9 - Fremde Fährmänner

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»Ja, alles«, sagte das Mädchen, obwohl sie gar nichts verstanden hatte. Obwohl die junge Marika eine neugierige und gebildete Frau war, erschienen ihr die vielen Seefahrertermini eher wie eine fremde Sprache. Sie betrachtete den jungen Matrosen freundlich. »Ich bin beeindruckt, dass Sie solch komplizierte Dinge aus dem Kopf aufzusagen wissen. Das ist gewiss nicht einfach zu merken, ich könnte das nicht.«

»Aye, da musste schon Köpfchen für haben. Da brauchste schon die Klookheid wie ich«, sagte Jorin und rieb sich über das stoppelige, pockige Kinn.

»Marika!« Claas war aus der Tür zum Unterdeck getreten. Der Bruder bahnte sich einen Weg über die schwankenden Planken auf das Mädchen zu. In der ersten Stunde hatte der Arme unter Seekrankheit gelitten, und noch jetzt war er ein wenig blass. »Komm herunter, du verkühlst dich.«

»Ich bin hier gut aufgehoben«, sagte Marika freundlich.

»Na, Schwesterchen. Ich bin mir unsicher, ob du hier den richtigen ... Bedingungen ausgesetzt bist«, ließ Claas verlauten und warf Jorin einen Blick zu.

Der Matrose plusterte sich auf. »Wie?«, fragte er. »Meinste, ich bin neet de richtige Bedingung für dein Süsterchen? Was soll das überhaupt heißen, Bedingung? Ich bin doch keen Ding!«

»Ich sage bloß, wenn sie zu lang in unangemessener Gesellschaft verkehrt, verlernt sie noch das Hochdeutsche«, sagte Claas.

»Unangemessen?«, wiederholte Jorin kochend. »Ich hab so viel Klookheid, wenn du wüsstest, wie viel Klookheid ich habe, würde dein weetes Gesicht noch viel weeter! Wieso biste überhaupt so weet? Haste auch kein Mood? Ich hab so viel Mood, ich bin schon gesegelt, da hat's geregent Kattschiet un oll Wieven ...«

»Wie bitte?«, fragte Claas pikiert.

»Claas«, sagte Marika da. »Lieber Bruder, sieh doch. Ist da etwas im Nebel?«

»'ne Hallig«, sagte Jorin verstimmt, offenbar nicht gewillt, sich weiter dumm nennen zu lassen. Claas aber trat neben seine Schwester und runzelte die Stirn.

»Das ist keine Insel«, sagte er. »Das sieht aus wie ein ...«

»Ein Schiff«, sagte Marika und weitete die Augen. Ihre Fingernägel gruben sich fester in das Buch, das sie mit beiden Händen umklammert hielt. Sie war bis an die Reling vorgetreten und betrachtete mit zur Seite geneigtem Kopf, wie sich langsam immer deutlichere Schemen aus dem totenweißen Nebel abholen. Mehrere, schwankende Lichtkugeln wurden hell, dann schälte sich ein schimmerndes Bugspriet aus den Schleiern, eine geschnitzte Galionsfigur und das mächtige Vorderkastell.

»Heiliger«, wisperte Claas.

»Ein Geisterschiff?«, hauchte Marika. Sie sah sich zu Jorin um, der ihren Blick stumm erwiderte.

»Da is' ja wirklich ein Schipp«, wiederholte er, ohne zu ihnen zu treten. Marika fragte sich, ob nun auch ihm unbehaglich zumute wurde. Ihr lieber Bruder neben ihr jedenfalls schien noch ein wenig bleicher geworden zu sein. »Geesterschippe ... soll's geben.«

An Deck der Karavelle war Ruhe eingekehrt, als das Schiff langsam näher auf sie zuschwankte. Es fuhr sehr langsam, und es war ein ganzes Stück größer als ihr eigenes – sicher eine Galeone, oder aber eine Fregatte wie die der Holländer im Osten. Die Segel blähten sich summend im Wind, die Takelage des Schiffes sang. Sie hörten das Knirschen der Planken, das Ächzen des Holzes in der schaurigen, finsteren Nacht.

»Sieh mal«, raunte Claas. »Marika, sieh, da ist einer.«

Marika blickte hinauf und tatsächlich – sie entdeckte einen Matrosen an der Reling, der sich zu ihnen beugte und winkte. Ihr Herz begann, heftig zu klopfen. Hatte sie nicht gerade erst in Poes Geschichte gelesen, wie den Protagonisten etwas gänzlich Ähnliches geschehen war? Nun, nicht gänzlich – sie waren Schiffbrüchige gewesen und hatten sich des Anblicks des fremden Schiffes erfreut. Doch etwas an dem sich nähernden Boot war merkwürdig gewesen, es hatte solch sonderbare Schlenker gemacht und der Matrose, der ihnen hinab gewunken hatte, hatte ein ganz unangenehmes Grinsen auf den Lippen gehabt. Und dann, von nahem, hatten sie die Toten gesehen, von einer Seuche dahingerafft – und ihnen war klargeworden, dass der Mann nicht winkte, sondern eine Möwe in seinem Rücken saß und ihm die Eingeweide aus dem fauligen Körper pickte. Marika überfiel es kalt. Konnte es sein, dass so etwas wahrlich geschah? Konnten auch hier Seuchen und Krankheiten über die Matrosen herfallen – Skorbut, Cholera, gar die Pest? Oder handelte es sich doch um eines der sagenumwobenen Geisterschiffe, von denen Großmama ihr stets erzählt hatte? Hier, auf der kurzen Überfahrt von Emden nach Borkum? Es erschien ihr kaum möglich. Und doch, in einer Nacht wie dieser ... hatte Kapitän Hinnerk sie nicht gewarnt? Dass es eine Nacht war, in der man besser die Türen verriegelte und die Fenster verschloss?

Marika griff nach der Hand ihres Bruders, umklammerte sie fest, als das Schiff sie beinahe erreicht hatte. Der Matrose an Deck, er winkte ihnen weiter. »Das ist mir nicht geheuer«, flüsterte sie.

»Sorg dich nicht«, beruhigte Claas sie, obwohl sie fand, dass er den Eindruck machte, sich gleich erneut zu übergeben. »Sieh, die Matrosen hier machen nichts. Wenn ... wenn das wirklich ein Geisterschiff wäre ... dann würden sie doch sicher in Panik verfallen, nicht wahr? Das kann keines sein. Kann es nicht.«

Das Schiff hatte sie nun erreicht und zog vorüber. Ein merkwürdiger, silbriger Schein schien davon auszugehen (oder war es bloß der Mond, gepaart mit dem schauerlichen Nebel? Bildeten sie sich bloß ein, dass es schimmerte?), tauchte Bordwand, Reling, Segel, Takelage in weißes Licht. Die Laternen schaukelten quietschend im Wind. Marika versteifte sich, war sich beinahe sicher, dass das Schiff nun halten und sie an Bord lassen würde, so, wie ihre Großmama es immer erzählt hatte. Doch nichts geschah, das Schiff zog vorüber. Nur der Matrose an der Reling winkte noch immer – und da war auch keine Möwe, die an ihm pickte. Dafür rief er etwas, nun auch durch den Nebel und über die Entfernung schwach zu verstehen:

»Flieht«, rief er. »Flieht!«

Das Schiff zog vorüber und wurde langsam wieder vom Nebel verschluckt.

»Jorin?«, fragte Marika. »Hast du schon mal ein Geisterschiff gesehen?«

Stille hinter ihr. Dann, mit tiefer Stimme: »Ja, ich habe schon mal ein Geisterschiff gesehen.«

Marika war reglos. Die Hand ihres Bruders hielt sie noch immer umklammert, sie warf ihm einen knappen Blick zu – in dem sie las, dass es ihn ebenso kalt überlief wie sie selbst. Langsam, ganz langsam, drehten beide sich um. Sie drehten sich um. Und sahen Jorin –

oder das, was er einmal gewesen war. Seepocken und Algen überwucherten den Körper, leere Augenhöhlen starrten sie aus finsteren Löchern an, das Haar war bloß noch lose am Kopf hängender Taft. Jorin öffnete den Mund, entblößte schiefe, faulige Zähne, mit einer knöchrigen Hand wies er auf sie. Marika entwich ein Schrei, sie drängte sich an ihren Bruder.

»Man soll ... sich nicht ... mit fremden Fährmännern anlegen.«

»Kapitän!«, rief Claas, doch als sie oben auf die Brücke blickten, stand dort nicht der Kapitän – nur ein furchtbares Abbild Hinnerks, ein grauenvolles Wesen, ebenso wie Jorin.

»Ihr hättet daheimbleiben sollen.« Die Stimme drang von allen Seiten auf sie ein, schien von allen Matrosen zu stammen, allen Anwesenden an Bord. Sie umringten sie, langsam, streckten die bleiben Totenhände nach ihnen aus. »Ihr hättet daheimbleiben sollen. Nun gehört ihr der See.«

Die kleine Karavelle segelte über das Meer, tauchte in die Nacht. Der Nebel verschluckte jeglichen Schrei.

Halloween Countdown 5 - Rückkehr in die FinsternisWhere stories live. Discover now