Wenn Die Götter Blinzeln

Aris

Man nehme 150 kleine Lachfalten, die Haut einer panzerlosen Schildkröte und Hände, die ihr Leben lang nichts anderes als 'gegeben' haben.

Die Kombination aus diesen drei Attributen heißt 'Aris'.

Aris hätte nie gedacht, dass je einmal eine Geschichte mit seinem Namen anfängt. Erstens kann er kaum lesen und zweitens ist er schlicht und ergreifend zu schlicht.
Eine Geschichte braucht schwerterschwingende Helden und achtköpfige Seeungeheuer, eingebildete Gelehrte auf Reisen und wunderschöne Damen in Ballkleidern.

Das Problem war nur, dass sich der schwerterschwingende Held soeben noch orientierungslos in den Bergen herumtrieb, das achtköpfige Seeungeheuer ungeduldig auf besagten Helden wartete und der eingebildete Gelehrte damit beschäftigt war, sich über eine Schiffsreling zu erbrechen, und nicht bemerkte, dass acht Köpfe mit 440 rasiermesserscharfen Zähnen vor ihm aus dem Wasser ragten.
Einzig und allein die wunderschöne Dame im Ballkleid tat was sie sollte: Hübsch aussehen und lautstark fluchen, während sie wild vor Panik unter Deck nach einem Schwert, einer Armbrust, oder sonst einer Waffe suchte, die achtköpfigen Seeungeheuern den Garaus machen könnte.

Einer hat sich verlaufen, einer kotzt und eine rennt kopflos unter Deck herum.

Der Bericht über unsere vier Protagonisten war kurz. Hatte es nicht einmal auf die Titelseite der Lokalzeitung geschafft.
Als Aris' Enkelsohn ihm den Artikel "Seemonster Versenkt Frachtschiff" vorlas, rolle der alte Mann lediglich mit den Augen und verlangte kurz darauf, er solle ihm in den Kleinanzeigen ein neues Fischernetz finden.

Fische. Aris kannte Fische.
Von klein auf.
Fische waren essbar und mit essbaren Dingen lässt sich Geld verdienen.
Wenn er früh morgens mit seinem kleinen Kahn aufs Meer hinaus zog, gab es keinen Felsen, keine Strömung und keine Möwe, die ihn nicht kannte.
Einen Zustand wie 'orientierungslos', oder 'abgelenkt' gab es in Aris Vokabular nicht.
Wer mitdenkt, stellt fest, dass ein alter, schrumpeliger Küstenfischer um einiges qualifizierter war, als schwerterschwingende Helden und eingebildete Gelehrte, wenn es um Seeungeheuer und dergleichen geht.

Natürlich wäre wahrscheinlich irgendwo in z.B. Timbuktu ein Seeungeheuer-Spezialist im Besitz einer selbstgebauten Seeungeheuerharpune zu finden, jedoch befinden wir uns nicht in Timbuktu, und in unserem kleinen Ort gab es nun mal Aris.

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Es ist drei Uhr morgens, und Aris macht sich auf den Weg zum Hafen.
Eine massige, in einen tiefroten Mantel gehüllte Gestalt wartet mäuschenstill hinter einem Mauervorsprung, und beobachtet den alten Mann. 
Als Aris um eine Ecke verschwindet, eilt sie ihm gebückt und mit peinlich laut scheppernden Gepäck auf dem Rücken hinterher (als Leser wäre ich sehr überrascht, wenn Aris den unglücklichen Verfolger nicht bemerkt hätte).

Am Hafen angekommen drehte er sich auf dem Absatz um und spähte angestrengt in die Dunkelheit.
"Wer ist da?", rief Aris mit dem Selbstbewusstsein eines Mannes, der nichts als Knöpfe und Butterbrotpapier in den Taschen hatte.
Es schepperte hinter einem Haufen ausgemusterter Krabbenfallen, als die Gestalt verlegen von einem Fuß auf den anderen trat.

"Wer ist da!", ruft Aris erneut, dieses mal lauter.

Der Verfolger in Rot trat mit großen Schritten und dem Selbstbewusstsein eines Mannes, der sich einredet, selbstbewusst zu sein, in das fahle Licht des morgendlichen Mondes.
Er holte tief Luft und verkündete unangemessen feierlich: "Fürchte dich nicht, alter Mann, denn ich komme als Freund und Retter!"

Aris Körperhaltung entspannte sich merklich und resigniert drehte er seinem Retter den Rücken zu. Er machte sich auf den Weg zum Steg, kopfschüttelnd.

"Alter Mann, wage es nicht allein auf's Wasser! Dunkle Gestalten lauern dort und zwei meiner Freunde sind dem Monster zum Opfer gefallen!"

Aris Augenbrauen hoben sich interessiert.
So wie es aussieht, hat der schwerterschwingende Idiot den Weg aus den Bergen gefunden.