Prologue

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„Nein! Wie oft soll ich dir noch sagen, dass diese Beeren nicht genießbar sind?" Mit schnellen Schritten kommt mein Bruder auf mich zu und schlägt mir die Beeren, die doch so verlockend saftig und genießbar aussehen, aus der Hand. „Du kapierst es echt nie, hä?"
„Aber...", beginne ich und blicke auf die schönen, saftig-roten Beeren, die nun am Bodend zwischen all dem Moos, Steinen, Blättern, liegen. Sie sehen zu verlockend aus als dass man sie nicht essen könnte.
Harsch werde ich unterbrochen: „Nichts aber. Du wirst sie nicht essen!"
Erlegen seufze ich und bringe dann ein schwaches „Werde ich nicht." über die Lippen.

Scheinbar glücklich über diese Antwort nickt er und hält mir dann eine Handvoll kleiner, blauer Beeren hin. Wilde Heidelbeeren. „Iss die. Ich habe sie vorhin gepflückt. Waren wohl wieder reif." Mit seinem Kopf deutet er auf ein paar Sträucher, nicht unweit von uns. Zwar esse ich diese Beeren auch sehr gerne, doch viel lieber würde ich doch diese roten Beeren, die jetzt nun nutzlos am Boden kullern, essen. Dass sie giftig sind, kann ich mir einfach nicht vorstellen. Zwar ist hier vieles, was genießbar scheint, giftig, doch bei diesen Beeren will ich es einfach nicht wahrhaben und glauben.

Doch meinem Bruder zuliebe esse ich dann doch lieber die Heidelbeeren und lasse die roten Beeren am Boden rote Beeren sein. Ob giftig oder nicht sei jetzt einmal dahingestellt.

Er überreicht mir die Früchte, schnappt sich den Bogen am Boden, der mir bislang gar nicht aufgefallen war und lässt mich dann mit den Worten „Ich gehe mal unser Abendessen jagen!" allein.

Seufzend setze ich mich auf den vermoosten Boden und esse die blauen Beeren. In Momenten wie diesen komme ich mir einfach nur verdammt nutzlos vor. Während mein Bruder jagen geht, sitze ich hier einfach nutzlos am Boden und esse die Beeren, die ich nicht einmal selbst gepflückt habe. Manchmal frage ich mich echt, warum mein Bruder mich nicht einfach schon längst allein gelassen hat, ohne mir ginge es ihm doch viel besser.

Er kann mit Pfeil und Bogen umgehen.
Er könnte selbst bei unbekannten Pflanzen auf Anhieb erkennen, ob sie genießbar sind oder nicht.
Er verliert nie die Orientierung.

Ich hingegen habe nach etlichen Versuchen meines Bruder es noch immer nicht geschafft, den Bogen richtig zu spannen.
Ich kann bei diesen roten, unbekannten Beeren einfach immer wieder nicht widerstehen, sie zu pflücken, bin immer knapp davor, sie zu essen.
Ich verirre mich immer wieder mehr oder minder im Wald.

Als ich die Beeren fertig gegessen habe, schüttle ich diese Gedanken, die ich nicht zum ersten Mal habe, ab und erhebe mich, überlegend, was ich jetzt mit der Zeit anfangen soll, bis mein Bruder wieder da ist. Denn wenn er jagen geht, braucht er für gewöhnlich doch ein wenig Zeit. Bestenfalls. An manchen Tagen vermag er auch gar kein Wild zu finden, dann ernähren wir uns an diesen Tagen nur von Beeren - die größtenteils mein Bruder pflückt - oder Wurzeln, welche zumeist ich sammle. In seltenen Situationen essen wir auch andere, genießbare Pflanzen, sofern denn welche vorhanden sind.

Leise seufze ich, ehe mein Blick wieder auf die schönen, roten Beeren fällt, die nun zermatscht vor mir am Boden liegen, da einer von uns beiden wohl unabsichtlich - oder vielleicht tat es mein Bruder, ohne dass ich es bemerkte, gar absichtlich? - auf diese gestiegen ist. Um mir zu vergewissern, wer es denn war, blicke ich auf meine nackten Fußsohlen, die zwar dreckig vom Leben hier im Wald sind, jedoch keinerlei frische, rote Abdrücke beinhalten. Also war es wohl doch mein Bruder gewesen!

*
Einige Zeit später kommt mein Bruder dann zurück. Mit nur seinem Bogen und einem Köcher in der Hand. Er sieht recht deprimiert aus. ,,Irgendwie konnte ich heute kein einziges - kein einziges, verdammt nochmal! - Wild sichten."
 ,,Macht doch nichts. Dann essen wir heute eben nur Beeren und Wurzeln", erwidere ich, wohl versuchend, ihn ein wenig aufzubauen, da er gerade mehr als verzweifelt aussieht.
,,Verstehst du denn nicht? Es hat einfach keinen Sinn mehr, hier zu leben! Irgendwann wird auch dieser Wald - wie auch die anderen beiden Wälder, aus denen wir flüchten mussten - abgeholzt werden. Und dann können wir uns wieder von Neuem einen schönen Wald, irgendwo im Nirgendwo suchen, wo wir uns dann wieder neu orientieren müssen und hoffen, dass es sich dort halbwegs gut lebt. Nein, so können wir nicht weiterleben. Wir haben noch den Großteil unseres Lebens vor uns. Lass uns doch lieber irgendwo in der Zivilisation, bei den anderen Menschen, leben."

,,Das ist jetzt doch nicht dein Ernst, oder?" Mit Entsetzen blicke ich ihn an. Jetzt, nach all den Jahren, die wir hier gemeinsam im Wald, abseits jeglicher Zivilisation verbracht haben, will er das ändern? Einfach so, ohne wirklichen Grund?
Beschämt blickt er zur Seite, ehe er kalt erwidert. ,,Klar, oder willst du hier im Wald etwa ewig, bis zu deinem Tode, schmoren? Ich mein, ich weiß nicht, ob das Leben hier im Wald wirklich Sinn hat. Auf lange Sicht, versteht sich."

The other way of lifeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt