27. November 2014, Dublin, Irland



Ich saß auf meinem Lieblingsstuhl in der Küche und starrte auf die Leuchtanzeige der Digitaluhr. 6 Uhr 58. Normalerweise würde ich a) entweder noch im Bett liegen und mich in zwei Minuten dazu entschließen, den Wecker platt zu hauen, oder b) ... nein, um diese Uhrzeit erübrigen sich sämtliche weiteren Optionen.
      Eine Nebenwirkung von Liebeskummer ist Schlafmangel, den ich mehr und mehr zu spüren bekam. Morgens war es am schlimmsten. Selbst der doppelte Espresso, den ich mir in den letzten Tagen unbemerkt genehmigte, zeigte nur wenig Wirkung. Daher wollte ich es heute mal mit einem Tee probieren.
      Als ich nach der Tasse mit den niedlichen Eulen griff, wurde das Licht angeknipst und ein spitzer Schrei riss mich aus den Gedanken. Automatisch sprang ich auf die Beine und kreischte ebenfalls. Womöglich bröckelte sogar ein bisschen Putz von der Decke. Hätte mich zumindest nicht gewundert.
      ››Francis, bist du wahnsinnig? Ich hab mich zu Tode erschreckt!‹‹ Mum stand im Türrahmen und warf mir einen finsteren Blick zu. Verständlich. Wer rechnet schon damit, mich um diese Zeit außerhalb des Bettes anzutreffen? Normalerweise geschah sowas nicht über meine Leiche.
Ihr Haar war zu einem Bob betoniert. Zunächst hatte ich das für einen Witz des Friseurs gehalten, aber was verstand ich schon davon? Mein Haar sah aus wie eine Klobürste auf Speed.
Mum ging auf klackernden Pumps zur Anrichte, wo sie wie jeden Morgen kiloweise Kaffeepulver in die Maschine schaufelte. ››Was machst du denn hier im Dunkeln?‹‹
      Gute Frage. Auf eine Erkenntnis bezüglich des Lebens warten –die natürlich nicht eintrat. Wer hatte schon brauchbare Gedanken, wenn er sie benötigte? Die besten Ideen kommen eh auf dem Klo, und da braucht man sie eher selten – zu Buddha beten, über Spongebob nachgrübeln. Was man halt so macht in meinem Alter. Statt eine Antwort zu geben, zuckte ich müde mit den Schultern und tat so, als sei ich mit Teetrinken beschäftigt.
      ››Magst du nicht mal die Mütze abnehmen? Dein Haar–‹‹
      ››Nope.‹‹ Das Gestrüpp auf meinem Kopf führte Krieg gegen mich. Nachdem ich eingesehen hatte, dass dieser Kampf nicht zu gewinnen war, trug ich eine Strickmütze. Meiner Meinung nach sehr kleidsam. Jedenfalls schicker als das rote Gewusel.
      ››Was macht ihr denn für 'nen Lärm?‹‹ Meine kleine Schwester Momo kam in die Küche geschlurft und ließ sich missmutig auf den Stuhl neben mir plumpsen. Die langen Löckchen wirbelten ihr vom Schlaf zerzaust ums Gesicht. Bei ihr sah das wenigstens süß aus.
       Sie zog mit einem heimlichen Seitenblick auf unsere Mutter das Smartphone aus der Hosentasche und begann unter dem Tisch damit herumzuspielen. Ohne vom Bildschirm aufzusehen, wo sich gedrungene Neandertaler mit ihren Keulen über Dörfer hermachten, murmelte sie, ››Mum, hör auf Erwin zu quälen!‹‹
      ››Sei nicht albern, Kaffeemaschinen brauchen keine Namen.‹‹
      Momo riss den Mund auf wie ein kleiner Säbelzahntiger und gähnte ungeniert. ››Erwin schon.‹‹ Kurz riskierte sie einen Blick in meine Richtung. ››Und du? Was machst'n hier? Ist früh.‹‹
      Die Neandertaler waren inzwischen dazu übergegangen, sich gegenseitig zu vermöbeln.
      Mum stellte ihr Kakao und eine Schüssel Haferflocken vor die Nase und streichelte zerstreut ihr Haar. Im nächsten Moment wuselte sie schon geschäftig durch die Küche, riss Schränke auf und schimpfte nach einem ernüchterten Blick in den Kühlschrank, ››Leute, wer hat denn wieder den Saft ausgetrunken und keinen neuen gekauft?‹‹
      Weder Momo noch ich fühlten uns angesprochen. Aber mal ehrlich: Ich war's nicht!
      ››Schlecht geschlafen.‹‹
      Meine Schwester legte das Handy weg und rührte eine Weile wie betäubt in ihrer Tasse, schob alle zwei Minuten einen Löffel matschiger Cerealien in den Mund und kaute lustlos darauf herum. Sie überlegte. ››Willst du auch Kakao?‹‹
      ››Nein danke.‹‹
      ››Kakao hilft immer. Echt!‹‹ Sie zog einen Flunsch.
      In der Welt einer Elfjährigen mag heiße Schokolade ja das Weltwunder gegen alles sein, aber ich konnte mir kaum vorzustellen, dass dadurch sämtliche Probleme gelöst würden. Obwohl ich zu einem Schokoriegel nicht nein sagen würde...
      Unsere Mutter, ihres Zeichens strengste Rechtsanwältin, schlechteste Tortenbäckerin und verklemmtester Ex-Hippie der Welt, bekam nichts von dieser Unterhaltung mit. Sie war ganz damit beschäftigt, Kaffee in kürzester Zeit hinunterzuschütten und uns auf der Suche nach Geschäftsordnern Fragen zuzurufen, die wie immer keiner beantwortete. Aber da sie auch gleichzeitig Mitteilungen über ihren Organizer verschickte, vergaß sie auch ständig, Fragen gestellt zu haben, die einer Antwort bedurften. Wenn man es so betrachtete, hatten wir ein recht entspanntes Töchter-Leben.
      Momo beugte sich verschwörerisch zu mir und machte ein grimmiges Gesicht. ››Wenn dir der Penner wehgetan hat, mach ich ihn kalt! Ganz langsam und so, dass es richtig wehtut.‹‹
      ››Morgaine, hast du deine Hausaugaben eingepackt?‹‹ Mum stand im Türrahmen, die Arme voller Gerichtspapiere.
      ››Ja.‹‹
      ››Francis, wann kommst du heute nach Hause?‹‹
      ››Keine Ahnung, so wie immer schätze ich.‹‹
      Aus Momos Hosentasche erklang ein lautes, vernehmliches Pliiiing. Kurz darauf verzog sie erschrocken die Stirn und warf verwünschende Blicke unter die Tischplatte. ››Scheiße, ich bin schon wieder angegriffen worden. Mein Magierturm ist im Arsch!‹‹
      Mum seufzte. ››Ich weiß doch nicht, was wie immer bedeutet.‹‹ Sie balancierte einhändig das Geschirr zur Spüle und hetzte in den Flur, um die Aktentasche zu holen.
      ››Vier oder so.‹‹
      ››Neiiin, meine Elixiere sind auch aufgebraucht!‹‹
      ››Na schön, vergiss deine Bücher nicht, du musst sie in der Bibliothek abgeben.‹‹
      Ich verdrehte lustlos die Augen. ››Mum, ich bin 21!‹‹ So viel zum entspannten Leben.
      ››Denkt bitte daran, dass morgen Dienstag ist und ihr euren Vater besuchen–‹‹
      ››Fuck!!‹‹
      ››Du sollst beim Frühstück nicht mit dem Handy spielen!‹‹
      Widerwillig packte Momo das Smartphone weg und verschränkte die Arme.
      ››Morgen. Neil. Er bringt mich um, wenn ich ihm nochmal erzählen muss, dass ihr einen Schulausflug oder sowas habt.‹‹
      Meine Schwester und ich warfen uns vielsagende Blicke zu. ››Ich geh auf die Uni–‹‹
      ››Ich mache heute Sheperd's Pie. Vorausgesetzt, ich schaffe es pünktlich aus der Kanzlei. Schätzchen, kannst du vorher in den Supermarkt, Kartoffeln kaufen?‹‹
      Momo klappte empört der Mund auf. ››Aber, ich–‹‹
      ››Habt einen schönen Tag und lernt was!‹‹ Die Tür wurde aufgerissen und in Windeseile wieder zugeschlagen. Stille erfüllte die Küche.
      ››Ich muss meine Kaserne upgraden, sonst reißen mir die Kobolde noch die ganze verdammte Stadt unterm Hintern weg.‹‹
      ››Was spielst du da eigentlich?‹‹
      ››Och, so ein Strategiespiel. Clash of Clans. Du kannst dein eigenes Dorf bauen und es gegen Angriffe schützen. Hier, ich habe sogar Kanonen. Saucool!‹‹ Offenbar beglückte sie sich gerade daran, jemandes anderen Dorf zu demolieren. Ihr Gesicht nahm ein seliges Funkeln an.
      Ich sah auf die Uhr. ››Geh jetzt, sonst kommst du zu spät.‹‹
      ››Es ist Montag, da kommen eh alle zu spät.‹‹ Einer der Kobolde bekam eine Keule übergezogen. ››Siehst du den Penner heute wieder?‹‹
      Augenblicklich zog sich mein Herz zusammen. Der Penner, wie ihn Momo und ich inzwischen mehr oder weniger liebevoll getauft hatten, war ein Student, in den ich mich dummerweise verliebt hatte. Sein richtiger Name – den wir jedoch nie verwendeten, weil Penner einfach viel lustiger war – lautete Cedric Finan.
      ››Ja, wenn ich Pech habe, schlägt er seinen Pappkarton direkt neben meinem auf.‹‹
      Sie machte ein trotziges Gesicht. ››Echt, da verknallt man sich einmal und dann passiert sowas.‹‹
      Ich zog sie auf die Beine und zur Garderobe, wo ich sie in Winterjacke und Fäustlinge steckte. Eigentlich war es dringend Zeit, Anti-Männer-Tabletten zu erfinden. Oder wenigstens einen dreidimensionalen Neandertaler, der Cedric für mich verdrosch.

Band 1: Seelenrose (ehem. Apfelblau und Tintenrot)Where stories live. Discover now