Sandkörner (Teil 4)

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Die Tür zu ihrem Gemach öffnete sich erneut.

„Der Baron entschuldigt sich, dass er euch so lange warten ließ." Der gleiche Diener von eben stand in der Tür. „Er hofft, dass ihr es trotzdem angenehm hattet."

„Sehr sogar. Richte deinem Herren unseren Dank aus", antwortete Shaulee und bedeutete Nora, aufzustehen und ihr zu folgen. Der Diener führte die beiden jungen Frauen den mittleren Gang entlang, bis sie ein großes Zimmer erreichten, der wohl den Wohn- und Essbereich darstellte: Ein langer Tisch, an dem mindestens zehn Leute gemütlich Platz fanden, stand an einer Wand, dekoriert mit kristallenen Schalen, auf denen sich knallrote Äpfel und andere, deliziöse Früchte türmten. Karaffen mit Saft, Wein und Wasser standen dazwischen und mehrere feine Gläser standen auf einem Tablett, warteten darauf, benutzt zu werden. Ansonsten war das Zimmer so eingerichtet, wie man es von einem arensentianischen Adeligen gewöhnt war: Dünne Seidenbahnen, die von der Decke bis auf den Boden hingen, glitzernd und mit aufwendigen Stickereien verziert. Dicke Teppiche, die teilweise übereinander lagen, ein großes Sofa, das zwei komplette Wände einnahm und auf dem sich ein Berg von Kissen in unterschiedlichen Größen türmte, in allen möglichen Farben und Formen, die man sich nur vorstellen konnte.

Ein junger Mann saß auf dem Sofa und streichelte eine Wüstenkatze, ein großes, imposantes und rot getigertes Tier, dessen Fell kurz und glänzend war. Die Schwanzspitze zuckte träge hin und her und stieß immer wieder gegen ein dunkelgrünes Kissen, verziert mit goldenen Bordüren.

Baron Khasib selbst schien noch nicht mehr als zwanzig Sommer hinter sich gehabt zu haben. Er wirkte zu jung, um ein selbstständiger Adeliger zu sein, doch in seinen dunkelgrauen Augen funkelte etwas, das genau das bestätigte. Seine nussbraunen Haare waren durchzogen von honigblonden Strähnchen, die Haut besaß eine Farbe wie flüssiges Karamell und er trug einen eleganten, waldgrünen Gehrock, ein weißes Hemd sowie eine ärmellose, schwarze Weste, dessen Ränder mit einer goldenen Borte verziert waren. Khasib stand auf und lächelte, dann verneigte er sich respektvoll vor den beiden Frauen.

„Willkommen, Sandkörner", begrüßte er sie und seine warme Stimme ließ Nora sich beinahe augenblicklich entspannen. „Es freut mich, euch hier in meinem Anwesen zu sehen."

„Die Freude ist ganz auf unserer Seite", erwiderte Shaulee.

„Dürfte ich eure Namen erfahren?"

„Ich bin Shaulee, die erste Tänzerin", stellte sich Noras Freundin vor. Nora selbst bemerkte in dem Augenblick einen Schatten an der Treppe, die sich neben der Tafel befand und nach oben führte und reagierte daher zuerst nicht. Shaulee musste sie unauffällig anstupsen, und Nora wandte sich mit feuerroten Wangen dem Baron zu.

„Nouleera", sagte sie gerade eben so leise, dass es kein Flüstern war. „Aber die meisten nennen mich Nora."

„Das sind wunderschöne Namen", wisperte Khasib und wirkte so, als sei er vollkommen in Gedanken versunken. Dann sah er Nora an. „Du solltest deinen Namen nicht so schrecklich abkürzen lassen."

Unsicher sah Nora zu Shaulee, die nur mit den Schultern zuckte.

„Wir fangen am besten an", meinte sie und setzte ihr strahlendstes Lächeln auf. „Sonst bezahlt Ihr Keanu nur dafür, dass wir hier rumstehen."

„Ich mag Gesellschaft", erwiderte Khasib nur und malte mit seinem Zeigefinger Kreise in das Fell seiner Katze. „Ich habe nicht häufig Menschen um mich herum, die keine Angestellten sind."

Nora bekam das Gefühl, dass der junge Baron ziemlich einsam wirkte, wie er so vor ihnen saß und in seine eigenen Gedanken vertieft war. Und an Shaulees verwirrtem Blick erkannte sie, dass solche Situationen nicht zum Standard ihrer Arbeit gehörten. Doch sie überspielte alles gekonnt, indem sie weiter lächelte und ihre Startposition einnahm. Nora tat es ihr gleich, nahm die Hände über den Kopf und verschränkte sie an den Handgelenken; ihre Fingerspitzen zeigten elegant zur Seite und sie drehte den Kopf, blickte ihre Schulter an. Shaulee fing an, ihre Hüften zu bewegen und ließ ihre Glöckchenarmbänder bewusst klingeln. Richtige, begehrte Schleiertänzerinnen wie die Schleiereulen besaßen eigene Musikanten, die sie begleiteten, doch Keanu befand, dass wahres Talent darin bestand, den Kunden auch ohne einen solchen Zusatz zu begeistern. Nora konzentrierte sich auf ihre Schritte, bewegte die Hüfte im Kreis, trat mit den Füßen ein wenig vor und zurück, glitt mit ihren Armen an den Linien ihres Körpers herab. Ihr Rock, dünn, transparent und bestehend aus mehreren Schichten, wirbelte um ihre Beine herum, ihre Ärmel umflatterten sie spielend und Nora lauschte dem hellen Glöckchenspiel von ihr und Shaulee. Nora riskierte es, einen Blick auf ihre Freundin zu werfen; sie sah absolut umwerfend aus, legte den Kopf in den Nacken, zeigte ihre strahlenden Zähne und bewegte sich mit einer Perfektion, von der Nora noch lange entfernt war. Doch wenn sie Shaulee und auch den zusehenden Khasib ausblendete, schaffte sie es, sich in ihre eigene Welt zu verfrachten; eine Welt, in der sie alle um ihre Tanzkünste beneideten, wo ihr keiner das Wasser reichen konnte. Sie war der hellste Stern am Himmel, bewegte sich elegant und gleichzeitig kraftvoll über den Boden, bog ihren Körper von der einen Seite auf die andere, beschrieb kleine Kreise, während die immerwährende Melodie in ihren Ohren klingelte und ihr den Rhythmus vorgab...

Noras Fuß verhedderte sich in einem auf dem Boden liegenden Kissen. Die Tänzerin wurde aus ihrer Konzentration gerissen und öffnete die Augen, spürte, wie sie ihr Gleichgewicht verlor. Ein kleiner Schrei verließ ihre Lippen, als sie merkte, dass sie direkt in die feinen Gläser und Karaffen auf dem Tisch stürzen würde und sie überlegte den Bruchteil eines Wimpernschlags lang, wie sie sich am besten schützen konnte, da packten sie zwei starke Arme um ihre Hüfte und hielten ihren Sturz auf.

Shaulees schwerer Atem war zu hören, während mehrere Momente Stille herrschte. Nora blinzelte und blickte auf die Arme um ihre Mitte, honigfarbene Haut, bedeckt von vielen, dunkelbraunen Härchen. Seine Finger endeten in langen, schwarz glänzenden Krallen, die aus den Kuppen hervorbrachen. Die Tänzerin packte ein kalter Schauer und vorsichtig linste sie über ihre Schulter nach hinten. Über ihr schwebte ein Kopf, der im Entferntesten menschlich aussah, jedoch waren die Kiefer seltsam in die Länge gezogen und umgeformt, sodass sie an eine tierische Schnauze erinnerten. Die leicht beharrten, zugespitzten Ohren zuckten leicht und drehten sich in die Richtung verschiedenster Geräusche, während die Augen – türkisfarben wie ein unendlicher Spiegel des Meeres – mit der geschlitzten Pupille auf ihr ruhten. Das Wesen, das sie hielt, war bis auf eine kurze Stoffhose unbekleidet, die Haut dafür jedoch mit diesen kurzen, dunklen und glänzenden Haaren bedeckt; es waren zu wenige, um es als Fell zu bezeichnen und seine Haut schimmerte immer wieder darunter hervor. Die Beine waren animalisch geformt und endeten in pfotenähnlichen Füßen, aus denen ebenfalls diese schwarzen, fingerlangen Krallen wuchsen. Ein langer Schwanz zuckte träge in der Luft hin und her und Nora spürte den Atem des mysteriösen Wesens; die Brust hob und senkte sich gleichmäßig.

„Bei den sieben Göttern!", stieß Shaulee schließlich aus und mit einem Mal hielt sie einen Dolch in der Hand, den Nora noch nie im Leben bei ihr gesehen hatte. „Lass sie sofort los, du Monster, oder ich zeige dir, wozu ich noch alles fähig bin!"

LichtritterWhere stories live. Discover now