Kapitel 1

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Emilia war ein Mädchen, wie jedes Andere und doch etwas Besonderes. Ihr Leben schien einen normalen Ablauf zu nehmen, genau wie das, eines jeden Anderen Mädchens, das in einem gut behüteten, christlichen Haushalt aufgewachsen ist.
Ihre Eltern, Natalie und Rafael Spahn, versuchten ihren Kindern schon von klein auf das Evangelium und das, was es mit sich bringt, nahezulegen. Dazu gehörte vorbildliches Verhalten in der Schule, sowie bei Freunden und ebenfalls in der Kirche, wo die Familie über einen sehr guten Ruf verfügte. Die Kinder behandelten ihre Eltern mit Respekt, waren gehorsam und wussten, wie man die Nächstenliebe am besten ausübte.
Dabei war Emilia das Nesthäkchen und die kleine Spielgefährtin ihrer zwei großen Brüder Julian und Noah. Fünf Jahre lagen zwischen ihr und den Zweieiigen Zwillingen, was bei den Jungen einen gewissen Beschützerinstikt hervorrief. Nie hat es jemand gewagt Emilia zu nahe zu treten oder ihr ein Haar zu krümmen, aus Angst, einer ihrer Brüder könnte es mitbekommen.
So bekam sie immer nur das Beste vom Besten, wurde behütet, bewacht und von allen getätschelt, da sie ja schließlich der kleine Schatz der Familie Spahn war. Wie eine Prinzessin durfte sie aufwachsen, doch ihre Eltern sahen es vor, sie nicht zu sehr zu verwöhnen, um sie nicht der Eitelkeit zu überlassen.
Nun war Emilia achtzehn Jahre alt geworden. Ihrer Mutter kamen die Tränen, als ihre einzige, geliebte Tochter die abgezählten Kerzen auf der Torte ausblies und erwartungsvoll lachend in die Familienrunde blickte. Sie alle saßen, wie an jedem Sonntagmorgen, beisammen am Frühstückstisch, nur, dass sich diesmal Luftschlangen um den Brotteller, den Aufschnitt und dem Besteck tummelten.
Sie alle klatschten und Noah pfiff triumphierend durch seine Zähne. Emilia strahlte über das ganze Gesicht. Ihre braunen Augen blitzten und man konnte ihr ansehen, dass sie überglücklich war, endlich erwachsen zu sein. Jetzt würde sie nie wieder von allen Verwandten als die Kleine Spahn angesehen werden und man würde sie als eine reife Frau würdigen und ernst nehmen. Das war ihr sinnlichster Wunsch, schon seit langem. Endlich bei der Gesellschaft angenommen und anerkannt zu werden.
Als könne ihre Mutter ihre Gedanken lesen, nahm sie ihre Tochter über die Tischkante hinweg in den Arm und seufzte, dass ihre große Emilia nun endlich eine erwachsene Frau geworden ist. Emilia vergrub dabei ihr Gesicht in den Locken ihrer Mutter und fühlte sich geborgen. Sie war stolz darauf so eine Mutter wie Natalie zu haben, die sie von ganzem Herzen aufrichtig liebte und bei der sie einfach nur ein Kind sein kann.
Rafael räusperte sich, Mutter und Tochter lösten sich aus der Umarmung, ließen sich wieder auf ihre Stühle nieder und alle hefteten den Blick auf den Familienvater. Der widmete seine volle Aufmerksamkeit auf Emilia und setzte ein verschmitztes Lächeln auf.
„Emilia, wie du wahrscheinlich schon vermutet hast, haben wir ein Geschenk für dich. Wäre ja auch komisch, wenn nicht oder?", dabei warf er einen kurzen Blick zu Natalie und fuhr fort: „Mama, Oma, Opa, sogar unsere zwei geizigen Männer hier und ich haben etwas Geld zusammengelegt...", er zwinkerte mit den Augenbrauen in Richtung Küchenfenster. Emilia schaute ihren Vater irritiert an.
„Geh schon und guck!", feuerte Julian sie mit einer Handbewegung an. Die Augen auf jeden Einzelnen am Tisch geheftet, stand Emilia langsam auf und kletterte auf die Küchenablage, um aus dem Fenster des ersten Stocks nach draußen zu schauen. Als erstes nahm sie nur die gewohnte Landschaft war. Ein gepflügtes Weizenfeld, dahinter ein paar Häuser, der Wald und der wolkenlose Himmel. Danach blickte sie jedoch auf den Hof und sah neben dem silbernen Kombi und den Autos ihrer Brüder noch ein weiteres Auto stehen. Das Rot war kaum zu übersehen und die Sonne reflektierte sich auf dem Dach des kleinen Wagens. Ihr Herz raste und sie biss sich hastig auf die Lippen. Ungläubig sah sie zur ihrer Familie. Ihre Eltern strahlten über beide Ohren, zufrieden, dass ihnen die Überraschung gelungen waren. Ihre Brüder lachten. Noah schüttelte seinen Kopf, sah lachend kurz auf den Boden und dann wieder zu Emilia.
„Der Schlüssel liegt unten auf der Kommode.", gab er hinzu und erhob sich.
„Hast du Bock auf eine Spritztour?", fragte Julian und stand ebenfalls auf. Emilia nickte eifrig, kletterte von der Ablage, gab ihren Eltern einen flüchtigen Kuss, nachdem sie ein heiseres "Danke!" geflüstert hatte und rannte mit ihren Brüdern die Treppe zum Erdgeschoss hinunter. Unten angekommen, schlüpften sie alle in die Schuhe, Emilia schnappte sich den Schlüssel, den sie sofort auf der Kommode erblickt hatte.
„Wer als erstes beim Auto ist, darf fahren!", kicherte sie, öffnete die Tür und rannte nach draußen, auf den riesigen Hof der Spahns.
Da stand es. Ihr eigenes, erstes Auto. Es war zu schön, um wahr zu sein. Das Rot knallte in ihren Augen und auf dem Kennzeichen, wahren bereits ihre Initialen „ES" eingetragen und montiert. Stolz ging sie um den Wagen herum. Er war nicht groß, jedoch sauber und die Inneneinrichtung schien auch ziemlich dem neusten Stand zu entsprechen. Noah und Julian hatten bereits auch das Auto erreicht. Julian bemerkte den Blick seiner Schwester, wie sie die Anlage im Inneren des Autos studierte.
„Hab extra dafür gesorgt, dass du eine Bluetoothverbindung hast.", bemerkte er grinsend und versetze Noah einen Stoß, der ihn darauf in die Seite boxte.
„Danke ihr Beiden.", murmelte Emilia, noch immer den Wagen untersuchend. Schließlich hielt sie sich den Schlüssel vor die Augen und betätigte den Knopf, worauf sich mit einem „Klick" die Verriegelung des Autos löste.
Emilia setze sich vor das Lenkrad und strich mit ihren Finder sachte über das kalte Leder. Noah ließ sich nach eine, kurzen Kampf mit seinem Bruder vorne, neben ihr nieder und auch Julian, begab sich auf die Rückbank. Emilia schaute durch die Frontscheibe. Der Sitz war wie perfekt auf sie eingestellt und auch ihre Füße erreichten problemlos die Pedale. Sie alle schnallten sich an und warteten darauf, dass die Fahrt endlich losging. Emilia umklammerte das Lenkrad und konzentrierte sich so sehr, als würde das Auto auf bloßen Befehl ihrer Gedanken losfahren. Danach drückte sie langsam die Kupplung und die Bremse, drehte den Schlüssel und der Motor heulte auf. Sie strahlte über das ganze Gesicht.

„Vergiss nicht die Feststellbremse.", bemerkte Noah, während er sein Handy mit dem Radio verband und die Musik leise ertönte.

Emilia löste die Bremse, schaltete in den Rückwärtsgang und ließ die Reifen langsam über den Hof bis zur Straße rollen. Danach versicherte sie sich durch mehrmaliges hin- und herschauen, dass kein Auto in Sichtweite war, lenkte nach links, fuhr raus, um gerade, als sie Gas geben wollte abzuwürgen.
„Mist.", fluchte sie. Ihre Brüder mussten lachen und auch sie konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Eigentlich dachte sie, dass ihr so etwas nie wieder passieren würde. Ja, am Anfang, als sie gerade frisch ihren Führerschein bestanden hatte, ist sie oft mit dem Familienwagen abgewürgt, aber das letzte mal musste schon Monate her sein.
Sie startete den Motor erneut und diesmal klappte es reibungslos.
Nach 10 Minuten hatte sie sich bereits an die neue Schaltung gewöhnt und rief über die laute Musik hinweg, ob sie es mal mit der Autobahn versuchen sollte.
„Auf jeden Fall!", brüllte Noah und so bog sie in die Auffahrt rein.
Emilia war nicht oft auf der Autobahn gefahren. Wenn sie so darüber nachdachte, waren es genau vier mal gewesen. Sie konzentrierte sich, als sie den Beschleunigungsstreifen erreichte und es gerade noch rechtzeitig schaffte, vor dem schnellen Mercedes auf die Autobahn zu lenken. Ihr Herz raste. Es war knapp, aber sie hatte es geschafft und war gerade noch einem Crash ausgewichen. Ihr Bruder öffnete leicht ein Fenster und eine kühle Luft, die Emilias schulterlangen Haare komplett zerzauste, fegte durch den Innenraum. Der Bass, den Noah extra noch mal in der Einstellung verstärkt hatte, lies die Wände des Wagens beben. Emilia fühlte sich auf eine gewisse Art frei und lachte vor Freude. Sie beschleunigte und sah die anderen Autos und die Landschaft nur so an ihr vorbeifegen. Der kühle Wind, die Musik, die Sonne, die auf den Asphalt brannte, alles schien perfekt zusammenzupassen. Sie blickte in den Rückspiegel und sah, wie Julian angestrengt auf sein Handy starrte. Sein fröhlicher Gesichtsausdruck war verschwunden und Falten bildeten sich auf seiner Stirn. Sie drehte die Musik leiser, konzentrierte sich wieder auf die Straße und fragte, ob alles okay sei. Julian fuhr hoch und auch jetzt bemerkte Noah, dass sein Bruder eine ganze Weile schon nichts mehr gesagt hatte.
„Fahr von der Autobahn runter.", diktierte Julian in einem befehlerischen Ton und sah stumm auf die vorbeiziehende Landschaft aus dem Fenster. Emilia gehorchte und verließ die Autobahn nach der nächsten Ausfahrt.
„Wo soll ich hin?" Fragte sie. „Nächster Kreisel, erste Ausfahrt.", antwortete er knapp. Emilia und Noah sahen sich irritiert an. Keiner von ihnen wusste was los war, doch es war klar, dass ihr sonst so lebensfroher Bruder nicht ohne Grund so niedergeschmettert dasaß.
Noah drehte sich um. Julian war nicht nur sein Zwillingsbruder, sondern auch sein bester Freund. Sie kannten sich viel zu gut, nur ein Blick von Julian würde genügen und er würde über alles Bescheid wissen, dachte er zumindest. Doch sein Bruder starrte ruhig aus dem Fenster, um Noah nicht ansehen zu müssen, der ihn nicht reizen wollte und letztendlich wieder auf die Straße blickte. Schon bald erkannte er und wie es zu sein scheint auch seine Schwester, wohin es Julian zog. Sie waren den Weg oft genug langgefahren und langsam bekam es auch Noah mit der Angst zu tun. Er wollte nicht, dass sein einziger Bruder verletzt wird und dennoch liefen die ersten Tränen, über Julians Gesicht und seine Hände ballten sich zu Fäusten.
Auch Emilia wusste, zu welcher Person Julian wollte. Sie ahnte nichts Gutes.

Lebendige FreiheitNơi câu chuyện tồn tại. Hãy khám phá bây giờ