Es war unglaublich unangenehm, jedes Jahr von Arzt zu Arzt zu rennen und jemandem etwas erklären zu müssen, das für mich selbst auch absolut keinen Sinn ergab. Die Schmerzen waren schon immer da gewesen, so lange ich denken konnte. Jedes Jahr, Ende Oktober oder Anfang November, waren meine Nächte voll von einem starken Ziehen und Brennen in meinen Beinen, fast so als ob jemand meine Schlafanzughose angezündet hatte... Es fühlte sich am Anfang, als ich noch klein war, noch nicht annähernd so stark an, wie jetzt – damals war es nur ein etwas unangenehmes Gefühl gewesen, etwas, das mich ab und zu nachts aufweckte, aber das ich am nächsten Morgen bereits meistens wieder vergessen hatte. Und weil es nur für ein paar Tage im Jahr der Fall war, und dann wieder verschwand, hatte ich meine Eltern auch nur selten deswegen aufgeweckt oder sie gebeten, mich zum Arzt oder so zu fahren. Ich bin mir sogar ziemlich sicher, dass es ein paar Jahre gab, in denen ich die Schmerzen ihnen gegenüber nicht mal groß erwähnte.

Aber dann war ich älter geworden, und... Naja, die Dinge wurden komplizierter. Ich meine, werden nicht irgendwie fast alle Dinge komplizierter, wenn man in die Pubertät kommt? Aber das hier war echt scheiße. Das Gefühl in meinen Beinen, das mich jedes Jahr im Herbst für ein paar Tage heimsuchte, war nicht mehr nur unangenehm, sondern fast unerträglich. Es fühlte sich wie ein heißes, brennendes Gewicht an, dass mit aller Kraft auf meine beiden Beine eindrückte. Ein paar Mal hatte ich nachts deswegen weinen müssen, oder hatte Panik bekommen und nach meinen Eltern gerufen. Meine Mutter und ich waren schon mehrfach nachts in der Notaufnahme gewesen, aber hatten nie wirklich etwas erfahren können. Die Sache ist eben auch die... Sobald jemand bei mir war, sobald meine Mutter oder mein Vater nachts in mein Zimmer eilten, um mir zu helfen, verschwanden die Schmerzen meist ganz plötzlich. Es war super schräg. Im einen Moment kreische ich, als hinge mein Leben davon ab, weil sich mein halber Körper anfühlt, wie durch eine Dampfwalze gepresst, und im nächsten Moment ist plötzlich alles wieder gut und ich muss meinem ohnehin schon übermüdeten Vater erklären, was zum Himmel der plötzliche Radau um zwei Uhr Morgens soll.

Ich blickte wieder zu Doktor Braun auf, schon halb damit rechnend, dass er mir irgendeine super nutzlose Creme oder ein leichtes Schmerzmittel verschreiben würde, oder mir sagen würde, ich sollte einfach mehr frisches Gemüse essen. Stattdessen aber lag plötzlich ein Ausdruck von Mitleid in seinen Augen.

„Hör zu Justus.", sagte er, und ich war positiv überrascht, dass der Arzt plötzlich damit aufgehört hatte, mich in einer Tour zu Siezen. „Ich weiß nicht genau, was ich für dich tun kann, aber wie wäre es, wenn du einfach mal ganz allgemein mit jemandem sprichst? Ich kenne da eine sehr gute Psychologin, die dir sicher gerne zuhören würde. Und ich denke wirklich, das könnte mit dem Problem zusammen hängen. Phantomschmerzen kommen öfter vor, als man denkt. Normalerweise zwar, wenn jemand ein schlimmes Trauma erlebt hat, was bei dir vielleicht nicht der Fall ist. Aber womöglich gibt es ja eine mentale Komponente, die wir bis jetzt übersehen haben."

Ich fühlte mich plötzlich seltsam erleichtert, Doktor Braun das sagen zu hören. Nicht, weil ich unbedingt glaubte, dass er recht hatte, oder weil ich scharf darauf war, mir mal einen Seelenklemptner zu besorgen, sondern weil ich zumindest das Gefühl hatte, dieses Mal halbwegs ernst genommen zu werden. Vielleicht war dieser Arzt ja doch nicht so übel.

Ich nickte.

„Ich meine, klar, okay. Ich muss nur erst meine Eltern fragen, was die denken."

„Wenn es eine Kostenfrage ist, müssen sich deine Eltern nicht sorgen. Ein großer Teil solcher Beratungskosten kann über deine Krankenkasse geregelt werden."

Ich nickte wieder, ein wenig erleichtert.

„Gut. Alles klar.", sagte ich, und bemühte mich, halbwegs freundlich und dankbar auszusehen. Ich war noch immer nicht meine seltsamen Schmerzen los, aber nach diesem Arztbesuch hatte ich zumindest das Gefühl, einen neuen Anhaltspunkt zu haben.

Halloween Countdown 5 - Rückkehr in die FinsternisWhere stories live. Discover now