Teil 2/2

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Alyssa blieb wie erstarrt stehen. Diese leuchtend blauen Augen, diese dunklen Haare, sie erweckten etwas in ihr. Als wäre sie schon einmal in genau dieser Situation gewesen. Nur die vielen Narben im Gesichts des Jungen, der in der Tür stand, diese waren ihr fremd. Trotzdem, der Junge, das Haus, die Uhr, alles hier musste einen Sinn haben. Alyssa spürte, dass sie Erinnerungen mit all dem verband, auch wenn sie nicht wusste, welche.

„Du bist also endlich hier...", sagte der Junge. Seine Stimme klang erstaunlich hell und eher wie die eines achtjährigen, obwohl er sichtlich älter war. Doch auch diese Stimme, sie war Alyssa vertraut. Sie bekam ein schlechtes Gefühl im Bauch. Es waren Schuldgefühle, eine Menge davon. Warum hatte sie Schuldgefühle? Immerhin hatte sie gar nichts gemacht, zumindest nichts, von dem sie wusste. Unsicher trat Alyssa einen Schritt zurück.

Wenn sie wegrannte, vielleicht verschwanden auch diese ekelhaften Gefühle. Doch der einzige Ausgang aus diesem Haus war die Tür, in dessen Rahmen der Junge gerade lehnte.

„Versuch nicht wegzulaufen. Es gibt keinen Ausweg. Du musst dich endlich stellen.", fuhr der Junge fort. Den letzten Satz davon flüsterte er eher. Trotzdem verstand Alyssa ihn einwandfrei, denn jetzt war es mit dem Verschwinden des Uhrentickens vollständig still geworden. Doch sie wünschte, sie hätte ihn nicht verstanden. Seine Worte machten sie Angst. Es war lächerlich, aber sie war kurz davor, in Panik zu geraten. Tief in sich spürte Alyssa das er Recht hatte, auch wenn sie nicht mal wusste, wovon er überhaupt sprach.

Der Junge wendete seinen Blick nach unten. Er sah schon fast etwas enttäuscht dabei aus. Dann seufzte er.

„Du hast Angst vor mir, nicht wahr? Weil ich dir bekannt vorkomme, du aber keine Ahnung hast, wer ich bin. Ich glaube aber, dass du es eigentlich weißt. Du willst es nur nicht wissen."

Dann murmelte er etwas Unverständliches.

„Die Rose...", sagte der Junge Nachdenklich.

„Was ist mit der Rose?", fragte Alyssa immer noch verängstigt.

„Du hättest die Rose loslassen müssen. Doch das wolltest du nicht. Stattdessen hast du sie fest gehalten und sie ausgerissen. Am Ende hattest du dich daran verletzt. Blut ist von deinen Fingern geflossen. Und die Rose? Die konnte nicht ihre Ruhe finden. Am Boden hast du sie liegen lassen."

Alyssa sah ihn überrascht an. Woher wusste er genau, was geschehen war? Hatte er sie beobachtet? Außerdem, es war doch nur eine Pflanze gewesen. Nichts weiter.

Plötzlich wurde ihr klar, wer ihr gegenüberstand. Zumindest teilweise. Sie kannte den Jungen, der vor ihr stand.

„Malik..."

Der Junge begann, leicht zu lächeln. „Dir ist es also endlich eingefallen. Ein guter, erster Schritt."

Er hielt kurz inne, dann fuhr er fort: "Ich möchte jetzt, dass du in die Zeitung schaust."

„Warum?", fragte Alyssa. Auch wenn ihr Maliks Name eingefallen war und ihr klar war, dass sie irgendeine Verbindung zu ihm hatte, sie war immer noch etwas misstrauisch. Irgendwie fing alles plötzlich an, so unwirklich zu wirken. Vielleicht hatte es das schon die ganze Zeit, aber es war Alyssa einfach nicht aufgefallen.

„Mach es einfach. Bitte, für mich."

Alyssa nickte zögerlich. Es war wohl nichts dabei, einmal in die Zeitung zu schauen. Außerdem schien es Malik wirklich zu wollen, deshalb ging sie auf den Schreibtisch mit der Zeitung zu.

Die Zeitung war das einzige in diesem Haus, dass noch relativ neu erschien. Sie war auf den 23.5.2020 datiert. Alyssa überflog die Seiten, die schon aufgeschlagen waren. Auf einmal blieb ihr Blick an einer Titelzeile hängen.

„Schwerer Autounfall auf Landstraße: Geschwister krachen in unbewohntes Gebäude"

Mit aufgerissenen Augen überflog sie den Artikel, ihre Hände, mit denen sie sich am Schreibtisch abstützte, begannen zu zittern. Schon wieder eine Zeile, die ihre Aufmerksamkeit auf sich zog.

„16-jähriger tot, 17-jährige im kritischen Zustand."

Alyssa begann, hektisch zu atmen. Auch dieser Unfall, es kam ihr so vor, als hätte sie schon einmal davon gehört. Mehr noch... Nein. Nein, das konnte nicht sein. Sie begann, leise zu lachen. Das war abwegig, niemals. Ihr Lachen wurde allmählich lauter. Was war das alles hier überhaupt? Wollte man sie verarschen? Doch ihr Lachen verstummte, als sie einen Blick auf das Bild warf.

Ein ziemlich zerstörtes, silbernes Auto, in der Wand eines kleinen, steinernen Häuschens. Bis auf das heruntergekommene Häuschen waren Blumen, soweit das Auge reichte. Einige Meter weiter entfernt boten dichte Baumkronen Schatten. Rosen, welche wild an einem Holzgerüst an der Hausmauer herumwucherten.

Sie kannte das Bild, da sie in dem Bild war. Sie lag inmitten der bunten Blumen auf dem Boden. Auch wenn man sie auf dem Bild nicht sah, das Haus verdeckte sie. Aber Alyssa wusste, dass sie dort lag.

Sie sank auf den Boden und riss die Zeitung mit sich hinunter. War das alles hier überhaupt Wirklichkeit? Wie konnte sie in dem Haus sitzen, wenn sie es selbst zuvor zerstört hatte? Wenigstens war sie hier mit ihrem Bruder. Er wusste sicherlich mehr als sie, was es mit dem Artikel auf sich hatte.

„Malik?"

Als er nicht antwortete, drehte sich Alyssa um. Sie war allein in dem Raum, es war wieder still geworden. Nur das leise Ticken der goldenen Uhr war wieder aufgetaucht. Tick, Tack, Tick, Tack. Wohin war ihr Bruder verschwunden?

Tick, Tack, Tick, Tack. Alyssas Gedanken wurden von dem immer lauter werdendem Ticken der Uhr unterbrochen. Es schien, als würde es sich den Weg zu ihr bahnen um in ihren Kopf einzudringen. Alyssa hielt sich die Ohren zu, um es nicht mehr hören zu müssen. Sie bekam Kopfschmerzen davon. Doch es schien nichts zu bewirken. Tick, Tack, Tick, Tack. Die Welt um sie schien zu verblassen, und Alyssa konnte nichts dagegen tun. Der Boden unter ihr brach langsam weg.

Verzweifelt schloss sie ihre Augen. Als Alyssa diese wieder öffnete, sah sie die weiße Decke eines Krankenhauses.

Das Haus in den Blumen - eine KurzgeschichteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt