Betroffen sah die Nachrichtensprecherin in die Kamera. „Nach diesen katastrophalen Ereignissen kommen wir jetzt zum Wetter.", sagte sie und bevor der Wetterbericht anfangen konnte, wurde das Bild plötzlich schwarz. Samuel hatte den Fernseher ausgeschaltet. Sein Gehirn schien auf Hochtouren zu arbeiten. „Das ist gar nicht gut.", murmelte er leise vor sich hin. „Die Menschen werden uns niemals eine Chance geben, wenn das so weitergeht." Die mittlerweile aufgepustete Matratze legte er auf den Boden. Tatsächlich kam ich mir gerade wieder wie ein kleines Kind vor, das von seiner Mutter ausgeschimpft wurde. Auch wenn Samuel das nicht tat, fühlte es sich doch so an. Schließlich waren es Varya, Lucius und ich gewesen, die das alles zu verantworten hatten. Wäre unsere Flucht nicht so kläglich misslungen, hätte Siebenundvierzig uns gar nicht erst zur Hilfe eilen müssen und all das wäre nicht passiert.

Samuel, der meine Enttäuschung zu bemerken schien, schenkte mir ein leichtes Lächeln. „Mach dir darüber keine Gedanken. Schließlich ist es ja nicht so, als hätte gerade dieses Ereignis dazu geführt, dass es so schwer ist, unser Ziel zu erreichen.", sagte er. „Da draußen gibt es viele Mutanten, die genauso handeln. Manche aus bloßer Rache und andere aus Notwehr. Dennoch verlieren Mutanten viel zu schnell ihre Hemmungen, was Gewalt und das Ausmaß von Gewalt angeht, sobald es um Menschen geht. Vor allem, wenn diese sie ungerecht behandelt haben oder bedrohen."

Das stimmte wohl. Auch, wenn ich darüber noch nie wirklich nachgedacht hatte. Aber tatsächlich fiel es mir leichter, Menschen anzugreifen, als Mutanten. Vermutlich lag das daran, dass ich ein ziemlich negatives Bild von den Menschen hatte. Dennoch war unser Vorgehen auf der Brücke nicht zu entschuldigen. „Ob es nun andere Mutanten auch tun oder nicht. Nicht sie wurden in den Nachrichten gezeigt, sondern wir.", sagte ich trocken. Samuel setzte an, etwas zu sagen, doch stockte dann. Scheinbar sah er ein, dass es nichts zu erwidern gab.

Er verkniff sich ein weiteres Seufzen. „Ich wünsche euch eine erholsame Nacht.", sagte er schließlich. „Morgen wird ein anstrengender Tag. Vor allem, da wir überlegen müssen, wie wir euch aus der Stadt bringen." Samuel nickte uns noch einmal zu, ehe er das Wohnzimmer verließ. Nun waren Varya, Lucius und ich allein. Stumm schob jeder von uns seine Luftmatratze an eine geeignete Stelle im Raum. Dabei wirkte Varya ziemlich verloren. Es war offensichtlich, dass sie nicht wusste, ob sie ihre Matratze in meine Nähe schieben sollte oder nicht. Mein Bruder hatte ein ähnliches Problem. Wortlos betrachtete ich den inneren Konflikt der beiden, ehe ich es mir auf meiner Luftmatratze gemütlich machte. Nachdem ich so lange auf dem harten Boden meines Gefängnisses schlafen musste, fühlte sich diese Luftmatratze an, als würde ich auf Wolken liegen. Es tat unbeschreiblich gut, wieder auf etwas schlafen zu können, das einem richtigen Bett ähnelte.

In der Dunkelheit war das Quietschen der Luftmatratzen zu hören, sobald sich jemand auch nur ein bisschen bewegte. Ansonsten war es still. Wie sollten wir morgen bloß aus der Stadt kommen? Es wurde doch kontrolliert! Im Kofferraum verstecken konnten wir uns schlecht, zumal wir auch noch zu zweit oder dritt sein würden. Und wir brauchten einen Fahrer. Aber selbst, wenn alles funktionieren würde ... Was dann? Wo sollten wir hin? In der Nähe des Wandsworth-Gefängnisses würde niemand von uns mehr sein. Es wäre viel zu gefährlich, da sie leicht hätten entdeckt werden können. Und selbst, wenn jemand zurückgelassen worden wäre, um auf unsere mögliche Rückkehr zu warten, war es doch sehr unwahrscheinlich, dass Lucius und ich kurze Zeit später wieder dort auftauchen würden. Keiner aus unserer Gruppe wusste, wohin man uns gebracht hatte und was man mit uns gemacht hatte. Also schloss ich aus, dass sie jemanden zurückgelassen hatten, um auf unsere unwahrscheinliche Rückkehr zu hoffen. Wo konnten sie also hingefahren sein? Das Ambrosia-Gebäude schloss ich aus. Sie hatten Audra dabei. Man würde sie nicht an einen solchen Ort bringen. Aber wohin dann? Mittlerweile konnten sie überall sein!

„Wie machen wir das mit den Flugblättern?", zerriss mein Bruder plötzlich die Stille. „Wir könnten mit ihnen eine Spur hinterlassen, wodurch es ein Leichtes ist, uns ausfindig zu machen oder unsere ungefähre Richtung zu bestimmen."

Genervt presste ich meine Lippen fest aufeinander. Daran hatte ich überhaupt nicht gedacht. Wieso hatte ich das nicht auch bedacht? Es war so offensichtlich, dass wir jedem, der es wollte, die Möglichkeit bieten würden, uns ganz einfach zu verfolgen und uns auch noch abzufangen. Ein verbittertes Zischen meinerseits erklang. Wie hatte ich das übersehen können? Hatte mich meine Begeisterung für diese Aktion so sehr verblendet? Das durfte nicht geschehen. Niemals! Nicht, bei jemandem wie mir. Unaufmerksamkeiten konnte ich mir einfach nicht leisten.

„Willst du Samuel etwa sagen, dass wir keine Flugblätter verteilen werden?", fragte ich. So undurchdacht die Idee, unterwegs die Flugblätter zuverteilen auch war, wollte ich sie nicht einfach aufgeben. Wir fanden eine Lösung. Bestimmt.

„Nein.", sagte Lucius, nachdem er eine Weile geschwiegen hatte. „Den Mutanten ist viel schneller geholfen, wenn sich ihre Nachricht mit hoher Geschwindigkeit verbreitet. So sind die Chancen höher, von den Leuten wahrgenommen zu werden. Aber wir dürfen auch keine Spur hinterlassen."

Nachdenklich knetete ich den Bezug meines Kissens. „Da wir ohnehin nicht wissen, wo wir die Anderen finden, könnten wir auch einige Umwege nehmen und die Flugblätter dabei verteilen. Das ziellose durch die Gegend reisen wird zwar einiges an Zeit in Anspruch nehmen, aber wir haben sowieso keine Ahnung, wo wir hin müssen.", überlegte ich. Vielleicht würden wir so das Risiko verringern, dass man uns folgen oder unseren Zielort erahnen konnte.

„Hm hm.", machte Lucius und schien über meine Worte nachzudenken. „Mir fällt keine bessere Lösung ein."

„Haben du und deine Jäger eigentlich einen festgelegten Rückzugsort, für den Fall, wenn etwas schief geht?", wollte ich wissen. Wenn sie so etwas hatten, würden wir sie vermutlich an solch einem Ort finden.

Doch schnell wurde meine aufkommende Hoffnung erstickt. „Nein, haben wir nicht.", antwortete mein Bruder leise. „Wenn du Mutanten jagst, brauchst du so etwas nicht. Wenn etwas schief geht, läuft es aufgenau zwei mögliche Szenarien hinaus: entweder jemand wird verletzt. Meist schwer. Oder jemand stirbt. Außerdem birgt ein Rückzugsort die Gefahr, dass er irgendwann entdeckt wird und wenn du das nicht mitbekommst, läuft du genau in die Falle."

Etwas in seiner Stimme ließ mich aufhorchen. Ich wusste nicht genau, was es war, doch irgendwie klang seine Stimme belegt. Sich mit Mutanten anzulegen war schon gefährlich genug. Vor allem für einen Menschen. Zwar wusste ich nicht, was für einen Vorteil ihnen die Technologien bereiteten, die sie mit sich herumtrugen, doch letztendlich war ein Mutant einem Menschen körperlich überlegen. Und die Mutanten waren nicht die einzigen Feinde der Jäger. Für die Regierung waren die Jäger lästig. Insofern die Jäger nicht mit der Regierung kooperierte und nur auf deren Befehl hin Mutanten jagten, waren sie ihr ein Dorn im Auge, der beseitigt werden musste.

In Frankreich dagegen wurden professionelle Jäger ausgebildet, soweit man aus den Nachrichten der letzten Jahre heraushören konnte. Und scheinbar verdienten die auch ziemlich gut.

Es war erschreckend, wie unterschiedlich die verschiedenen Ländern mit der ganzen Situation umgingen. Wenn es doch überall nur so wie in Spanien abgelaufen wäre. So viel Leid hätte erspart geblieben werden können.

Hätte ich durch meine Mutation Kiemen erhalten, hätte ich mich wahrscheinlich sofort nach meiner Befreiung aus dem Ambrosia-Labor auf den Weg zum Meer gemacht. Ohne zu zögern hätte ich mich in die blauen Fluten gestürzt und wäre nach Spanien geschwommen. Wieso Samuel das nicht getan hatte, war mir ein Rätsel. Er hatte die Möglichkeit, von hier zu verschwinden und sich ein besseres Leben aufzubauen und doch blieb er hier.

Aber vielleicht war ich auch einfach nur verbittert darüber, dass eine Flucht nach Spanien keine Option für mich wäre. Selbst, wenn ich es irgendwie über das Meer schaffen sollte, könnte ich die Hitze in Spanien nicht ertragen. Liam dagegen würde sich dort vermutlich sehr wohl fühlen. Wären Audra und Aldric mit uns ausgewandert, hätten sie es gekonnt? Es hätte alles anders kommen können.

Freya Winter - MutantOnde as histórias ganham vida. Descobre agora