Ich nickte. Das verstand ich vollkommen. Aber so weit würde es nicht kommen. Lucius war keine tickende Zeitbombe. Außerdem besaß er einen gesunden Verstand. Ob er den nutzte, war jedoch seine Sache.

Samuel hatte sich wieder vollkommen der Küche gewidmet. Was genau er da tat, konnte ich allerdings nicht wirklich sehen. „Irgendwelche Getränkewünsche?", fragte er beiläufig in die Runde und bekam direkt ein paar Antworten. „Und ihr?", wandte er sich an uns. „Wollt ihr auch was trinken? Von Wasser, über Saft, bis hin zu verschiedenen Kaffeesorten habe ich alles da." Varya, Lucius und ich entschieden uns alle für Wasser. Kurz darauf bekamen alle Anwesenden jeweils ein Glas oder eine Tasse gereicht, mit ihrem Getränkewunsch. Mir fiel auf, dass sie alle einen gewissen Abstand zu Lucius hielten und ihn misstrauisch oder gar feindselig beobachteten. Lucius ignorierte das gekonnt. Dennoch blieb mir nicht verborgen, dass er scheinbar lieber woanders sein wollte als hier. Allerdings konnten wir jetzt schlecht gehen. Das Geschehen auf der Brücke war noch nicht lange her. Wir mussten mindestens für ein paar Stunden hier bleiben.

„Ich geh pennen.", informierte Elliot niemand bestimmten, stellte sein nun leeres Glas zu Samuel auf die Theke und wandte sich der Tür zu. Jedoch blieb er noch einmal kurz stehen und sah seine Kameraden an: „Lasst den Jäger bloß nicht aus den Augen, ja?" Mit diesen Worten verschwand er aus dem Raum und das Knarzen der Treppenstufen verriet, dass er nach oben ging. Das zierliche Mädchen ließ sich auf einem Sessel nieder, der in einer der Ecken neben einem kleinen Bücherregal stand, nieder. Aus diesem zog sie ein Buch heraus und klappte es auf. Doch lesen tat sie nicht. Vermutlich nutzte sie das Buch nur als Tarnung, damit es nicht auffiel, dass sie Lucius keine Sekunde aus ihren Augen ließ. Eine etwas ältere Mutantin quittierte das Verhalten des Mädchens nur mit einem leichten Grinsen.

„Hast du Lust auf ein Kartenspiel?", fragte sie den letzten der unbekannten Mutanten. Dieser sprach nicht großartig, sondern nickte nur. „Gut.", sagte die Mutantin und gemeinsam mit dem anderen lief sie auf eine Tür im Wohnzimmer zu, die ich zuvor nicht bemerkt hatte. Dem Anschein nach führte sie in den Keller des Hauses.

„Fertig.", sagte in diesem Moment auch Samuel. Mit drei dampfenden Schüsseln in den Armen ging er vorsichtig auf uns zu. Schließlich stellte er jedem von uns jeweils eine Schüssel auf den Tisch.

Skeptisch betrachtete ich den Inhalt der Schüssel. Diese war mit einer Art gelblichem Wasser gefüllt, in dem lange, dünne Nudeln schwammen. Obwohl ich nun wirklich nicht unhöflich sein wollte, konnte ich mir meine Frage nicht verkneifen: „Was ist das?"

Trotz seiner hellgrauen Haut errötete Samuel leicht. „Instant Nudeln.", antwortete er und grinste verlegen. „Ich hoffe, das ist in Ordnung." Als mein Blick wieder auf die dünnen Nudeln fiel, fügte Samuel hinzu: „Keine Sorge, die dicken noch nach, wenn du sie ein bisschen stehen lässt."

Ich nickte. „Ich hab mein Essen sowieso lieber kalt." Während ich noch wartete, begannen Varya und Lucius zu essen. Samuel setzte sich uns gegenüber, neben Siebenundvierzig. „Wie seid ihr an dieses Haus gekommen?", wollte ich interessiert wissen. Immerhin würde niemand sein Haus an Mutanten verkaufen oder vermieten, zumal diese noch nicht einmal Geld verdienen konnten.

„Es gehört meiner Cousine.", erzählte Samuel. „Sie hat es mir zur Verfügung gestellt. Anfangs, damit ich einen Ort hatte, an dem ich bleiben konnte und damit ich keinem Menschen als Sklave dienen muss. Aber mittlerweile wird es auch als Hauptquartier genutzt und bietet einigen von uns eine sichere Zuflucht." Er wirkte stolz, während er das sagte.

Ich vermutete, dass seine Cousine ein Mensch war. Es freute mich zu hören, dass Samuel noch immer Familie hatte, die ihn akzeptierte und ihm half. Außerdem hatte er sich im Gegensatz zu mir getraut, seine Familie aufzusuchen.

„Hat deine Cousine ein zweites Haus oder eine Wohnung?", fragte ich. Doch Samuel schüttelte seinen Kopf. „Nein. Sie lebt hier.", sagte er, was mich überraschte. „Sie hat kein Problem damit, dass sie sich ihr Haus mit mal mehr und mal weniger Mutanten teilen muss. Außerdem unterstützt sie uns wo sie nur kann." Auf Samuels Gesicht war ein zufriedenes Lächeln erschienen.

„Hat sie nicht abweisend reagiert als du bei ihr aufgetaucht bist?", ertönte plötzlich die raue Stimme von Varya. Es wunderte mich, dass sie überhaupt sprach. Bisher war es mir so erschienen als würde sie wegen ihrer kaputten Stimme lieber schweigen.

Überraschenderweise lachte Samuel. „Nicht ich bin bei ihr aufgetaucht, sondern sie bei mir!" Er grinste breit, sodass seine spitzen Zähne zum Vorschein kamen. „Damals als die Ambrosia-Einrichtung zerstört wurde, bin ich gar nicht erst nach Hause gegangen. Ich glaube, ich war zu dem Zeitpunkt bereits fünfzehn gewesen und mir war klar gewesen, dass Menschen nicht sonderlich gut auf Mutanten reagieren würden. Also bin ich umher gestreift. Meist in der Nähe der Umgebung, die ich kannte. Meine Cousine, Enya, hatte seit die erste Meldung über ein Monster ähnliches Kind erschien, das am Haus eines Ehepaares klingelte und behauptete, der seit Jahren vermisste Sohn zu sein, die Hoffnung, dass auch ich noch am Leben war und zu diesen veränderten Kindern gehörte. Also hat sie sich auf die Suche gemacht. Und mich letztendlich gefunden."

Gebannt hatte ich Samuels Erzählung verfolgt. In meinen Ohren hörte es sich unglaublich an, dass ein Mensch keinerlei Angst oder Vorurteile den Mutanten gegenüber hatte und durch die Mutanten sogar Hoffnung bekam. Es war unfassbar, dass es scheinbar auch noch solche Menschen wie Enya gab. Und das wiederum gab mir Hoffnung. Enya konnte nicht die Einzige sein. Vielleicht gab es da draußen irgendwo weitere Menschen, die in den Mutanten immer noch die Menschen erkannten, die sie einst gewesen waren.

Freya Winter - MutantWo Geschichten leben. Entdecke jetzt