Unberührbar - Noli me tangere

Kapitel 2

Der Keller lag in schweigender Dunkelheit, die Bretter, mit denen das winzige Fenster vernagelt war, sperrten den Morgen aus und beließen die Schlafenden in einem Traum von besseren Zeiten. Einzig ein dünner Strahl der Morgensonne fand den schmalen Spalt zwischen zwei Brettern, zwängte sich hindurch, streifte flüchtig den Jungen und kitzelte die Nase des Mädchens. Es öffnete die Augen.

Jorne lag weniger als eine Armlänge von Elin entfernt, das Gesicht ihr zugewandt, die Augen geschlossen und ein schönes Lächeln auf den Lippen. Sie zuckte zusammen und rutschte hastig von ihm fort. Wie leichtsinnig sie doch gewesen waren, sich in diesem kleinen Raum voller Gerümpel so nah beieinander schlafen zu legen. Nicht auszudenken, wenn einer von ihnen sich traumverloren an den anderen geschmiegt hätte.

Elin schloss die Augen, suchte noch einmal nach ihrem Traum, der sie zurückbrachte in diese schönere, unschuldigere Welt, doch ihr Magenknurren hielt sie im Diesseits und so erhob sie sich schließlich. Ihr Rucksack lag neben der Tür, eng an seinen geschmiegt, und dieser Anflug von Eifersucht, der sie piesackte, ließ sie ihre Sehnsucht nur umso deutlicher empfinden. Sie schlich hinüber und kramte behutsam im Inneren der Tasche, bis sie die Packung Zwieback gefunden hatte. Zwieback. Sie schluckte.

„Guten Morgen, mein Schatz." Alma beugte sich über die noch schlafende Siebenjährige und küsste sie sacht auf die Stirn. „Happy birthday." Eine lange Strähne ihres dunklen Haares löste sich aus der Haarklammer und strich dem Mädchen sanft über die Wange.

Elin öffnete ihre Augen, setzte sich im gleichen Moment auf, schlang die Arme um ihre Mutter und gähnte.

„Komm, mein Schatz, dein Frühstück wartet in der Küche auf dich." Alma zog die Decke ans Fußende, während Elin sich einrollte wie ein kleines Kätzchen.

"Och, Mama, sonst krieg ich doch auch mein Geburtstagsfrühstück im Bett."

"Sonst kommt auch nicht Papa extra fürs Frühstück nach Hause." Alma verschränkte die Arme und grinste.

"Papa?"

Als Alma nickte, sprang Elin aus dem Bett und rannte ins Badezimmer, während ihre Mutter lachend ein paar Anziehsachen herauslegte.

Auf dem Küchentisch stand neben dem Geburtstagsschokokuchen eine Schüssel mit Tomaten-Käse-Rührei und ein Teller voller Blaubeerpfannkuchen. Dazu eine Kanne mit Vanillesauce und warmer Kakao.

"Wo ist er?", fragte Elin und drehte sich zu Alma um. Noch ehe diese antworten konnte, wurde die Haustür bereits aufgeschlossen.

„Papa!" Sie rannte ihm entgegen, flog in seine Arme und stieß im Fallen mit dem Kopf gegen die Tür. Er lag unter ihr, das Lächeln, das sie so an ihm liebte, noch im Gesicht, und in seinen Augen verlosch das Leben.

An dem Tag hielt die Seuche Einzug in ihre Familie.

Mit dem Zwieback in der Hand drehte Elin sich um und sah, dass mittlerweile auch Jorne wach war und sich aufgesetzt hatte. Er fuhr sich ein paarmal durchs Haar und lächelte sie an.

„Guten Morgen."

Allein der Klang seiner Stimme ließ ihr Inneres beben.

„Guten Morgen." Sie nahm sich zwei Stücke Zwieback und stellte die Packung auf den Boden, näher zu Jorne, und setzte sich auf ihren Schlafplatz. „Wir dürfen nicht so nah beieinander schlafen", sagte sie und biss in ihr Frühstück, stellte sich vor, es wäre einer der Pfannkuchen, die sie vor zehn Jahren nicht mehr hatte essen können.

„Warum?" Er schnappte sich die Zwiebackpackung und nahm einen heraus.

„Einer von uns beiden hätte bloß den Arm ausstrecken müssen, um den anderen zu berühren."

Er hielt mit dem Kauen inne und sah sie erschrocken an. „Es tut mir leid", murmelte er schließlich und senkte den Kopf.

Elin schluckte. Sie wollte aufstehen, hinübergehen zu ihm, sein Gesicht streicheln, seinen Nacken, seinen Rücken, wollte seine Haut spüren, seinen Atem, seine Hände auf ihrer Haut, wollte ihn küssen, ihn ... Sie biss sich auf die Zunge, damit der Schmerz die Sehnsucht vertrieb. Diese verflixte, schmerzliche, tödliche Sehnsucht. Sie musste ihn wegschicken und konnte doch nicht einen weiteren Tag ohne ihn sein.