Kapitel 36

3.6K 285 64
                                    

 „Ich bin Nick.“ „Ich bin Allison, aber alle nennen mich Ally!“

„Neiiiiin!“ Ich warf mich auf die Knie und lehnte mich über Nick. Tränen liefen an meinen Wangen herab und tropften auf seinen Körper. Ich presste meine Hände fest auf die Schusswunde auf seiner Brust. Nicks Augen starrten geradeaus, als bekäme er nichts mit. Sein Brustkorb hob und senkte sich langsam, das Zeichen dafür, dass er noch lebte. „Nick. Tu mir das nicht an! Du darfst nicht sterben. Ich schaff das nicht ohne dich. Ich liebe dich!“, schrie ich ihn an. Er bewegte sich nicht und sein T-Shirt war schon mit Blut vollgesogen. „Bitte verlass mich nicht…“, flüsterte ich in sein Ohr. „Du darfst nicht gehen.“ Ich legte meinen Kopf auf seine Brust um seinen Herzschlag zu hören. Er war ganz schwach und kaum spürbar. Bitte nicht! Ich schluchzte leise vor mich hin und schaltete die Welt um mich herum ab. Nicht Nick! Ich wusste, dass ich nichts mehr für ihn tun konnte und das machte es umso schwerer, Abschied zu nehmen. Ich fühlte mich leer. Nicks Brust hob sich zum letzten Mal und dann war es still. Er war gestorben. Nein! Nein! Nein! Lass mich hier nicht alleine, ich brauche dich! Ich liebe dich doch! Ich verfiel in einen Weinkrampf und versuchte Nick wiederzubeleben, doch es nützte nichts. Mein Oberkörper war voll mit Nicks Blut, sowie meine Hände. Plötzlich fielen mir die Worte ein, welche mein Freund kurz vor seinem Tod gesagt hatte: „Ich glaub an dich. Du bist stark, du schaffst das!“ Nein, Nick ich schaffe das nicht. Ich bin schwach. Mein Leben wurde mir gerade genommen. Ich glaube nicht einmal selbst mehr an mich. Er würde sicher wollen, dass ich weitergehe und es zum Meer schaffe. Aber ich hatte einfach keine Kraft. Meine leblose Hülle lag neben der Leiche von Nick. Ich werde ihn nie wiedersehen. Kein Australien, keine Hochzeit, kein Freund, den ich meinen Eltern vorstellen kann, kein Mensch der mich vorm Einschlafen im Arm hält… Ich wollte einfach nicht wahrhaben, was gerade passiert war. „Es tut mir so leid, Nick!“, ich gab ihm einen Kuss, dann kuschelte ich mich an ihn und beschloss, hier zu bleiben. Ich wollte ihn nicht alleine lassen. Meine Augen fielen zu, ich war einfach zu erschöpft und aufgewühlt darüber, was in den letzten Minuten geschehen war, es raubte mir meinen letzten Überlebenswillen. Es fühlte sich so an, als wäre gerade mein Herz herausgerissen worden. Schließlich weinte ich mich in den Schlaf. Ich wollte einfach nur noch weg und die Zeit zurückspulen.

Irgendwann wachte ich dann wieder auf und kannte mich im ersten Moment nicht aus. Erst, als ich die Leiche neben mir sah, erinnerte ich mich wieder und begann bitterlich zu weinen. Nicks Körper war kaltgeworden, es mussten Stunden vergangen sein. Ich dachte, jeden Moment würde er mich anschauen und sagen, dass es ihm gut geht, aber ich wusste, dass würde nie mehr passieren. Sein Körper sah schrecklich aus, aber am schlimmsten war die Schusswunde an seiner Brust. Das Fleisch klaffte auseinander, ich konnte einfach nicht hinsehen, deshalb drehte ich mich weg. Ich hatte einen Entschluss gefasst. Ich würde weitergehen, bis zu meinem bitteren Ende. Nicks Plan war es schon immer gewesen, dass ich überlebe. Ich wollte ihm wenigstens diesen Wunsch erfüllen und es wenigstens bis zum Meer schaffen. Wenn mich die Verrückten vorher abknallen, wäre es aber auch kein Problem. Diese Entscheidung kostete mich einige Überwindung. Ich gab Nick einen allerletzten Kuss auf seine bereits eiskalten Lippen und hielt seine Hand. Dann zeichnete ich mit meinen Fingern ein Kreuz auf seine Stirn und flüsterte: „Wir sehen uns wieder.“ Anschließend stemmte ich mich hoch auf meine Beine und wurde wieder von einem Weinanfall erschüttert. Dann ging ich rüber zu dem toten Psychopathen, welchen ich gestern mit dem Messer so schwer verletzt hatte, dass der Mann anscheinend auch gestorben sein musste. Ich hoffe er hatte unerträgliche Schmerzen. Ich beugte mich von oben herab über ihn und betrachtete die Wunde an seinem Bauch. Ich musste lächeln. Schnell schnappte ich mir sein Gewehr. Bevor ich ging, spukte ich noch auf ihn. Etwas anderes hatten diese Verrückten auch nicht verdient. Er hat Nick umgebracht.

Ich ging los, am liebsten wäre ich aber noch einmal zurückgerannt um bei Nick zu bleiben. Ich weiß nicht wie, aber ich schaffte es zu gehen. Mein Körper stolperte durch das Gestrüpp und ein paar Mal fiel ich hin, doch ich stand wieder auf. Einmal legte ich mir das Gewehr an den Kopf und wollte abdrücken, doch Nick gab mir einen Grund, weiterzumachen. Ich dachte die ganze Zeit an ihn. Sein Lächeln, seine Lippen auf meinen, seine wunderschönen Augen und die Art, wie er mich ansah. Nie wieder werde ich so für jemanden empfinden. Mein Herz raste und es fühlte sich an, als würde es gleich stehenbleiben. Es tat so weh.

Ich musste sicher, Stunden durch den Dschungel gelaufen sein, denn meine Füße taten schrecklich weh, genauso wie mein Herz. Zuerst setzte ich mich hin und begann ganz laut zu schreien, den ganzen Schmerz aus mir rauszuschreien. Es tat wirklich gut, wie ich feststellen musste. Unter Tränenschleier bemerkte ich auf einmal, dass hier die Bäume ganz anders aussahen, als zuvor. Sie waren irgendwie grüner und schöner. Das konnte nur eines bedeuten, ich war auf dem richtigen Weg zum Meer. Aber wollte ich das überhaupt? Es war der Traum von Nick und mir, zum Meer zu gelangen. Allison Miller du gehst jetzt weiter. Meine innere Stimme sprach wieder mit mir.Ich stand auf und ging weiter. Ich konnte es sogar schon beim Atmen spüren. Es lag irgendwie der Geruch von Salz in der Luft. Ein seltsames Gefühl machte sich in mir breit und ich musste weitergehen. Meine Beine weigerten sich zwar, aber ich zwang sie dazu, sich fortzubewegen. Dann auf einmal hörte ich es, das Rauschen vom Meer. Wehmütig blickte ich geradeaus und erkannte Etwas Helles. Ich durchbrach eine Barriere aus Pflanzen und landete im Sand. Ich flog auf die Knie. Schnell blickte ich wieder hoch und erkannte circa 20 Meter vor mir das dunkelblaue Wasser. Doch irgendetwas hinderte mich daran, dorthin zu gehen. Die Sonne blendete mich und ich kniff meine Augen zu. Ein paar hundert Meter weiter entdeckte ich ein Boot, welches im Wasser lag. Dann hörte ich Stimmen, welche durcheinanderriefen. „Leute! Ich brauche eure Hilfe!“ „Was ist denn?“ „Da ist ein Mädchen!“ „Oh mein Gott, sie blutet!“ Ich war unfähig mich zu bewegen, geschweige denn zu sprechen. Ich starrte in den blauen Himmel und beachtete die Menschen gar nicht, welche auf mich zuliefen. Geht weg! Ihre Schritte kamen näher und ihre Rufe wurden lauter. Ich hatte es geschafft. Ich war beim Meer. Doch ich fühlte mich schlechter als je zuvor. Meine Augen beobachteten die Wellen, welche an den Felsen brachen und weiße Schaumkronen bildeten. In diesem Moment wollte ich einfach nur sterben. 

The IslandWhere stories live. Discover now