Kapitel 61 - In der Schwebe

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Erst jetzt lösten sich ihre Finger und seine Gefährtin fiel ihm um den Hals. »Was machst du denn für Sachen«, wimmerte sie völlig aufgelöst. »Du dummer, dummer Feuerjunge. Ich dachte schon, Geppetto hätte dir irgendwie was angetan. Ich dachte wirklich, er hätte irgendwas gemacht.«
Geppetto?
Mile verstand schonwieder nicht. Was war hier nur los?
Red wurde von ihm weggezerrt.
»Nicht. Er hat einen Schock«, knurrte der Hutmacher und strich Mile vorsichtig über das Haar, als wäre er noch ein kleiner Junge.
Hinter sich vernahm Mile ein Geräusch, auf das er schon seit seiner Kindheit geprägt war. Sobald er es hörte, klingelten bei ihm die Alarmglocken. Er hörte seine kleine Schwester weinen.
Er wandte sich um und sah Sabrina gleich hinter ihm sitzen. Sie lag noch immer in den Armen des Piraten. Das Gesicht hatte sie in dessen Halsbeuge vergraben. Ihre Hände hatten sich um Hook geschlungen und ihre Finger klammerten sich so fest an dessen Kleidung, als hätte sie Angst, zu fallen, hielte sie sich nicht an ihm.
Falk strich sanft über Sabrinas zitternden Körper und flüsterte ihr beruhigend ins Ohr, wie man es bei Kindern tat, wenn diese aus einem Alptraum erwachten und völlig verängstigt waren.
Miles Blick kreuzte den des Piraten. Kaum merklich nickte Falk. Er würde sich um Sabrina kümmern.
»Trink!«, befahl eine Stimme vor ihm und Mile drehte sich wieder zu dem Hutmacher um.
Vor seinem Gesicht schwebte eine gläserne Phiole, in der eine dunkle, aber transparente Flüssigkeit schwappte.
»Was ist das?«, brummte Mile. Noch immer war er nicht durstig.
»Es wird dir helfen, wieder zu dir zu kommen.«
»Ich bin doch bei mir.«
Der Hutmacher schüttelte den Kopf. »Schock«, knurrte er. »Du hast keine Ahnung was hier los ist. Dein Kopf spielt nicht mit, mein Junge. Und ich wünschte, wir könnten dich in dem Zustand lassen, dir die Unwissenheit schenken, mit der deine Psyche dich zu schützen versucht, aber das geht nicht.«
Mile schüttelte den Kopf. Er hatte da eine ganz, ganz üble Eingebung.
»Meine Psyche will mich schützen? Vor was denn? Jeremy, Red... Was ist hier los? Wieso ist Sabrina so verzweifelt?«
Jeremy Topper sagte nichts. Stumm hielt er ihm weiter die Phiole hin.
Mile verstand einfach nicht, was los war. Verwirrt sah er zu Red auf.
Wie bleich sie war... Auch ihre Augen waren rot und verquollen, als hätte sie heftig geweint. Ihre Unterlippe zitterte, doch sie biss sich fest drauf, bis Blut unter ihren blendend weissen Zähnen hervortrat.
Er machte den Mund auf, um ihr zu sagen, sie solle Acht geben, doch sie kam ihm zuvor und schniefte: »Trink einfach, Mile.«
Also nahm er Jeremy die Phiole ab, entkorkte sie und trank die dunkle Flüssigkeit, die nach kühlem, schleimigem Fett schmeckte.
»Gut«, knurrte der Hutmacher. »Red, geh mit ihm vors Zelt.«
Verwirrt sah sie zu ihm auf. »Wieso?«
»Weil«, erklärte er, »das gerade was Stärkeres war als Vergissmeinnichtextrakt gegen eine Miniamnesie nach einem Kater. Das war eine Mixtur aus Nebelbast, Tollnussöl und Brechrinde. Nebelbast und Tollnussöl wirken Schockamnesien entgegen, doch sie sind extrem giftig. Durch die Brechrinde wird er das ganze wieder erbrechen. Aber nach dem, was er erlebt hat, wird er das sowieso. Die Brechrinde war nur beigemischt, um sicher zu gehen.«
»B-bitte, was?!«, stammelte Mile, da wurde ihm auch schon schlecht. Er krümmte sich, als er spürte, wie ihm die Galle hoch kam.
Red haperte nicht lange, packte ihn am Arm und zerrte ihn Richtung Zeltausgang.
Sie traten ins Freie und Mile begriff, dass nicht nur der kleine Rat im Zelt völlig am Boden zerstört war. Nein, die ganze Armee der Rebellen schien völlig aus dem Häuschen zu sein. Soldaten rannten umher. Überall erklang Klage und Verzweiflung.
»Das Sitzungszelt steht hinter der Bühne und dem Scheiterhaufen, wo wir morgen den Segen der Götter erbeten hätten. Nach der Sitzung will der Rat die Rebellen informieren...«, erklärte Red bedrückt.
Drei geschlossene Reihen an Stürmerelfen standen um das Zelt, aus dem sie gerade gekommen waren. Allesamt waren sie schwerbewaffnet und bereit, das eigene Leben für die Ratsmitglieder im Zelt zu opfern. Sie versperrten Mile die Sicht auf die versammelten Rebellen.
»Das Zelt war ursprünglich für die Religionen der Rebellen gedacht. Da, wo die Priester sich vor den Messen versammeln sollten... Nun haben wir uns darin versammelt, um uns auf die offizielle Bekanntgabe dieser Katastrophe vorzubereiten...«
Mile stöhnte und fiel auf die Knie.
»Halt durch, mein Feuerjunge, gleich ist es vorbei. Ich bin bei dir. Du wirst...«
Doch mehr bekam Mile von Reds tröstenden Worten nicht mehr mit. Seine Bauchschmerzen scheinen an ihrem Höhepunkt angekommen zu sein und er krümmte und bäumte sich auf. Doch er vergass seine Qualen in seinem Unterleib schnell, denn schlagartig überkamen ihn viel schlimmere, rasende Kopfschmerzen und dann begann es... Er fing an, sich zu erinnern...

Uralte Fassung (1): Twos - Die Prophezeiung von Feuer und EisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt