Als Tom danach in sein Zimmer gegangen war, musste er sich erst einmal hinlegen und das eben geschehene verarbeiten. „Das war bestimmt nur ein normaler Arzt", meinte Lena, die sich zu ihm gesetzt hatte. „Da ist sicher nichts weiter dabei, auch Ärzte können gestresst sein und das, was sie eigentlich sagen wollen, verwirrend formulieren." Nicht ganz überzeugt, aber doch beruhigt akzeptierte Tom die Worte seiner Schwester. Es war schon abends, und morgen würde Tom eine Mathearbeit schreiben sowie beweisen müssen, dass er das Gedicht auswendig konnte. Also überredete er seine Schwester, nun bitte sein Zimmer zu verlassen und versuchte baldmöglichst schlafen zu gehen – es würde ein langer Tag werden.

Am nächsten Morgen war zuerst alles normal. Aufwachen, anziehen, frühstücken, zum Bus gehen. An der Schule angekommen verließ Tom den Bus, der ihn hergebracht hatte, und betrat die Schule durch den Haupteingang. Die Schule war groß, grau und hässlich, und um zum Eingang zu gelangen, musste man zuerst über den großen, baumlos gepflasterten Schulhof an der Sport- und Schwimmhalle vorbei gehen. Innerhalb des Schulgebäudes sah es nicht viel besser aus als von außen, und doch waren die Flure voll von Schülern. Dass sich alle an dieser Schule anmeldeten, lag wohl daran, dass es im erreichbaren Umfeld kein weiteres Gymnasium gab.
Tom musste, um zu seinem Klassenraum zu gelangen, sich zuerst durch die Menschenmassen, die die Schulstraße füllten quetschen, um zum Ende das Flures zu gelangen und die erste Treppe links nehmen, um in den zweiten Stock zu gelangen. Hier war es schon leerer, und außer den Schließfächern, die den Gang säumten, und den Leuchtstoffröhren, die von der Decke hängend ein kaltes, weißes Licht abgaben, sah man nur Schüler, die an den Wänden des Ganges saßen, darauf wartend, von ihren Lehrern in die Klassenräume gelassen zu werden. Raum 114, Raum 115... ah, da war er ja, Raum 118. Als erstes hatte Tom an diesem Tag Geschichte, was noch zu den Fächern gehörte, die in Klassen statt in Kursen unterrichtet wurden; deshalb fand Tom auch schon seine Klassenkameraden sitzend neben der Tür vor. Er wollte sich gerade zu seinem Freund Luc setzen, als auch schon die Geschichtslehrerin schnellen Schrittes den Gang entlang gelaufen kam. Den richtigen Schlüssel bereits in der Hand, ging sie ohne Umwege auf die Tür zu, um sie zu öffnen und den Unterricht nach Möglichkeit pünktlich zu beginnen. „Hoffentlich nimmt sie mich gleich nicht dran", meinte Luc. „Ich habe nicht gelernt." Ach ja, das Gedicht. Vielleicht lernten sie ja heute mehr darüber, was es zu bedeuten hatte – schließlich hatten sie es als Hausaufgabe über das Wochenende auswendig lernen müssen. Zu irgendetwas musste es ja nützen.

„Also" begann die Lehrerin, Frau Hako, als sich alle gesetzt hatten und die Begrüßung vorüber war. „Ihr hattet Hausaufgaben." Ein allgemeines Stöhnen ging durch die Klasse. „Aber Sie haben uns doch gar keine Hausaufgaben aufgegeben!", kam es von hinten. Na klar, irgendwer musste ja immer vorlaut sein. „Falsch, ihr hattet sehr wohl welche auf, was das Klassenbuch auch bestätigen kann. Und da der Klassenbuchdienst ja immer drüberschaut, ob das, was der Lehrer als Stundeninhalt geschrieben hat, korrekt ist, könnt ihr da auch nichts gegen sagen." Natürlich wusste auch Frau Hako, dass der Klassenbuchdienst zu faul für so etwas war, jedoch hatte so auch niemand mehr die Möglichkeit, ihr zu widersprechen, beziehungsweise die Behauptung, es hätte keine Hausaufgaben gegeben, als Ausrede zu verwenden. Was sicherlich einige getan hätten, da sowieso selten mehr als die Hälfte der Klasse die Geschichtshausaufgaben hatte. „So, wer möchte das Gedicht denn mal vortragen? Luc?" Oh je, das war ja klar. Luc setzte gerade zu einer Ausrede an, da kam die Rettung. „Oder nein, warte", meinte Frau Hako, „Ich denke, das könnte besser Tom machen; schließlich habe ich von dir, Tom, ja in letzter Zeit eher weniger gehört." Erfreut, dass er rechtzeitig angefangen hatte zu lernen, fing Tom an zu reden: „In dreihundert Jahren, der Spro..." Doch er wurde unterbrochen. „Nein, warte, stell dich besser mal hin und geh zum Pult, damit du zur ganzen Klasse vortragen kannst." Also ging Tom vor zum Pult, drehte sich zu Klasse und fing an vorzutragen.

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⏰ Last updated: Feb 04, 2020 ⏰

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Lost Times - Gestohlene Nacht (Leseprobe)Where stories live. Discover now