Kapitel 1

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Die tiefen, unerforschten Geheimnisse dieser Erde bargen vor vielen, vielen Jahren auch eine unentdeckte Welt, eine Welt verhüllt in undurchdringliche, weiße Schleier und es war unmöglich, hineinzugelangen oder hinaus. In dieser Welt gab es noch die wundersamen Mächte, von denen bloß diejenigen erfuhren, die selbst betroffen waren.  

***

Es fiel mir erst auf, als Selma die Hütte verlassen hatte und sich die Stille über den Raum breitete. Irgendetwas war anders. Ich lauschte.

Still.

Plötzlich war der Raum so unnatürlich still. 

Eine dunkle Vorahnung ergriff mein von mir Besitz, raubte mir den Atem, legte sich wie eine kalte Hand um mein Herz. Wie eine todeskalte Hand. 

„Hella?", fragte ich leise. Meine Stimme klang fremd in meinen eigenen Ohren, lauernd, zittrig. „Schläfst du?" Ich ließ die tönerne Schüssel achtlos fallen und stürzte hinüber zu ihrem Bett. Wir hatten die kranke Frau auf einen Berg aus Federkissen gebettet, jedes Kind hatte auf seins verzichtet, um es ihr so bequem wie möglich zu machen. So bequem, wie es in unserer engen, stickigen Hütte nur eben möglich war. Sie war bleich, so bleich wie die Federkissen um sie herum. Bleich und still. Ich ergriff ihre kühle Hand, suchte den Puls. Dann hielt ich mein Ohr an ihren Mund, um vielleicht noch den leisesten Atemhauch zu spüren. Doch ich lauschte vergeblich. 

In dem Moment, in dem mir bewusst wurde, dass ich die Hand einer Leiche hielt, durchfuhr mich der Schreck und ich zuckte zurück. Die Stille kam mir plötzlich nicht mehr friedlich, sondern grausig vor. Ich machte ein paar unkontrollierte Schritte rückwärts und starrte auf meine tote Stiefmutter. Sie war eine schöne Frau gewesen, in vieler Hinsicht so anders als meine wahre Mutter. Gerade, als ich geglaubt hatte, mich an sie gewöhnen zu können, war sie krank geworden. Und nun war es zu spät, sich für meine Unbarmherzigkeit ihr gegenüber zu entschuldigen. 

Die Tür knarrte und mein Stiefbruder trat ein. 

Arvid. 

Ich war nie mit ihm klar gekommen. Er war zwei Jahre älter als ich und als Vater die Witwe Hella heiratete, nahm er plötzlich meinen Platz als Ältester ein und Vater schien sich mit allem, was er früher mit mir besprochen hatte, an ihn zu wenden. Er war der Liebling aller. Doch nun tat er mir plötzlich leid. 

„Ist alles in Ordnung?", fragte er. Ich starrte ihn nur mit aufgerissenen Augen an, konnte keine geeignete Antwort finden. Was sollte ich auch sagen? In meinem Blick schien er etwas Bedrohliches zu finden, denn sein Gesicht verfinsterte sich. Dann sah er auf seine Mutter. 

„Es tut mir so leid", hauchte ich, doch er beachtete mich gar nicht. Mit zwei Schritten hatte er den Raum durchquert und kniete am Bett, ihren Kopf liebkosend in beiden Händen. Ich hörte, wie er flüsterte, aber ich verstand die Worte nicht.

„Hedda!", plötzlich wandte er sich um und sah mir direkt in die Augen. „Hol einen Arzt! Beeil dich!" 

Ich spürte förmlich, wie meine Mundwinkel noch tiefer sanken und ich schüttelte leicht den Kopf. „Es ist zu spät!", wisperte ich.

„Lauf! Beeil dich!"

„Arvid..."

„RENN!"

„ES IST ZU SPÄT! SIE IST TOT!"

Er fuhr zurück, als ich schrie. Dann verdunkelte sich sein Gesicht wieder und er wandte sich Hella zu. 

„Es tut mir leid", murmelte ich, aber er reagierte nicht mehr. Sein Kopf sank auf den Kissen nieder und obwohl er lautlos trauerte, sah ich, wie seine Schultern geschüttelt wurden. Ich kam mir kalt und herzlos vor, weil ich nicht weinte, aber ich konnte nichts dagegen tun. Langsam schlich ich zur Tür und ließ den Sohn allein mit seiner Trauer zurück.

HerbstnebelWhere stories live. Discover now