Trauer

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Das erste der neuen Kapitel. Heimat sollte, von Lesern, die die Betaversion kennen, zuerst gelesen werde, damit man den weiteren Verlauf besser verstehen kann.

Luxe

In jedem Film hätte es geregnet. Nur vereinzelt wären schwarz gekleidete Gestalten über den großen Hof gelaufen, irgendwo hätte sich eine Frau an der Schulter ihres Mannes ausgeweint und die Glocken hätte man läuten hören.

Vielleicht, wenn das hier das Ende des Films gewesen wäre, dann hätte die Sonne wie jetzt geschienen. Der Protagonist hätte an dem Grab gekniet und erzählt, was er alles erreicht hatte und wen er alles auf dem Weg kennengelernt hatte.

Dann, wenn er fertig gewesen wäre, wäre der Protagonist zu seiner großen Liebe gelesen, die ihn mit einem liebevollen Blick umarmt hätte. Plötzlich wäre das Leben des Protagonisten so viel einfach als während des gesamten Films.

Doch das wahre Leben lief nicht so. Die Sonne mochte vielleicht scheinen, und ich starrte auf ein Grab hinunter. Doch irgendwo im Hintergrund jagten sich zwei Kinder über die Gräber und ein Mann, wahrscheinlich ihr Vater, schimpfte währenddessen über sie. Eine Gruppe älterer Frauen stand nahe eines großen Containers für die vertrockneten Gewächse und schüttelte den Kopf über den eindeutig überforderten Mann.

Und ich? Ich fühlte mich garantiert nicht besser. Ich schaffte kaum, zu Lächeln. Dazu kam mir diese ganze Sache einfach zu unfair vor. Bloß weil ich jetzt jemanden gefunden hatte, dem ich etwas bedeutete, hieß das noch lange nicht, dass er sie ersetzen konnte.

Denn niemand konnte meine Eltern ersetzen. Das hatte ich ihnen, wie klischeehaft, auch schon vor ein paar Minuten erklärt. Auch hatte ich Mom erzählt, dass sie die Wette gegen Dad gewonnen hatte. Ich hatte einen festen Freund bevor ich studierte. Ich hatte sie damals für Idioten erklärt, als sie mir davon erzählt hatten, doch jetzt hielt ich mich an solchen Erinnerungen fest.

Während ich hier gestanden hatte, hatte ich so viel erzählt. Ich hatte nicht einmal gewusst, dass ich so viel zu erzählen hatte. Doch mittlerweile sah ich nur noch diese verdammten Platten, die ihre Überreste markierten. Und ich kam mir so blöd vor, dass ich mit der Asche ein Zuhause verband.

„Hey, alles in Ordnung?"

Ich hob den Kopf und sah direkt zu Rhyse, der mich mit besorgtem Blick musterte. Für einen Moment erwiderte ich den Blick, dann senkte ich den Kopf und schüttelte ihn.

„Nein."

Rhyse antwortete nicht, doch ein Arm fand seinen Weg um meine Hüfte.

„Ist es nicht total dumm, zu Asche zu reden? Ich meine, ich könnte auch an jedem anderen Ort zu ihnen sprechen, es würde keinen verdammten Unterschied machen."

Ich murmelte die Worte nur leise, doch Rhyse schien sie gehört zu haben, nach dem plötzlich festeren Griff um meine Hüfte zu urteilen. Dann räusperte er sich.

„Frau und Herr Warner? Ich bin Rhyse McLaney, der Freund ihres Sohnes."

Mein Kopf schoss in die Höhe und ich betrachtete Rhyse, der mir kurz ein kleines Lächeln zuwarf, seinen Blick dann aber wieder auf die hellen Steine senkte. Ich wandte meinen Blick keinen Augenblick ab, während er fortfuhr.

„Luxe hatte es schwer, in den letzten Monaten. Mir hat er es auch nicht gerade leicht gemacht, glauben Sie mir. Aber ihr Sohn ist, trotz der ein oder anderen dummen Tat, immer noch ein guter Junge. Vermute ich zumindest.

Sie haben alles bei ihm richtig gemacht, da bin ich mir sicher. Wann immer er etwas tut, was er von Ihnen gelernt hat, wirkt er lebendiger als sonst. Beim kochen zum Beispiel. Ich habe noch nie jemanden gesehen, der bei der Zubereitung eines simplen Frühstücks so glücklich wirkte. Oder der so leidenschaftlich Basketball gespielt hat. Oder so erfüllt aussah, wenn er nach Hause gekommen ist.

Jedenfalls, ich denke, dass Sie sehr stolz auf ihn sein können. Das bin ich zumindest. Und ich hoffe, dass Sie mit mir als Freund zufrieden sein können. Ich werde mein Bestes geben, das verspreche ich. Schließlich hat Luxe nur das Beste verdient."

Rhyse richtete seinen Blick wieder auf mich und schenkte mir ein weiteres Lächeln. Ich erwiderte es, dann ließ ich meinen Kopf kurz gegen seine Schulter fallen und atmete tief durch.

Nach einem Augenblick hob ich den Kopf wieder und sah auf ihre Gräber hinab.

„Ich habe euch verdammt lieb", flüsterte ich dann, immer noch lächelnd.

Dann ließ ich mich von Rhyse wegführen. Und ich konnte nicht anders als zu denken, dass jemand, dem man vertraute und den man liebte, die ganze Sache vielleicht doch etwas leichter machte.

Den Rest des Tages verbrachte ich damit, Rhyse von meinen Eltern zu erzählen. Und verdammt, er reagierte immer richtig, obwohl ich nicht einmal gewusst hatte, dass es richtige Reaktionen gab.

„Einmal, da haben meine Eltern sich geweigert, mir mein Lieblingseis zu kaufen, weil sie sauer auf mich waren. Außerdem war es schon ziemlich dunkel draußen. In meiner kindischen Wut habe ich dann gewartet, bis sie im Wohnzimmer einen Film eigeschaltet haben, dann habe ich mich durch die Hintertür rausgeschlichen.

Ich habe es keine zwei Straßen weit geschafft, dann hatte ich mich schon verirrt. Ich hatte keine Ahnung mehr, wo ich eigentlich war. Meine Eltern haben mich ziemlich schnell gefunden. Ich glaube das war das erste und einzige Mal, dass meine Mutter mich angeschrien hat. Sie waren so außer sich."

Als ich das erzählt hatte, hatte er nur gelacht. Und dann hatte er plötzlich Schokoladeneis hervorgezaubert, meine Lieblingssorte.

„Meine Eltern waren außer sich, als sie von Ricks Verhalten nach dem Gerücht erfahren haben. Allein schon die Reaktion meiner Schule hat sie wütend gemacht. Die beiden wollten unbedingt etwas machen, mich zum Beispiel von der Schule nehmen oder mit meinen Lehrern darüber sprechen.

Aber ich habe mich geweigert. Ich wollte nicht vor dem Problem weglaufen oder die Erwachsenen mein Problem lösen lassen. Ich weiß, das war wahrscheinlich dumm, aber ich hatte das Gefühl, dass nur ich es geradebiegen konnte.

Und sie haben mir tatsächlich erlaubt, dass selbst zu klären. Aber sie haben mir dennoch dadurch geholfen. Wann immer die anderen dafür gesorgt haben, dass ich einen wirklich schlechten Tag hatte, haben meine Eltern mich aufgemuntert. Zum Beispiel haben Dad und ich Basketball gespielt, auch wenn wir viel zu spät aufgehört haben.

Sie haben mich nie dazu gezwungen, ihnen zu erzählen, was passiert ist. Manchmal saßen wir nur zusammen und haben eine Serie oder einen Film geschaut. Und dann, wenn ich bereit war, haben sie mir immer zugehört. Mom hat sogar einmal ihren Chef am Telefon abgewimmelt, damit ich ihr erzählen konnte, was passiert ist.

Sie waren immer mein Fels in der Brandung, die einzigen Menschen, die mich wirklich so angenommen haben, wie ich bin. Das sie plötzlich nicht mehr da waren. Nicht mehr da sind, dass tat so viel mehr weh als alles andere zuvor."

Rhyse hatte mich wortlos ein wenig fester umarmt. Und mehr hatte ich in diesem Moment auch nicht gebraucht. Was auch immer er hätte sagen können wäre nämlich im Endeffekt verschwendete Liebesmühe gewesen. Denn manchmal machten Worte alles nur noch schlimmer.

.....

𝔻𝕖𝕤𝕡𝕖𝕣𝕒𝕥𝕖 𝕃𝕠𝕧𝕖Where stories live. Discover now