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„Weißt du, was das Schlimmste daran ist?", stellt Aly die Frage anscheinend mehr zu sich selbst als zu mir, denn sie antwortet fast sofort: „Dass ich in diesem Dilemma gefangen bin. Ich möchte zwar nach Hause kommen, aber andererseits will ich auch nicht direkt so viel Geld ausgeben. Ein Wochenende zuhause würde mich 100 Euro kosten. Einhundert Euro!". Sie nimmt einen Schluck aus ihrer Tasse mit heißer Schokolade, während ich gleichzeitig einen Schluck meiner Brühe trinke und gleich danach von meinem Lebkuchen abbeiße. Hm, ich liebe diese Dinger.

„Ich meine, warum sind die Züge am Wochenende überhaupt so teuer? Die kommen doch eh nie pünktlich." Die Hände hochwerfend sieht sie in die Kamera. „Hörst du noch zu?"

„Hmm mh", antworte ich mit vollem Mund, versuche aber so schnell wie möglich zu schlucken, um ihr zu antworten. Ich gestikuliere derweil wild mit den Händen als Zeichen, dass ich es auch nicht verstehen kann.

„Also natürlich hab ich erstmal Geld, solange ich noch arbeite, aber das ist in ein paar Wochen auch vorbei."

„Ja, aber so wie ich dich kenne, wirst du dein Geld horten wie dein Hamster damals sein Futter. Ich denke, du machst dir zu viele Gedanken. Wie du sagst, noch hast du doch Einkommen. Und vielleicht schaffst du es sogar während des Studiums, dir einen Nebenjob zu suchen. Dann wär das alles kein Problem mehr. Lass es erstmals auf dich zukommen." Ich nehme den letzten Bissen meines Lebkuchens und verkneife mir, ein genießerisches Stöhnen von mir zu geben.

„Wahrscheinlich hast du Recht." Aly hat in der Zwischenzeit zwei Nagellackfarben rausgesucht. „Welche?" Sie sitzt mit beiden Knien umarmend auf ihrem Schreibtischstuhl und hält mir die zwei Farben in die Kamera. Ein sattes Dunkelrot und ein Altrosa. „Rosa - Rot ist zu herbstlich." Ich deute auf ihre rechte Hand, in der sie den rosafarbenen Nagellack hält. Ich kenne tatsächlich niemanden, der so multitaskingfähig ist wie meine beste Freundin. Einmal hat sie es geschafft, sich während des Rennens zur Bahn gleichzeitig ihren Kaffee in sich rein zu schütten und sich ihren Lieblingslippenstift aufzutragen, während ich damit beschäftigt war, mich darauf zu konzentrieren, beim Laufen nicht über meine eigenen Füße zu fallen und gleichzeitig genügend Luft zu holen. Aber hey, wir haben die Bahn bekommen.

„Wie gehts dir denn überhaupt, mein Schatz? Du hörst dich ziemlich fertig an." Sie blickt mir besorgt ins Gesicht und steckt sich gleich darauf die Kappe des Nagellacks in den Mund und beginnt, ihre Nägel anzumalen.

Wahrscheinlich meint sie meine heisere Stimme. Wie schafft es jemand, sich mitten im Spätsommer bei gefühlt 100 Grad Celsius, zu erkälten? Eigentlich trinke ich doch genug. Und ich gebe mir auch Mühe, mich nicht allzu schlecht zu ernähren. Von meinem Händewasch- Zwang ganz zu schweigen. Warum tust du mir das an? Genau jetzt?

Hast du gerade wegen mir die Augen verdreht?" , nuschelt Aly und unterbricht ihre Lackier-Aktion, kommt mit dem Gesicht näher an meinen Bildschrim und zieht dabei die rechte Augenbraue ein Stück hoch. Gott, wie ich sie vermisse.

Ich lächle und verdrücke mir ein Lachen. „Nein, tut mir leid, ich hab gerade nur meinen Körper gefragt, wie er mir das jetzt antun kann. Du bist ausnahmsweise mal nicht schuld." Mein Grinsen wird breiter. „Also eigentlich gehts mir gar nicht mal so gut. Aber ich versuche viel zu trinken und zu schlafen. Dadurch hatte ich nur etwas Stress mit dem Lernen." Ich darf gar nicht dran denken.

Nachdem sie anscheinend mit der ersten Schicht ihrer linken Hand fertig ist, nimmt sie endlich die Kappe aus dem Mund. „Bist du schon aufgeregt wegen morgen?" Ich glaube, die Frage ist überflüssig. Diese Prüfung könnte darüber entscheiden, ob ich einen Studienplatz bekomme oder nicht. Sie könnte der entscheidende Faktor dafür sein, dass ich meinem Traum nachgehen kann. In diesem Moment wird mir erneut bewusst, wie wichtig das für mich ist und sofort schleicht sich das grauenhafte Gefühl ein, nicht genug vorbereitet zu sein. Ich hätte mehr lernen sollen. Ich hätte nicht so viel schlafen sollen.

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