05 - Winternächte

En başından başla
                                    

Alles, was in diesem Moment in meinem Kopf war, waren die Worte meines Physik-Lehrers, der uns erst etwa eine Woche zuvor belehrte und meinte, wenn das Eis brechen solle, müssen wir uns hinlegen, um das Gewicht besser zu verteilen. Ich erinnere mich noch, wie ich Violet eben dies zugeschrien habe, während ich bemüht war, zurück ans Ufer zu robben.

Violet hatte etwas weniger Glück als ich, sie ist mit ihren Beinen im Wasser gelandet, konnte sich aber dennoch noch rechtzeitig retten und hat den Rest der Strecke robbend und Tränen lachend zurückgelegt, während ich am Ufer stand und ebenfalls so sehr gelacht habe, dass mir am Ende der Bauch wehtat.

Wir sind sofort zu mir nach Hause gelaufen, wurden von meiner Mutter ausgeschimpft, die uns trotz allem aber in mein Bett mit unzähligen Decken gesteckt hat und heißen Kakao für und kochte. Mom hat immer den besten Kakao von allen gekocht, mit Marshmallows und Sahne, noch mit ein wenig Chili verfeinert, was auf eine seltsame Art super gut geschmeckt hat. Sie hatte Violets Eltern nicht einmal über dem Vorfall vom See erzählt, sondern ihr nur eine Jeans von mir gegeben, sodass es nicht weiter aufgefallen ist und ihre Eltern nie davon erfahren haben. Nichtsdestotrotz sind wir beide nie wieder auf diesem See gewesen.

Eine einzelne Schneeflocke wird durch einen kühlen Luftstoß aufgewirbelt und verfängt sich in meinem Haar. Sie erinnert mich daran, wo ich bin, wer ich jetzt bin und wen es nicht mehr gibt.

Wegen mir.

Ich stehe schon vor der Schwelle zu dem Gebäude mit den Wohnungen, in der ersten Etage befindet sich gleich unsere. Und über uns war einst die von Violets Familie. Nach ihrem Tod sind ihre Eltern in eine kleinere Wohnung gezogen, soweit ich weiß handelt es sich um eine Zweiraum-Wohnung, die keinen Platz mehr für ein Kinderzimmer bietet.

Als hätten sie nie eine Tochter gehabt.

In der alten Wohnung ist vor einigen Wochen eine Großfamilie eingezogen, die Eltern starren nur ständig wütend vor sich hin, statt uns lächelnd zu grüßen, wie Violets Eltern es einst taten. Auch wenn es kein Muss ist, zu grüßen, wünsche ich mir bei jedem übellaunigen Blick oder jedem Schnauben, wenn Theo sie grüßt, dass wieder Violets Eltern mit ihr über uns wohnen. Es soll alles nur wieder so sein, wie es einst war.

Auch wenn es unmöglich ist, es sinnlos ist, sich eine andere Realität zu wünschen, wenn man weiß, dass dieser Wunsch nie erfüllt werden kann. Ich schließe die Tür auf, betrachte den grauen, hässlichen Flur und gehe eine Treppe hoch; sieben Stufen, bis ich vor unserer Wohnungstür stehen bleibe und erneut aufschließe. Zu Violets Wohnung waren es einundzwanzig Stufen, in ihr Zimmer fünfunddreißig Schritte von unserer eigenen Wohnungstür aus, von meinem Zimmer aus sind es neunundvierzig Schritte.

Gewesen.

Es sind neunundvierzig Schritte gewesen.

Vor Ewigkeiten haben wir das einmal gezählt. Und jetzt trennt und so verdammt viel, keine neunundvierzig Schritte mehr. Jetzt trennt uns eine ganze Welt. Jetzt trennt uns mein Leben, und ihr Tod voneinander.

Schon vom Flur aus höre ich den Teekocher pfeifen, weswegen ich schnell aus meinen vom Schneematsch durchnässten Chucks schlüpfe, meinen Schulrucksack achtlos in mein Zimmer stelle und auf Socken in die Küche gehe. Theodosia setzt sich gerade wieder an den Küchentisch, mit einer Tasse Tee in der Hand, auf der groß und in einer geschwungenen Handschrift ›Dreams come true‹ steht.

»Vielleicht treffe ich mich heute noch mit Caspian, aber wenn Mom und Dad fragen, sag einfach, dass ich bei Nesrin bin«, sagt sie zu mir und tippt auf dem Display ihres Smartphones herum.

Erst zu spät bemerkt Theo ihren Fehler und presst die Lippen schuldbewusst aufeinander. »Oder ich sage ihnen einfach, dass ich bei Ness bin«, räumt sie schnell ein.

LOVE LETTERS TO A STRANGERHikayelerin yaşadığı yer. Şimdi keşfedin