julian, schloss seine Hand um ihre eiskalten Finger.

Sie litt. Selbst in der Ohnmacht hatte sie eine scharfe Falte zwischen den Augen, die Zähne gebleckt wie ein Raubtier. Und trotzdem glaubte er, dass sie das Schönste war, was er je gesehen hatte.

Lukas führte einen zusätzlichen Schnelltest durch, ob Cress und Julians Blutgruppen kompatibel waren, bevor er die Nadel in die Vene des Kronprinzen drückte. Verräterisch dunkel strömte das Blut eines Blauen durch den dünnen Plastikschlauch in den regungslosen Körper einer Farblosen. Während sein Blut in ihre Adern rann, hielt der Kronprinz die Diebin fest im Arm. Er konnte nur hoffen, dass sie dem Gift noch Herr werden konnten.

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