Kapitel 87.2

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„Wie finden wir die anderen?", fragte ich Lucius. Der atmete einmal tief ein und aus. Nachdenklich stützte er sich auf seine Arme. „Ich habe wirklich keine Ahnung.", gab er schließlich zu. „Aber vielleicht sollten wir zuerst überlegen, wie wir aus der Stadt kommen. Danach können wir immer noch nachdenken, wo wir mit der Suche anfangen."

Frustriert ließ ich meinen Löffel sinken. „Das wird nicht einfach.", bemerkte ich. Selbst wenn die Leute glaubten, dass wir bereits außerhalb Londons waren, würden die Sicherheitsmaßnahmen sicherlich verstärkt werden: mehr Polizisten, aufmerksamere Menschen und bestimmt auch einige Kontrollen. Vor allem, wenn es um Mutanten ging. Zu Fuß kämen wir wahrscheinlich schlecht von hier weg. Und ich wäre bestimmt keine Hilfe. Währen Varya noch unauffällig über die Straße gehen konnte, würde ich bemerkt werden. Das konnte selbst der Mantel auf Dauer nicht verhindern. Er kaschierte bloß das Gröbste. Dennoch konnte er verdächtig wirken. Wenn es nicht gerade regnete, könnten sich die Menschen fragen, ob ich nicht etwas verbergen würde.

Dann kam noch hinzu, dass Lucius'und mein Gesicht manchen Menschen bestimmt nicht allzu unbekannt waren. Immerhin hatten wir uns Zugang zum Gefängnis verschafft und einer Insassin zur Flucht verholfen. Also konnte vielleicht auch Lucius nicht einfach so durch London marschieren.

Auf einmal begannen die Treppenstufen zu knarzen, was verriet, dass jemand auf dem Weg hier her war. Kurz darauf öffnete Siebenundvierzig die Tür und reichte mir einen Stapel Kleidung. „Das müsste dir in etwa passen.", meinte sie.

„Danke.", sagte ich, doch Siebenundvierzig winkte ab.

„Das Badezimmer findest du oben. Die erste Tür von links.", informierte sie mich. „Ich habe dir schon ein Handtuch hingelegt." Bevor ich mich erneut bedanken konnte, sprach sie weiter. Dieses mal auch zu Varya und Lucius. „Samuel sucht noch immer nach Luftmatratzen. Wenn er sie gefunden hat, könnt ihr nachher hier im Wohnzimmer schlafen. Sollte er keine mehr finden, müssten die Sofas eigentlich auch in Ordnung gehen." Sie wandte sich an das zierliche Mädchen. „Was machst du eigentlich noch hier? Willst du nicht lieber nach oben oder nach unten gehen?", fragte sie.

Das Mädchen ließ ihr Buch sinken und sah Siebenundvierzig trotzig an. „Aber jemand muss doch auf den J-"

„Jetzt geh schon.", unterbrach Siebenundvierzig sie genervt. „Er wird schon nichts anstellen. Außerdem ist immer noch Varya hier. Und Freya wird auch nicht lange weg sein." Widerwillig legte das Mädchen das Buch beiseite und stand auf. Sie warf Lucius noch einmal einen letzten finsteren Blick zu, ehe sie verschwand.

Auch ich machte mich auf den Weg. Doch bevor ich die Tür durchqueren konnte, hielt Siebenundvierzig mich kurz auf. „Ach ja, das Wasser braucht ein wenig, bis es warm wird.", informierte sie mich.

„Das ist kein Problem.", erwiderte ich. „Ich mag es sowieso lieber kalt." Mit diesen Worten verließ ich letztendlich das Wohnzimmer und stieg die Treppe hinauf. Unter jedem meiner Schritte knarzte sie unangenehm. Oben angekommen stand ich direkt in einem weiteren Flur. Dieser war etwas breiter als der unten. Außerdem wurde mir schnell klar, dass es sich hier oben um den privaten Bereich handeln musste. Denn hier hingen, im Gegensatz zu unten, haufenweise Bilder an den Wänden. Vermutlich wollte Enya vermeiden, dass ihre menschlichen Gäste etwas von den Mutanten bemerkten, die mit ihr in diesem Haus lebten. Demnach hielten sich ihre Gäste wohl eher im Erdgeschoss auf. Neugierig stellte ich mich vor die Wand und betrachtete einen Teil der Bilder. Manche von ihnen waren Familienbilder. Manche von ihnen zeigten vier Leute. Unter ihnen war eine junge Frau mit dunkelblonden Haaren. Ich würde sie ungefähr auf dreiundzwanzig Jahre schätzen, womit sie etwa drei Jahre älter als Samuel sein musste. War das Enya?

Ich widmete mich dem nächsten Bild. Auch hier war eine Familie zu sehen. Allerdings waren hier nur drei Personen zu sehen. Eine davon war ein kleiner, vielleicht zehn oder elf Jahre alter Junge. Er hatte unordentliches dunkelbraunes Haar und grinste schief in die Kamera. Glücklich stand er zwischen seinen Eltern. Das musste Samuel sein. Auch wenn er mittlerweile komplett anders aussah, konnte ich einige Ähnlichkeiten erkennen. Auf dem nächsten Bild war Samuel mit Enya zu sehen. Es war ein aktuelles Foto.

Die restlichen Fotos zeigten auch die anderen Mutanten, die hier lebten. Meist waren es Gruppenbilder. Manche waren von Spieleabenden oder gemeinsamen Unternehmungen hier im Haus, andere wiederum schienen während hitziger Diskussionen aufgenommen worden zu sein. Auf den meisten von ihnen war auch Enya zu sehen. Sie wirkte sympathisch.

Ich löste mich von den Bildern und ging zur ersten Tür von links. Das musste das Badezimmer sein. Und das war es dann auch. Innen war es recht klein, doch bot genug Platz für eine Dusche, ein Waschbecken, eine Toilette und auch eine Waschmaschine. Hinter mir verschloss ich die Tür. Die Kleidung legte ich auf dem kleinen Hocker ab, auf dem Siebenundvierzig schon ein Handtuch für mich bereitgelegt hatte.

Mein Blick streifte unwillkürlich den großen Spiegel, der über dem kleinen Waschbecken hing. Verbittert betrachtete ich meine Erscheinung. Nichts Menschliches war mehr zu sehen. Den letzten Rest von Menschlichkeit, der mir geblieben war, hatte Clausen mir genommen. Und ich konnte es nicht ändern. Von nun an musste ich damit leben, dass mir meine menschliche Haut genommen worden war. Es war nicht so, dass ich mich in meiner Schlangenhaut abscheulich fand. Nein, keineswegs. Doch nun würde es für mich noch viel schwerer werden, Menschen gegenüberzutreten.

Freya Winter - MutantWo Geschichten leben. Entdecke jetzt