Kapitel 5

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Und wieder stehe ich hier. Es ist der Tag nach meinem Wiedertreffen mit Oikawa. Die weiße Tür mit der Nummer 347 hat sich bereits richtig in mich eingebrannt, so lange stehe ich nun schon davor und starre sie an. Soll ich reingehen? Soll ich weglaufen? Gerade möchte ich einen Rückzieher machen und mich umdrehen, da wird mir die Entscheidung auch schon abgenommen. Die Tür schwingt auf und Oikawa steht im hölzernen Rahmen, den verletzten Arm in eine stützende Schlinge gelegt.
"Iwa-Chan!", ruft er aus, als er mich erblickt.
"Du kannst mir auch wirklich nicht lange fern bleiben."
Bei einem Blick in sein grinsendes Gesicht wird etwas in mir weich. Damit meine ich aber nicht meine Knie, obwohl diese auch nicht mehr so standhaft sind wie vorhin.
"Falls es dir noch nicht aufgefallen ist, Shittikawa, ich arbeite hier."
"Aber ich habe mir sagen lassen, dass du normaler Weise nicht für die 300er Zimmer verantwortlich bist."
Als hätte er mich bei etwas verbotenen erwischt, sehe ich zu Boden. Mein Gesicht fühlt sich ein wenig heiß an. Ich reagiere nach der langen Zeit der Trennung wohl viel stärker auf ihn als früher, wo er jeden Tag um mich herum war.
"Gehst du mit mir ein Stück?", fragt er mich da und ich bin dankbar, dass er mich so aus dieser etwas peinlichen Situation holt.
"Nur ein paar Minuten, ich muss wie gesagt arbeiten."
Eigentlich möchte ich, dass es länger als nur ein paar Minuten wird, aber ich kann leider einfach nicht. Meine Pause dauert nur noch etwa eine viertel Stunde.
Dicht gehe ich neben ihm her, genau wie früher immer. Hin und wieder werfe ich ihm einen Blick zu, doch er erwiedert ihn nicht. Er sieht starr zu Boden.
"Was ist los?", frage ich ihn besorgt.
"Ach, nichts."
Die Antwort kam ziemlich schnell. Etwas zu schnell für meinen Geschmack.
"Sicher?"
"Ja. Ich habe nur gerade überlegt, warum wir so leise sind."
Ich sehe ihn von der Seite aus an und wir setzen uns auf eine Bank vor dem Krankenhaus.
"Weil wir nicht einfach da weitermachen können, wo wir aufgehört haben. Wir sind erwachsen geworden, haben nun eigene Leben." Verwirrt breche ich ab. Stimmt, Oikawa und ich haben eigene Leben und seines sollte eigentlich in Miyagi sein. Klar, er ist zwischendrin immer wieder in Tokio, dort findet ja schließlich auch das Training der Nationalmannschaft statt, aber primär trainiert er mit seinem 'gewöhnlichen' Verein in Miyagi.
"Warum bist du eigentlich hier?"
"Was meinst du?"
Mit schief gelegtem Kopf sieht er mich an. Das Sonnenlicht spiegelt sich in seinen schönen Augen und seine langen Wimpern werfen sanfte Schatten auf sein Gesicht. Er ist noch schöner geworden. Wie gerne würde ich diese Schönheit nur für mich beanspruchen.
"Du solltest in Miyagi oder Tokio sein. Warum bist du aber jetzt in Nagasaki, so weit weg von zu Hause? Und warum musst du hier operiert werden?"
Wieder weicht er meinem Blick aus. So etwas hat er früher eigentlich nie gemacht.
"Ich.. bin im Urlaub. Jetzt, wo ich sowieso ausfalle, gibt es keinen besseren Zeitpunkt. Meinen Arm habe ich mir hier ausversehen angeschlagen, deshalb musste er nun doch gerichtet werden."
Seine Stimme wirkt merkwürdig betrübt. Bestimmt trifft es ihn ziemlich hart, dass er vorerst nicht mehr spielen kann.
"Ganz alleine?"
Er zögert etwas, bevor er antwortet. Kaum merklich, aber ich als sein ehemals bester Freund bemerke es natürlich sofort. Zwar scheint er etwas ruhiger geworden zu sein, aber ansonsten ist er noch der gleiche Idiot wie früher.
"Nein, ich bin mit.. einer Freundin.. hier."
Mit einem Mal, kommt mir die Schwarzhaarige wieder in den Sinn, die mir auf dem Weg zu seinem Zimmer entgegen kam.
"Hey, lass uns bitte wieder Freunde sein und über alte Zeiten quatschen."
Damit habe ich jetzt ehrlich gesagt nicht gerechnet. Überrascht sehe ich ihn an. Er will wirklich wieder mit mir befreundet sein!? Dass er von sich aus so etwas von sich gibt, sieht ihm nicht wirklich ähnlich. Sein noch unveränderter Charakter war wohl doch ein Trugschluss. Schließlich realisiere ich seine Worte und bringe ein zunächst schwaches, dann etwas stärkeres Nicken zu Stande.
Er lächelt mir leicht zu und es haut mich fast um. Ich möchte ihn gerade fragen, was sich in den Jahren in unserem Dorf so verändert hat, da reißt mich mein Wecker aus meinem Vorhaben. Gegen meinen Willen stehe ich auf.
"Du musst gehen, huh?"
Wieder nicke ich.
"Bevor du gehst!", ruft er mir nach und hält mich mit seinem gesunden Arm am Oberteil fest.
"Ich werde heute Abend vorraussichtlich entlassen. Können wir uns danach noch einmal treffen?"
Er sieht mich bittend aus seinen großen Rehaugen an. Wie sehr ich diesen Ausdruck vermisst habe, wird mir erst in diesem Moment richtig bewusst. Ein kleiner Stich schleicht sich in mein Herz.
"Natürlich. Kennst du das Café Kobayashi?"
"Morgen um 6.", nickt er und ich drehe mich schnell um und gehe, bevor er sieht, wie sehr ich gerade in mich hinein lächele.
Ich dachte, der gestrige Arbeitstag würde sich ziehen, aber der heutige ist noch viel schlimmer. Allerdings bin ich auch bei weitem besser gelaunt und das fällt auf. Am Ende des Tages wurde ich ganze 7 Mal darauf angesprochen und es hat sich jeder für mich gefreut, dass ich einen alten Freund wiedergefunden habe. Wenn die Anderen nur wüssten!
Zum Glück habe ich morgen frei, dann kann ich mich in Ruhe darauf vorbereiten. Allerdings ist es auch noch so lange hin. Etwa 24 Stunden, von denen ich ungefähr 8 mit Schlafen und eine mit Essen verbringen werde. Eine weitere mit Duschen und fertig machen und noch eine für den hinweg. Morgen braucht Hiko das Auto dringender als ich, also muss ich zu Fuß gehen. Bleiben restliche 13 Stunden, die irgendwie überbrückt werden wollen.
Glücklich seufzend lasse ich mich zu Hause neben Hoshi und Hiko auf das Sofa fallen.
"Gute Nachrichten?", fragt die weitaus ruhigere der beiden.
"Sehr gute, wir treffen uns morgen."
Ich freue mich wirklich, dass er wieder mit mir befreundet sein möchte. Zwar ist unser Verhältnis etwas.. seltsam.. und er wirkt ein wenig fremd, aber das holen wir schon wieder auf. Wenn sein Arm verheilt ist, können wir ja vielleicht auch wieder zusammen Volleyball spielen. Nicht viel, nur ein paar Bälle. Mehr würde mein Rücken vermutlich nicht aushalten, aber ich habe so lange keinen seiner Bälle mehr geschlagen. Es juckt mir in den Fingern. Ich vermisse dieses Gefühl und das Wissen, dass da jemand ist, auf den ich mich komplett verlassen kann. So sehr.
"Das freut mich, aber musst du deshalb unser Popcorn auffressen?", murrt Hiko leise und Hoshi legt ihr beruhigend die Hand auf den Oberschenkel.
Schuldbewusst sehe ich auf die weißen Wölkchen in meiner Hand.
"Es ist noch was vom Mittagessen übrig, falls du es dir warm machen möchtest.", setzt mich Yuma in Kenntnis, der gerade das Zimmer betritt.
Hungrig mache ich mich über die Reste her. So viel habe ich schon seit Ewigkeiten nicht mehr gegessen und mein voller Bauch macht mich schläfrig. Müde sinke ich auf der bequemen Matratze zusammen und ziehe mir die Decke über den Körper. Bald darauf drifte ich langsam weg.

Als ich aufwache, kitzeln mich bereits starke Sonnenstrahlen in der Nase und außnamsweise stehe ich ziemlich schnell auf. Naja, also für meine Verhältnisse.
Ein Blick aus dem Fenster verrät mir, dass es ein wirklich schöner Tag ist. Die Sonne ist zwar noch halb hinter den hohen Häusern verborgen, aber sie leuchtet schon jetzt mein kleines, aber gemütliches Zimmer unter dem Dach vollständig aus. Wir haben damals wirklich Glück gehabt, dass wir die zweistöckige Wohnung direkt ganz oben bekommen haben. Sie bietet die beste Aussicht und die Dachschrägen gefallen mir außerordentlich gut. Man fühlt sich so geborgen. Nur die Treppen gehen mir ziemlich auf die Nerven, aber dadurch bleibe ich wenigstens halbwegs in Form. Volleyball kann ich ja leider nicht mehr spielen. Am Anfang hat diese Erkenntnis wirklich sehr weh getan, aber mittlerweile ist die entstandene Wunde in meiner Seele halbwegs verheilt und ich habe mich daran gewöhnt.
Ganz ohne richtigen Sport ertrage ich es jedoch auch nicht, sodass ich angefangen habe, als Ausgleich zu schwimmen. Anfangs war es Reha bedingt, mittlerweile mache ich es mindestens ein Mal in der Woche.
So auch heute, denn ich muss unbedingt den Kopf frei bekommen und brauche etwas beruhigendes, bevor ich mich später mit Oikawa treffe.
Yuma hatte Nachtschicht und ist noch nicht zurück gekommen, aber selbst wenn, so müde könnte er mir sowieso kein Frühstück zubereiten. Es klingt jetzt vielleicht so, als würde ich ihn nur als meinen persönlichen Koch ausnutzen, doch dass er der einzige in unserer WG ist, der Kocht, liegt daran, dass er nun einmal der einzige von uns ist, der überhaupt kochen kann. Sowohl Hiko, als auch ich haben es schon oft versucht, aber es ist niemals etwas wirklich Essbares herausgekommen. Ich habe es mittlerweile aufgegeben, aber Hiko versucht tatsächlich immer noch sich etwas von Hoshi beibringen zu lassen. Vergebens.
Ich beschließe also, mir unterwegs noch etwas zu holen, doch meine stamm Bäckerei ist heute ungewöhnlich voll. Müde sehe ich in meinen Kaffee und wieder erinnert er mich an die Augen Oikawas. Auch die Wärme, die er ausstrahlt passt. Sie durchfließt mich und trifft direkt in meine Seele. Wie konnte ich nur all die Jahre ohne ihn überstehen? Erst jetzt, wo er nach so langer Zeit wieder in greifbarer Nähe ist merke ich, dass ich noch viel mehr in diesen Idioten verliebt bin, als ich dachte.
Ein kleines Lächeln huscht über mein Gesicht.
Ich wollte mich niemals so verlieben. Ich habe immer gedacht, dass Liebe und so ein Kitsch nur was für Frauen ist. Aber diese eine Nacht im Winter hat alles verändert. Ich weiß jetzt, wie viel Liebe einem geben kann, wenn man sie nur in sein Herz lässt. Doch dass ich diese Lehre durch Oikawa bekommen würde, hätte ich niemals erwartet. Wenn ich jetzt so darüber nachdenke, war es irgendwie doch schon von Anfang an klar. Damals, als ich ihn kennen lernte, hat er mich bereits so sehr genervt, dass ich ihn am liebsten gehauen hätte. Doch ich wollte mich trotzdem mit ihm anfreunden und er sich auch mit mir, wie sich herausstellte. Vielleicht war mein Schicksal damals schon besiegelt. Vielleicht entstand es auch erst mit der Zeit. Vielleicht ist es auch kein Schicksal, sondern etwas Anderes. Aber eine Entscheidung war es sicher nie. Wenn ich allerdings eine Wahl gehabt hätte, wäre sie dann trotzdem auf ihn gefallen?
Mit Schrecken sehe ich auf die Uhr, es ist bereits Viertel nach 4. Wie konnte ich nur über 3 Stunden hier sitzen und aus dem Fenster starren!? Verliebt sein ist manchmal wirklich scheiße.
Den kalten Kaffee herunterstürzend trete ich aus der gläsernen Tür. Die Sonne steht bereits ein gutes Stück tiefer. Man merkt, dass es langsam Winter wird.
Um zu Schwimmen fehlt mir nun leider doch die Zeit, sehr schade. Ich hätte diese gerne genutzt, um meine verrückt spielenden Gedanken zu ordnen und mir diesen richtig bewusst zu werden. Nun muss ich eben mit wirrem Geist zu unserem Treffen kommen.
Mein Herz schlägt schneller, wenn ich daran denke. Oh Gott, was habe ich seine dämliche Art vermisst!
Noch 1 1/2 Stunden. Nach längerem hin und her Überlegen entschließe ich mich dazu, jetzt schon einmal dorthin zu gehen. Für den Weg brauche ich etwa eine Stunde und den Rest kann ich ja dort warten. Mein Blick schweift über die vollen Straßen und bleibt hier und da an einer Reklame oder einer Gruppe Touristen hängen. Ich verstehe immer noch nicht so wirklich, wie viele Menschen Städte so sehr lieben können. Ich fühle mich hier eingeengt. Es ist so unpersönlich. Viel zu viele Eindrücke, die auf mich einprasseln.
Erleichtert trete ich in  den grünen Stadtpark. Im Sommer ist hier zwar auch viel los, aber jetzt, wo es kälter wird, ist er recht leer und ich kann einen Moment aufatmen. Es ist mein lieblings Platz hier in Nagasaki, denn er erinnert mich ein wenig an den Wald aus meiner Kindheit.
Gut gelaunt aber auch sehr aufgeregt gehe ich durch das strahlende Grün der Blätter den langen Weg entlang, der an einem kleinen See endet, an dessen Ufer sich das Café Kobayashi befindet. Ich liebe dieses Café. Es erinnert mich mit seinen cremefarbenen Innenräumen, den hellgelben Akzenten und den alten Holzmöbeln ein bisschen an unser altes Haus.
Vor dem Gebäude bleibe ich noch ein paar Minuten stehen und bewundere den schönen Anblick, bevor ich tief einatme und eine halbe Stunde zu früh durch die Tür trete.
Ein kleiner Elektroschock durchfährt mich, als ich sehe, wie er bereits an einem Tisch in der hinteren Ecke sitzt und mir frech zugrinst.

IwaOi: Für immer Where stories live. Discover now