Der Blick

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  Versuch einer Philosophie des Aspie-Blickes

1. Einleitung

Es ist gar nicht so einfach, einen Kontakt zu anderen Menschen zu knüpfen oder gar Zugang zu einer geselligen Gruppe zu finden. Dafür sind bestimmte Kompetenzen notwendig, die fast immer auf intuitive, unbewusste Weise ihre Wirkung entfalten. Die soziale Situation, in der man sich gerade befindet, sollte angemessen erfasst werden, Absichten und Gefühlslagen der Anderen sollten identifiziert und entsprechend berücksichtigt werden, das eigene gesprochene Wort, Mimik und Gestik präzise präsentiert werden. All das ist erst einmal wirklich gar nicht so leicht zu bewerkstelligen. Von zentraler Bedeutung dabei ist der wechselseitige Austausch der Blicke. Der Augenkontakt entscheidet maßgeblich mit, ob die Kontaktaufnahme zu einem anderen Menschen gelingt und/oder die Aufnahme (Inklusion) in eine Gruppe möglich ist. Ich möchte zwei Typen von Blicken dabei unterscheiden, die ich für wesentlich halte: den Gutenberg-Blick und den taktilen Blick.

2. Der Gutenberg-Blick

Gutenberg war derjenige, der in der Mitte des 15. Jahrhunderts den Buchdruck erfunden hatte. Bis zu diesem Zeitpunkt konnte in Europa niemand lesen oder gar schreiben, sieht man von wenigen Ausnahmen ab wie einigen Mönchen in abgeschiedenen Klöstern. Plötzlich hatten Adlige und Bürger Zugriff auf Bücher. Das galt als schick und die Bücher und Zeitschriften verbreiteten sich schnell. Lesen zu lernen war aber schwierig. Die Lesewilligen schauten sich die Texte an, bewunderten die geschwungenen Linien des Buchstaben „s" oder die Kantigkeit des Buchstaben „k". Ansonsten verstanden sie nicht viel. Sie mussten erst lernen, den Blick vom einzelnen Buchstaben zu lösen, den Focus ihres Blickes also nicht direkt auf den einzelnen Buchstaben zu haben, sondern ein wenig davor im leeren Raum sozusagen. Damit verschafften sie sich die Möglichkeit, das gesamte Wort unmittelbar zu erfassen und nicht nur das, sondern auch einen Teil des Satzes, vielleicht sogar den gesamten Satz und das mit einem Blick! Der Gutenberg-Blick war geboren. Wer als kultiviert und gebildet gelten wollte, pflegte diesen Blick und nicht nur im Rahmen der Lektüre, sondern auch, wenn er auf andere Personen traf. Das Gegenüber wurde nicht mehr direkt angeschaut, sozusagen mit den Blicken hautnah abgetastet. Der Focus des Blickes wurde vor diese Person platziert, damit war es möglich, die Person als Ganzes wahrzunehmen, vielleicht auch die unmittelbare Umgebung, vielleicht sogar die Räumlichkeit oder die Landschaft, in der sich die Person befand. Der Einzug der Zentralperspektive in der Malerei! Die Geburt der Renaissance! Diese Art zu blicken hat sich heute überall durchgesetzt. Je formeller der Anlass für einen sozialen Kontakt ist, desto obligatorischer ist der Gutenberg-Blick. Verzichtet man auf ihn bei diesen formellen Kontakten, bei denen es auf Respekt, Höflichkeit und Distanz ankommt, gilt man als rüpelhaft oder ungebildet oder vulgär. Die Exklusion folgt auf dem Fuße.

3. Der taktile Blick

Wie aber blickten die Menschen vor Gutenberg oder lange noch diejenigen, die in den unteren sozialen Schichten (Landbevölkerung, Industriearbeiter) beheimatet waren? Wie blicken heute noch Menschen, die sich zu hochpersönlichen, geselligen, lustigen Treffen verabreden, wo Distanz, Respekt und Höflichkeit nicht unbedingt die oberste Priorität haben? Sie verwenden den taktilen Blick. Das heißt, dass sie ganz direkt auf das Gegenüber schauen, die Einzelheiten und die Körpereigenarten wahrnehmen, wie mit Händen das fremde Gegenüber abtasten (=taktil). Das verlangt eine gewisse Kompetenz (Feingefühl, seine eigenen Grenzen kennen etc.) und das unausgesprochene Einverständnis des Anderen (die Komplizenschaft). Gleichwohl, der Übergang vom Gutenberg-Blick zum taktilen Blick ist der absolut heikelste Moment bei der Aufnahme von hochpersönlichen oder geselligen Kontakten. Misslingt dieser Übergang aus welchen Gründen auch immer, bleibt in der Regel die Aufnahme formloser, persönlicher Beziehungen verwehrt. Entweder wird der Betroffene als förmlich, distant und unnahbar abqualifiziert, oder er gilt als rüpelhaft, vulgär und ungebildet, je nachdem welche Codes nicht eingehalten wurden.

4. Die Blicke der Aspies

Die Aspies haben alle Möglichkeiten, in jeder Hinsicht jeden „Fehler" zu begehen und jedes Missverständnis zu provozieren. Ihnen fehlt es schwer fremde Blicke richtig zu interpretieren oder eigene angemessen auszusenden. Oft verweigern sie den Blick als solchen ganz und schauen zur Seite oder sonst wohin. Sie gelten dann als unhöflich, unnahbar und abweisend. Gelingt ihnen der Blickkontakt, so weiß das Gegenüber nie so recht, welcher Blick denn mit welcher Absicht ausgesandt wird. Oft ist es so, dass von ihnen, den Aspies der Gutenberg-Blick vorgezogen wird. Es bleibt dann bei einem formellen, höflichen, respektvollen Umgang aller Beteiligten, der Übergang in eine persönlich gedachte Beziehung oder der Zutritt in eine informelle, gesellige Gruppe ist verwehrt.

Was tun? Es gibt verschiedene Möglichkeiten.

X Es ist relativ einfach, den Gutenberg-Blick wie auch den taktilen Blick einzuüben und zu perfektionieren und sich der eigenen Blickmuster auch gewahr zu werden.

Der Gutenberg-Blick wird durch die eigene Lektüre gefördert, zu Beginn mögen kurze und übersichtliche Satzkonstruktionen nützlich sein, im Verlaufe der Lesepraxis dürfen die Sätze durchaus auch komplexer und länger werden. Ziel ist, den Blick vom einzelnen Buchstaben weg hinauf das ganze Satzgebilde zu lenken.

X Es gibt viele Möglichkeiten, den taktilen Blick zu fördern. Ausgestattet mit einem Schreibblock und Schreibgerät könnte man ein Kunstmuseum besuchen und ein traditionelles figürliches Bild auswählen, das z. B. einen Fürsten oder eine Gräfin darstellt. Aufgabe wäre es, alle markanten Details der gemalten Objekte wahrzunehmen, zu kategorisieren und schriftlich auf dem Block zu notieren: Gesichtsausdruck, Körpermerkmale, Haltung, Kleidung, aber auch unmittelbare Umgebung wie Möbel, Blumen, Wandschmuck u.v.a.m., d.h. mit dem eigenen Blick das Objekt tastend zu begreifen. Wenn man möchte, kann man mit der gemalten Person eine gewisse Komplizenschaft eingehen, es langt, in Gedanken zum Abschied einige Faxen zu machen, mit den Händen lange Nasen zu imitieren und die Zunge herauszustrecken, dann gedanklich abzuwarten, dass das Gegenüber zurück lacht oder zumindest lächelt und dieses Lächeln seinerseits zu erwidern. Gelingt dies, wird alles gut.

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