Sie fuhr herum und erst jetzt erinnerte sie sich, dass sich der Mann mit dem Trenchcoat und dem Trilbyhut ja mit ihr im Aufzug befand. Er hatte ihr den Rücken zugekehrt und unter der flackernden Deckenbeleuchtung war sein Gesicht nicht zu sehen - es war abgewandt von der verspiegelten Wand.

»Entschuldigung?«, brachte sie hervor.

Das Licht summte erneut wie ein schwirrendes Insekt und ihr Herz wollte sich verkrampfen, als die Klaviermusik einen Satz machte - sich zu dehnen begann wie von einer ausgeleierten Kassette abgespielt. Dunkel - hell. Der Mann, schweigend, still. Hell. Dunkel, hell, dunkel. Dunkel, dunkel, dunkel. Und dann, hell, und der Mann mit dem Trenchcoat umgedreht, der Kopf zur Seite ruckend, die Augenhöhlen ... Insektenaugen, Haut wie Chitrinpanzer und der Mund ... Fühler, knirschende Kauwerkzeuge und tropfender Speichel und ... dunkel! Claudia bemerkte erst, dass sie geschrien hatte und panisch nach hinten gestolpert war, als sie rückwärts gegen die Knopfleiste prallte, den Blick auf die Stelle gerichtet, an der sich die Gestalt befunden hatte. Dunkel, es war viel zu dunkel. Dunkel, dunkel, dunkel ... hell.

Sie hob den Kopf. Ihre Brust hob und senkte sich heftig, ihr Puls war in die Höhe geschossen. Auf ihrer Stirn stand Schweiß, ihr Lippenstift war verschmiert, weil sie so aufgebracht an ihrer Unterlippe nagte.

Der Mann - das Ding - war weg. Sie war ganz allein. Claudia stieß sich von der Wand ab, sah sich mit schwer gehendem Atem um. Dunkel, erneut flackerte das Licht, hell. Dunkel, hell. Sie legte den Kopf in den Nacken und - und blickte in schwarze, kopfüberstehende Facettenaugen. Claudia schrie, als die Kreatur sich von der Decke auf sie stürzte. Sie schrie, als alles dunkel wurde und der Aufzug ruckend wieder zum Leben erwachte.

Sie schrie, als sie die Augen aufriss und mit schwer gehendem Atem in ihrem Hotelbett aufwachte.

»Nur ein Traum«, keuchte sie, als sie mit ungläubigem Blick auf die unverletzte Haut ihrer Handflächen und Unterarme starrte. Ihr Blick glitt zur Digitaluhr auf dem Nachtschränkchen - 7:38. Unwillkürlich stieß sie ein helles Lachen aus. Gestern hatte sie ein furchtbar widerliches Insekt aus ihrem Hotelzimmer entfernen müssen, und dann hatte sie noch zufällig diese Dokumentation über angeblich verfluchte Hotels gesehen ... Es war kein Wunder, das sie solch merkwürdige Träume hatte! Claudia dachte an das, was sie damals als Kind über gefräßige Aufzüge gedacht hatte, und musste feststellen, dass sie tatsächlich eine äußerst lebhafte Fantasie hatte.

Bevor sie in Zeitnot geriet, schlüpfte sie aus dem Bett und begann, sich fertig zu machen. Unter der Dusche wurde der schaurige Traum langsam fortgewaschen und als sie die Bluse und den Rock überzog, war er nur noch eine blasse Erinnerung, langsam in Vergessenheit geratend. Mein Gott, dachte sie noch, es hat sich so real angefühlt. Sie fragte sich, ob so Geschichten über verfluchte Hotels entstanden - durch unerklärliche Träume, die sich mit der Realität verwoben wie ein in einen Kokon gehülltes Insekt. Kleine Insekten als mörderische Vorboten für ihre humanoiden, dämonischen Artgenossen. Dieses Hotel war nicht verflucht, es benötigte höchstens einen Kammerjäger! Claudia schlüpfte in die hohen Schuhe, griff nach ihren Dokumenten und verließ das Hotelzimmer.

Als sie im Flur auf die beiden Aufzüge zutrat, stockte sie unwillkürlich.

Der linke Aufzug war mit rotweißem Plastikband abgesperrt wurden. Ein Schild klebte an der Tür - Defekt, wegen Reparatur unzugänglich. Claudia schüttelte ärgerlich den Kopf, als ihr klarwurde, dass sie schon wieder an ihrer Unterlippe zu nagen begann.

Der rechte Fahrstuhl öffnete sich und ein junger Mann mit Jackett und Hemd trat heraus. Er warf ihr einen Blick zu, wollte vorbeigehen und hielt dann doch inne, als er sah, dass sie das Defekt-Schild betrachtete.

»Man bekommt richtig Angst, mit dem Aufzug zu fahren, oder?«, fragte er.

Claudia richtete den Ärmel ihrer Bluse. »Schon«, sagte sie. »Ich würde ungern stecken bleiben.«

»Also wissen Sie's noch gar nicht? Der Aufzug da ist nicht einfach nur stecken geblieben«, sagte er. »Gab einen Unfall heute Morgen. Keiner weiß, was da genau passiert ist. Der Aufzug hat sich aufgehängt und als sie ihn wieder freibekommen haben, lag eine tote Frau drin. Sie kam wohl von oben runter, vielleicht sogar aus diesem Stockwerk - keine Ahnung, was da los war. Man sagt, sie wurde vielleicht ermordet, aber es gibt gar keine Anzeichen auf jemand anderen, der mit ihr da drin gewesen sein könnte. Jedenfalls, unten im Erdgeschoss ist alles abgesperrt, mit Sichtschutz um den Aufzug herum ... muss wohl eine ziemlich furchtbare Angelegenheit gewesen sein.«

Claudia öffnete den Mund zu einer Antwort, doch kein Wort wollte hervorkommen. Sie schloss ihn wieder.

»Na, ich muss weiter. Schönen Tag Ihnen«, sagte der junge Mann und nickte ihr nochmals zu, ehe er zu seinem Zimmer ging. Claudia wandte sich den Aufzügen zu. Mit einem Mal hatte sie das unumstößliche Bedürfnis, die Treppen zu nehmen, obwohl sie wusste, dass es nur die für den Notfall gab.

Tote Frau. Furchtbare Angelegenheit. Wie starb man in einem steckengebliebenen Aufzug?

Ganz allein?

Oder war jemand bei ihr gewesen?

Claudia sträubte sich, doch sie wusste auch, dass sie dieses Meeting wahrnehmen musste - und überhaupt konnte sie ja nicht für immer hier oben bleiben. Zögernd trat sie auf den rechten Aufzug zu, der noch immer offenstand, seit der junge Mann ihn verlassen hatte. Jeder ihrer Muskeln war angespannt, als sie den Knopf mit EG drückte und angespannt wartete. Sie warf einen Blick auf die Uhr. 8:04.

Als die Türen sich schlossen, war sie noch immer allein und seufzte leise auf. Kein Mann im schwarzen Trenchcoat, natürlich nicht! Sie hob den Blick und betrachtete die Anzeige, die langsam abfiel: 18, 17, 16, 15 ...

Der Aufzug hielt. Die Türen gingen auf und vor ihr stand ein Mann mit schwarzem Trenchcoat und Trilbyhut. Er schob sich herein und die Türen schlossen sich hinter ihm, noch ehe Claudia die paar vergeblichen Schritte nach vorn gemacht hatte, um die Flucht zu ergreifen. Ruckelnd setzte sich der Fahrstuhl wieder in Bewegung und sie hörte eine Stimme:

»Hast du Angst, Claudia?«

Halloween Countdown 5 - Rückkehr in die FinsternisWhere stories live. Discover now