Keine Monster (Teil 1)

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„Ich habe nie etwas anderes behauptet", brummte Aatos. Dann legte er den Kopf schief und musterte sie genauer. „Was ist mit deinen Haaren passiert?"

Eve griff sich aus Reflex an den Kopf. Sie hatte sich ihre Haare zu einem festen Knoten hochgesteckt, um die kahle Stelle, die Feyjassan bei ihrem kleinen Kampf herausgerissen hatte, zu überdecken, doch aus seiner Sicht schien Aatos keine Probleme zu haben, sie zu erkennen. Hinter ihr bemerkte Eve, wie Dainius sich ein wenig streckte, um einen Blick auf ihre Kopfhaut zu erhaschen.

„Lass das", zischte sie ihm zu. „Es gab... gewisse Komplikationen."

„Das kann so nicht bleiben", erwiderte Aatos. „Geh zu Angyly und sie wird schauen, was sich noch retten lässt. Du bist sowieso zu auffällig. Das muss ebenfalls geändert werden."

„...wenn Ihr mir die Frage gestattet..." Die höfliche Rede kam automatisch, und auch wenn Eve ansonsten einen Scheißdreck darauf gab, ob sie respektvoll war oder nicht, doch Aatos hatte dies ihrer Ansicht nach verdient, „...wie schafft Ihr es, unentdeckt zu bleiben?"

„Jahrelange Übung", knurrte Aatos. „Ein langer Mantel, eine geduckte Haltung und ich gehe als großer Mensch durch. Meistens bleibe ich im Zelt oder rolle mich unter einem Haufen Decken zusammen. Dazu guckt in den Elendsvierten nie jemand allzu genau nach, wer sich in ihnen bewegt, denn wer viel weiß, der schwebt in Gefahr, die Aufmerksamkeit der Stadtwachen auf sich zu ziehen."

„Wir sind eine Familie und sorgen dafür, dass unsere Mitglieder beschützt werden", fügte Dainius hinzu.

„Wo wir von Familie sprechen, Jackal benimmt sich reichlich seltsam, selbst für seine Verhältnisse... oh." Die Zeltklappe öffnete sich und ein weiterer Mann, den Eve vorher nicht im Lager gesehen hatte, trat ein. Er wirkte jünger als Dainius, die dunkelblonden Haare waren zu einem ordentlichen Zopf gebunden, nur ein paar widerspenstige Haarsträhnen wurden von einem Stirnband zurückgehalten. Er trug einfache, lederne Sachen, die schon reichlich abgewetzt aussahen, sowie einen langen, dicken Mantel, den er jedoch beim Eintreten geöffnet hatte. Neben ihm steckten zwei Wölfe – normale Tiere, keines dieser riesengroßen, beängstigenden Viecher aus den Bergen – neugierig die Köpfe in das Zelt und fingen ob der Wärme sofort an zu hecheln. Der eine Wolf besaß ein schneeweißes Fell, nur die Ohren- und Schwanzspitze waren schwarz gefärbt. Das Fell des anderen Wolfes hingegen besaß ein solch helles Grau, dass es beinahe schon silbern schimmerte. Die beiden wirkten wie ruhige, gezähmte Hunde und setzten sich neben ihrem Herren brav hin, doch ihre blauen Augen ließen Eve keinen Wimpernschlag unbeobachtet.

„Nimer", begrüßte Dainius ihn und lächelte leicht. „Wenn ich dir Schattentänzerin Eve vorstellen kann?"

Der Mann namens Nimer nickte ihr kurz zu, machte jedoch keine Anstalten, ihr die Hand hinzuhalten. Das machte ihn für Eve sympathisch, denn es bedeutete, dass er, wie sie selbst, keinem Fremden vertraute.

„Ich habe Eve gerade erklärt, dass sie viel zu auffällig ist", erzählte Aatos ihm.

„Sie wird in der ganzen Stadt gesucht, ich habe die Steckbriefe gesehen." Nimer nickte, als wäre das selbstverständlich. „Aber Angyly wird das schon hinkriegen."

Diese Halb-Elfin musste ziemlich begabt sein, wenn sie die erste Person war, die ihnen bei einer äußerlichen Veränderung einfiel.

„Wir sollten die Stadt auch bald verlassen", sprach Nimer weiter. „Whytnee und Isegrimm wird die Kälte langsam zu viel. Es sind immerhin keine Eisklauenwölfe. Außerdem tut das Wetter auch dir nicht gut, Aatos. Wenn wir noch viel länger hier verweilen, habe ich Angst, dass du dich zusätzlich noch erkältest. Und wer weiß, ob du das dann einfach so wegstecken wirst."

Zusätzlich?

Dann musste das Scheusal eine schlimmere, chronische Krankheit besitzen, die ihn so auslaugte.

„Wenn wir die Zelte abbauen, Aatos auf den Karren verfrachten, dann könnten wir verschwinden, sobald die Hinrichtungen beginnen", meinte Dainius mit einem Stirnrunzeln. „In solchen Momenten ist die Aufmerksamkeit der Wachen auf etwas anderes gerichtet, als auf eine Spielmannsgruppe, die die Stadt verlässt."

Nimer hingegen schüttelte den Kopf. „Ausgangssperre. Wir können höchstens hinterher verschwinden, aber es wird schnell dunkel." In wenigen Stunden würde es bereits schon dämmern und dann war es mehr als unklug, die Stadt dann noch verlassen zu wollen.

„Wir werden nicht während der Hinrichtungen gehen, Dainius. Sie sind mir zu wichtig", knurrte Aatos bestimmend. „Die Eingänge zum Unüberwindbaren Gebirge sind nicht weit weg. Wir können es in der Nacht schaffen."

„Wir könnten auch nach Arensentia gehen", sagte Nimer mit nachdenklicher Stimme. „Die Sonne und Temperaturen werden dir mit Sicherheit gut tun."

Aatos warf ihm einen seltsamen Blick zu.

„Ich gehe nicht nach Arensentia", antwortete er dann mit seiner tiefen Stimme. „Es dauert zu lange."

„Wir wären nur ein paar Monate länger unterwegs", hielt Nimer dagegen und verschränkte die Arme vor der Brust. „Und wir waren sehr lange nicht mehr da, es könnte nicht schaden, uns dort mal wieder blicken zu lassen."

Aatos knurrte ihn an, doch der Mann ließ sich davon nicht einschüchtern, sondern legte nur den Kopf fragend schief.

„Ich gehe nicht nach Arensentia!", fauchte das Scheusal und richtete sich zu seiner vollen Größe auf, ehe es langsam wieder in sich zusammensackte. Aatos schlug die Augen nieder und hielt sich eine Klaue an die Brust, etwa auf der Höhe, wo sich sein Herz befand.

„...ein paar Monate können bereits zu viel sein."

Nimer und Dainius tauschten einen bedeutungsvollen Blick aus, dann räusperte sich der Geschichtenerzähler: „Wie du meinst, Aatos. Was Eve angeht..."

„Sie soll zu Angyly gehen", bestimmte das Scheusal und fixierte die Schattentänzerin mit beiden Augen.

„...gut. Das werde ich tun", antwortete Eve und fummelte dann an ihrem Geldbeutel herum. „Ich werde euch auch bezahlen." Sie hasste es, einfach Hilfe anzunehmen, sodass sie in dessen Schuld stand. Das würde niemals passieren, sie würde immer unabhängig sein.

Dainius kam zu ihr und legte eine Hand auf den ledernen, prall gefüllten Beutel.

„Behalt es", sagte er mit freundlicher Stimme. „Du bist uns auch nichts schuldig. Wir Andersartigen müssen in einer Welt wie dieser zusammenhalten."

Wir Andersartigen.

Eve hielt mitten in ihrer Bewegung inne und blickte dem Mann in die hellblauen Augen. Er lächelte sie an, doch gleichzeitig wirkte er so, als würde er ein Geheimnis bewahren. Ganz langsam ließ die Assassinin ihre Hände wieder sinken und nickte. Etwas in Dainius' Stimme berührte sie und ließ sie glauben, dass er tatsächlich meinte, was er sagte. Niemals im Leben würde die Spielmannsgruppe irgendeinen Gefallen von ihr einfordern – und wenn sie half, dann würde sie es aus eigenem Willen tun.

„Ich... suche dann mal eure Halb-Elfin", murmelte sie und wandte sich um.

Nimer trat zur Seite und pfiff seine beiden Wölfe zu sich, ehe er das Wort wieder an Aatos richtete: „Wir sollten noch einmal darüber reden, Aatos. Du bist nicht der alleinige Anführer hier..."

„Bin ich das nicht?" Aatos legte den Kopf fragend schief und öffnete das Maul ein wenig. Sabber tropfte an den langen Zähnen herab, perlte sich zusammen und fiele anschließend mit einem leisen Geräusch auf den Boden.

„Nicht in deinem Zustand." Nimers Stimme klang eindringlich. „Dainius, hilf mir mal!"

Eve merkte, dass dieses Gespräch nicht für ihre Ohren bestimmt war, also trat sie aus dem Zelt und wurde von der bitteren Kälte empfangen, die ihr ins Gesicht schnitt und die Wangen sofort rosa färbte. Leicht zitternd sah Eve sich um und erkannte Angyly nun am Feuer sitzen und sich mit ein paar der anderen Spielmänner unterhalten. Die Schattentänzerin trat auf sie zu und bemerkte gleichzeitig Jackals Blick auf ihr ruhen; als wolle der Mann aufpassen, dass sie keinen Unsinn anstellte.

...mit einem Scheusal im Nacken würde sie das eh nicht wagen. 

LichtritterWhere stories live. Discover now