Kapitel 1

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Ein leichter Wind umwehte seine Nase. Nicht mehr so lau wie noch vor einigen Tagen. Gleichwohl wohltuend und befreiend.

Der Herbst überraschte jeden Morgen mit einer neuen Veränderung. Gestern noch fielen die Regentropfen wie zarte Federn, morgen würden sie schon schwer und in eiskaltem Blau aus den tiefhängenden grauen Wolken ihren Weg zur Erde finden. Heute erblickte David noch grüne Felder und Wälder, deren Bäume voller Laub waren. An der großen Kastanie vor seiner Wohnung konnte er heute schon jeden Tag mehr und mehr gelbe oder orangefarbene Blätter ausmachen.

Von seinem Balkon aus hier in einem der südlicheren Stadtteile Dublins, die ersten Ausläufer der Berge waren zum Greifen nah, würde er in ein paar Wochen sogar weiße Felder sehen können.

Nein, korrigierte eine Stimme in seinem Kopf, nein, du wirst die weißen Felder nicht mehr sehen.

David liebte das milde Klima auf der Insel. Selbst im Winter gab es selten Temperaturen unter Null. Die Wicklow Mountains jedoch waren hoch genug, um sich mit einigen Schneeflocken in ein wahres Schneeparadies verwandeln zu können. Der Blick von Davids Balkon im siebten Stock des Wohnkomplexes fokussierte sich. Sein Blick erstarrte, während er seinen Gedanken nachhing.

Halloween.

Die Zeit der Geister und Dämonen.

War dies ein guter Zeitpunkt?

Gab es überhaupt den richtigen Zeitpunkt?

David wußte es nicht. Er wußte nur, es gab keine Alternative. Nicht für ihn.

Der Blick entschädigte für die sonst graue und wenig einladende Umgebung der schlicht gehaltenen und spartanisch hergerichteten Umgebung der Wohnanlagen, die tausenden Menschen Unterkunft bot, ohne ein Bedürfnis nach Gemütlichkeit, Anmut oder Liebreiz zu befriedigen.

Das großräumige Areal war pragmatisch gestaltet. Kantige Betonbauten, parallel angelegte Gehwege, eine akkurat gehaltene und geometrisch korrekt angelegte Grünanlage in der Mitte.

Beschweren konnte und wollte er sich nicht. Schließlich konnte er sich glücklich schätzen, hier ein Apartment bekommen zu haben. Die Mieten waren günstig, mit der unlängst fertig gebauten Straßenbahnlinie der LUAS, brauchten sie nicht viel mehr als eine halbe Stunde ins Dubliner Zentrum und eine Shopping-Mall war gerade um die Ecke. Der Kindergarten für die kleine Tochter und die Vorschule für seinen Ältesten waren fussläufig in ein paar Minuten zu erreichen. Das war alles, was sie brauchten. David verdiente nicht schlecht als Busfahrer bei Dublin Bus, musste aber oft Nachtschichten übernehmen. Seine Frau Niamh hatte ihre Stunden im Krankenhaus auf das Minimum begrenzt, als die kleine Aoife zur Welt gekommen war. Zum Monatsende wurde es etwas eng, aber es beruhigte David, dass Niamh viel Zeit für die Kinder hatte. Er wollte nicht, dass seine Kleinen zu viel und zu lange in der Einrichtung bleiben mussten. Das war nicht gut. Für die Erziehung und die Entwicklung würde sich zu wenig Zuneigung und vor allem zu wenig Zeit nur negativ auswirken.

Das wußte er selbst nur zu gut.

Er wußte, was es hieß, allein von der Schule nach Hause zu kommen. Wenn keiner da war, um bei den Hausaufgaben zu helfen. Niemand, der Mittagessen kochte.

Am eigenen Kinderleib hatte er dies erfahren. Nicht einmal zum Schlafengehen war seine Mutter zu ihm gekommen. Sie hatte sich in Bars und Pubs herum getrieben. Bei ständig wechselnden Liebhabern. Für ihren Sohn war nie Zeit gewesen. David hatte sich allein durchgeschlagen. War auf sich gestellt.

Die Hilfe, die er suchte, die sich ihm bot, kam wie aus heiterem Himmel, stellte sich schließlich jedoch als die Hölle heraus. Das merkte er allerdings erst, als es zu spät war. Viel zu spät. Die Konsequenzen trug er bis heute.

Seine Kinder sollten es besser haben als er.

David sog intensiv die Luft ein, seine Nasenflügel blähten sich weit auf. Er konnte den erdigen, bitteren Geruch von nassem Laub deutlich riechen. Er liebte diese Jahreszeit. Wenn die meisten Menschen vom Sommer schwärmten oder den Frühling in den höchsten Tönen lobten, war der Herbst Davids bevorzugte Zeit. Das Licht der tiefer stehenden Sonne und der braunen und roten Blätter der Vegetation wirkten beruhigend. Stets lag ein kühler, erdiger Geruch in der Luft. Wenn Mensch und Natur zur Ruhe kamen, dennoch der Wald in den schönsten Gelb- und Rottönen erstrahlte, kam auch David zur Ruhe, stellte er sich auf gemütliche Abende mit seinen Kindern und seiner Frau ein.

Seit kurzem jedoch war alles anders.

Was sollen sie denn mit mir anfangen?, dachte David. Ich bin ein Wrack. Ich kann nicht mehr. Was sollen meine Kinder mit einem Vater anfangen, der mit sich selbst schon nicht klar kommt?

Lange dachte er, er könne alles vergessen. Neu anfangen. Die Hölle hinter sich lassen. Nie wieder daran denken, dann würden auch die Erinnerungen verschwinden. Die schlaflosen Nächte. Die Bauchschmerzen.

Eine irgendwann vorhandene Zuversicht in die Zukunft, kaputt. Zerstört durch die ständige Präsenz der Vergangenheit.

Er wollte sicher gehen. Hundertprozentig sicher sein, dass er die richtige Entscheidung traf.

Nein, war die Antwort auf die Fragen, die er sich selbst stellte. Alle hatten Unrecht. Die Therapeutin, die Selbsthilfegruppe. Sie hatten alle keine Ahnung. Ich kann es nicht hinter mir lassen. Keiner kann das. Nicht nach dem, was alles passiert war. Es holt dich doch irgendwann wieder ein. Viel wahrscheinlicher war sogar, dass es die ganze Zeit über da gewesen war. Nur verdrängt. Aber permanent vorhanden.

Im Wohnzimmer hinter ihm lief der Fernseher. Der Ton drang bis auf den Balkon.

Nachrichten: Ein Junge wurde vermisst. Seit gestern. Die Suche lief auf Hochtouren. Es gab einen Verdacht. Nichts konkretes. Nur eine Vermutung. Eine Durchsuchung hatte stattgefunden. Jedoch ohne Erfolg. Fast nahtlos ertönte die Nachricht, von einem englischen Prinzen und seiner wunderschönen Frau, die am Nachmittag erwartet wurden. Sie würden die Eröffnung eines neuen Gebäudes im Trinity College begleiten und mit dem Präsidenten zu Abend essen. Das Wetter durchwachsen, Sonne und Regen. Irisches Wetter, dachte David und trat entschlossen an das Geländer des Balkons heran.

Vereinzelte gelb-braune, feuchte Blätter des hochgewachsenen Kastanienbaumes vor dem Wohnkomplex lösten sich, von einem Wind erfasst, von ihrem Zweig, der sie den ganzen Sommer über gehalten hatte. Ihre Zeit war nun vorüber. Sie schwebten langsam hin und her segelnd zu Boden. Vom Wind getragen, blieben sie schließlich reglos neben Davids zerschmettertem Kopf liegen und vermischten sich mit seinem Blut, das sich in einer immer größer werdenden Lache über den Asphalt ausbreitete.

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⏰ Ostatnio Aktualizowane: Mar 29, 2020 ⏰

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Verrat: Dublin-KrimiOpowieści tętniące życiem. Odkryj je teraz