10 - Martha und Alma

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»Da würde sich Oma Anne sicher drüber freuen«, sagte ich und musterte die angebotenen Dinge. Die Preise waren merkwürdig – per Hand mit Edding auf kleine Schildchen geschrieben, ungewöhnlich günstig und ungewöhnlich krumm, wie ich fand. Das Körbchen kostete 7,43 €, die Halsbänder 6,77 € und die Ausstechförmchen 63 Cent.

Wir traten tiefer in den Laden und wurden mit neuen wundersamen Schätzen konfrontiert. Es gab Bastelbedarf und Stifte, sogar die Alkoholmarker, die ich immer zum Zeichnen benutzte – nur, dass diese nicht so fürchterlich überteuert waren. Da war ein Regal mit Wolle und Stricknadeln, vor dem Alina lange stehen blieb, gleich neben einer Schublade voller Kuscheltiere und Kinderbücher auf ... der fremden Sprache. Hinter der nächsten Kurve erwartete ich, dass es zurück Richtung Kasse gehen würde, doch der Laden erstreckte sich munter noch weiter nach hinten. Hier waren Gewürze und Tassen, gleich neben Ballettschuhen in allen verschiedenen Größen. Dort hingen Schlafanzüge an Kleiderbügeln, da gab es Vasen und kleine Schälchen, Notizbücher und Bleistifte. Hier fanden sich Weingläser, da Schals, dort duftende Kerzen. Wie durch ein Labyrinth aus Gerüchen und Musik und kleinen Wundern wanderten wir – bestaunten die scheinbar zufällig ausgewählten Produkte zu diesen sonderbaren Preisen. Alles war in denselben Holz- und Pastelltönen gehalten. Zu Anfang hatte mich die klassische Klavier- und Streichmusik noch irritiert, aber mittlerweile gefiel sie mir eigentlich gut. Sie hatte so etwas Entschleunigendes, Meditatives an sich.

Der Laden schien sich endlos nach hinten zu erstrecken, aber das war auch kein Problem, denn irgendwie freute ich mich hinter jeder Biegung auf die nächste Überraschung. Und während Alina und ich uns zu Beginn noch miteinander unterhalten hatten, verfielen wir bald in traumwandlerisches Staunen, traten schweigend an den Regalen entlang, wie es auch die anderen Besucher taten. Beinahe wie hypnotisiert liefen die anderen Mädchen und Frauen, älteren Herren oder kleinen Jungen neben, vor, hinter uns. Manchmal blieben sie stehen, manchmal legten sie Dinge in ihren Korb. Manchmal waren sie auch einfach nur still, liefen vorüber, als würden sie uns gar nicht bemerken. Und die Musik, immer weiter diese Musik.

Irgendwann fand ich mich vor der Kasse wieder, Alina links neben mir. Jede von uns hielt eine Sache in der Hand, die wir auf dem Weg durch das seltsam eingängige Labyrinth mitgenommen hatten: Sie eine Häkelnadel für 1,26€ und ich einen Backpinsel für 2,11€. Die Kassiererin war ein junges Mädchen mit grüner Schürze und liebem Lächeln, die für uns beide die Ware verkaufte. Wir packten sie in die Tasche, die Tür schwang auf und ... vorbei. Vorüber war das wundersame Einkaufserlebnis.

»Was ... war ... das?«, fragte Alina leicht benommen und blickte nochmals hinauf zu dem Logo über der Tür. Martha und Alma.

»Ich ...« Ich schüttelte den Kopf. Ein Mann rempelte mich an und brummte entrüstet, da ich wohl unbemerkt einen Schritt zur Seite gemacht hatte. »Ich komme mir vor, als wäre ich gerade aus einem Traum aufgewacht.«

»Ja, ja genau«, pflichtete Alina mir bei. »Puh, das war merkwürdig. Irgendwie ... auch schön, aber ... verdammt, wenn du mir jetzt sagen würdest, ich hab mir die letzten paar Minuten nur eingebildet, würde ich dir auch glauben. Aber ich hab ja das hier.« Sie hielt die Stricknadel hoch und betrachtete sie nachdenklich.

Ich wollte gern nach meinem Backpinsel greifen, doch ihre Worte hatten etwas in mir angestoßen. Mit leichten Unbehagen sah ich mich um, stellte fest, dass es mittlerweile zappenduster war. »Hör mal – wie spät war es, als wir da reingegangen sind?«

»Drei oder so? Halb drei?« Alina warf einen Blick auf ihr Smartphone und riss die Augen auf. »Sag nicht? Es ist kurz vor sechs?!«

»Wir ... wir waren jetzt nicht ernsthaft drei Stunden da drin.« Ein wenig verstört blickte ich weiterhin das Schild an.

»Du, keine Ahnung. Das können drei Minuten gewesen sein oder auch drei Tage. Mit diesen immer gleichen Gängen und den ganzen Sachen, die so durcheinander standen ... und dann noch diese Klaviermusik, ich habe total das Zeitgefühl verloren.«

»Ich auch«, murmelte ich. Ich rieb über den Backpinsel, den ich offenbar doch zur Hand genommen hatte.

»Melissa ...«, setzte Alina an.

»L-lass uns erstmal nach Hause fahren«, sagte ich. »Hier draußen ist es super kalt und irgendwie ... will ich hier nicht bleiben.«

»Ist gut«, pflichtete meine Schwester mir bei.

Wir zahlten eine unnötig hohe Summe für unseren Aufenthalt im Parkhaus und fuhren Heim. Alle beide waren wir schweigsam dabei, irgendwie verstört, ohne so recht zu wissen, warum. Wir waren doch nur in einem ganz normalen Laden gewesen. Womöglich hatte er uns einfach so in seinen Bann gezogen, gefesselt mit all den wundersamen Eindrücken, dass wir wirklich vollkommen die Zeit vergessen hatten. Das konnte doch schon mal vorkommen, nicht wahr?

Aber irgendwas an diesem Martha und Alma-Laden war falsch. Diese kleinen Veränderungen. Die Preise, die irgendwie verquer aussahen. Die fremde Sprache. Die Klaviermusik, die irgendwie einlullte, die Farben, dieses labyrinthartige Hindurchlaufen ...

Alina betrachtete die ganze Heimfahrt die Nadeln, die sie in der Hand hielt. Ihr Gesichtsausdruck war nachdenklich, und seltsam verklärt irgendwie. Und auch in mir stieg das irrationale Bedürfnis auf, meinen Backpinsel in die Hände zu nehmen – das Holz zu fühlen, über die pastellgrünen Gummiborsten zu fahren, ihn einfach nur ... anzusehen. Zuhause holte ich ihn gleich heraus, legte ihn mir auf den Nachttisch, summte dabei ein klassisches Klavierstück. Hätte ich ihn nicht, wäre ich davon ausgegangen, dass dieser Laden überhaupt nicht existierte. Hatte ich nicht angenommen, dass die Erinnerung an Martha und Anna verblassen würde wie ein Traum? Ich erinnerte mich noch so gut an die Gefühle, die ich da drin empfunden hatte. Ich wünschte, ich hätte ein paar mehr Sachen mitgenommen. Ich wünschte ...

Schweißgebadet wachte ich in der Nacht auf. »M-martha und Alma«, lag mir auf den Lippen. »Martha, Alma.« Ich schlug auf den Lichtschalter und betrachtete den Backpinsel. Wieso waren wir nicht länger geblieben? Schon jetzt konnte ich mich an fast nichts mehr erinnern, was da im Laden ausgelegen hatte. All die wundersamen Dinge, einfach in Vergessenheit geraten, einfach verloren. Ich ...

Ich schlug mir selbst gegen die Wange. War ich bescheuert? Was hatte ich für Gedanken? Der Laden war irgendwie unheimlich gewesen, verkaufte sicher nur Billigschrott und profilierte sich durch seine Extravaganz ... es lohnte nicht, dorthin nochmal zurückzukehren! Aber ... der Backpinsel war wirklich schön. Und nur nochmal gucken ... nur nochmal die Atmosphäre fühlen?

Ich tat kein Auge mehr zu in dieser Nacht, und als ich am nächsten Morgen müde in die Küche schlurfte, fand ich Alina dort mit denselben Tränensäcken, die sich auch in meinem Gesicht befanden.

»Morgen, Martha«, sagte Alma und stockte. »Ich meine, Melissa.«

Wir tauschten einen Blick, wie erstarrt. Hatte ich sie gerade in Gedanken Alma genannt?

Sie hielt die Nadeln in einer Hand. Ich den Pinsel.

»Guten Morgen!«, rief Mama da, die gerade ebenfalls zur Tür hereintrat, und ließ uns beide aus unserer Starre erwachen. »Und, ihr beide? Was habt ihr für heute geplant?«

Alma und ich sahen einander an.

»Wir haben noch was in der Stadt vergessen«, sagte sie merkwürdig monoton.

»Ja«, sagte ich im selben Tonfall. »Wir müssen nochmal hin.«

Halloween Countdown 5 - Rückkehr in die FinsternisWhere stories live. Discover now