85 - Auf der Kippe

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Im Nebel glomm der Stein in ihrer Brust sanft.

Er erinnerte sich daran, dass sie kaum noch stehen konnte.

Er musste sanfter zu ihr sein. Schließlich war sie hier.

„Ich verspreche dir, wenn das hier vorbei ist, werde ich dafür sorgen, dass es dir gut geht."

Sie war an einer Wand voller Grafitti zu Boden geglitten.

Er bemerkte erst jetzt, dass sie Lukas schwere Jacke über dem dünnen Nachthemd trug.

Man hatte ihr viel zu große Soldatenstiefel besorgt.

Das Blut war inzwischen angetrocknet und das Kleid klebte ihr am Körper.

Obwohl sie so schrecklich aussah, war sie immer noch schön, schien aber viel zu zerbrechlich für das, was jetzt vor ihnen allen lag.

Er sah die Zweifel in ihren Augen, aber sie sagte nur „Dann sorgen wir dafür, dass es vorbei geht." und senkte den Blick auf den Bildschirm.

Julian ließ zwei Soldaten bei May, die wieder in den Jet zurückkehrte. Lukas und der Verbleibende würden ihn begleiten.

Er schnallte sich ein Drahtseil an den Gürtel, warf eine dunkle Jacke über und ließ sich von May das Headset einstellen.

„Passt auf, da draußen", sagte sie, als sie ihre Arbeit noch ein letzte Mal betrachtete.

„Die Farblosen waren zwar gerade einem Anschlag ausgesetzt, aber das heißt nicht, dass es nicht gefährlich sein wird. Wohlmöglich sind schon Soldaten unterwegs."

Er musterte sie und die Stille war gerade drauf und dran unangenehm zu werden, als er sagte:

„Danke. Für alles."

Sie lächelte nicht, sondern zuckte nur die Schultern.

„Ich konnte nicht zusehen. Und deswegen ist alles, was ich hatte, jetzt weg."

Sie war so ruhig, stand da wie eine Statue. Er konnte nicht anders. „Bereust du es?"

Sie fasste ihr offenes Haar im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammen, bevor sie es wieder über ihre Schultern fallen ließ.

Nervös.
Unentschlossen.
Das war die May, die er gekannt hatte.

„Ich weiß es nicht", murmelte sie noch, bevor sie sich abwandte. Sekunden später marschierten Julian und seine Soldaten in den farblosen Bezirk hinaus.

Er rannte durch die engen, leeren Straßen, vorbei an kaputten, halb verrosteten Autos, umgeknickten Laternen, zugenagelten Fenstern und ausgerissenen Türen.

Immer wieder lagen ihnen riesige Steinbrocken im Weg, Schutt, der aus den Wolkenkratzern gebröckelt war. Hier gab es keinen Strom, kein fließendes Wasser, keine Caz Kristalle und kein Perlmutt an den grauen Wänden.

Während hasserfüllte Graffitis gegen die Regierung vorbei zogen, Glassplitter unter den schweren Schuhen knirschten und der keuchende Atem der drei Männer in den leeren Straßen wiederhallte, grollte Donner zwischen den düsteren, windgepeitschten Wolkenbergen am Himmel.

Was tat er hier eigentlich?

Er jagte einer Toten hinterher.
Der Gedanke war so schmerzhaft, dass er am liebsten geschrien hätte. Denn es war seine Schuld, seine allein.
Hatte sie denn nicht schon genug gelitten?
Sie war tot.
Cress war tot.

Er hämmerte sich diese Tatsache in den Kopf, während sie auf einen Platz hinaustraten.
Leere Straßen, das Weiß der Markierungen war mit der Zeit verschwunden.
Wasser stand in den metertiefen Schlaglöchern.
Der Benzinkanister, den sie statt des kleinen Fläschchens aus dem Erstehilfe Set mitgenommen hatten, drückte gegen seinen Rücken.
May hatte Recht.

Zumindest diesen Dienst konnte er Cress noch erweisen.

Er atmete tief ein und aus.
Und akzeptierte, dass die Diebin genauso tot war, wie seine Eltern. Wegen ihr ein Feuer zu entfachen war gefährlich, es zog zu viel Aufmerksamkeit auf sich.
Doch das war ihm egal.

Überhaupt waren sie noch niemandem begegnet, obwohl sie sich schon mehrere Kilometer tief im farblosen Bezirk befanden.
Julian kam vor einem alten Kino zum Stehen.
Man konnte von außen sehen, dass sich jemand darin einquartiert hatte, obwohl kein Mensch weit und breit zu sehen war.
Ein ungutes Gefühl kroch Julians Rücken hinauf, als er sich zu den anderen umdrehte.
Er war so fixiert auf sein Ziel gewesen, dass er nicht bemerkt hatte, dass etwas hier fehlte:
Die Menschen.

„May?", fragte er in sein Headset.

Es war das erste Geräusch seit über einer Stunde.

„Ich weiß", antwortete sie leise. „Hier ... ist niemand. Auf keiner Kameraaufnahme kann ich irgendjemanden sehen. Weder tot, noch lebendig. Keine Farblosen. Niemand."

Zutiefst beunruhigt traf Julians Blick den von Lukas.

„Das gefällt mir überhaupt nicht."

„Immerhin werdet ihr so nicht ..."

Sie brach mitten im Satz ab.

Er deutete geradeaus und die Truppe setzte sich wieder in Bewegung. Zumindest so lange, bis die Stimme der Hohen durch Julians Headset hallte.

„Ich habe sie."

Er blieb wie angewurzelt stehen. „Was?"

„Ich habe sie. Oder besser, ihre Hand."

Sein Mund wurde trocken.

„Bist du dir sicher?"

„Ja.", murmelte May konzentriert und fügte dann lauter hinzu:

„Ja, verdammt, sie hat dieses Tattoo."

„Wohin? Sag mir, wo wir hinmüssen! Kannst du uns führen, May? Hast du eine Karte?"

Sein Kopf drehte sich.

„Julian.", ihre Stimme war so tödlich ruhig, dass er innehielt.

„Ja?"

Er sah nicht, dass sich May im Jet mit gerunzelter Stirn vorbeugte, um ein zerschundenes Handgelenk zu mustern.

Ein Handgelenk, an dem an den viel zu weit hervorgetretenen Adern ein kaum sichtbarer Puls tanzte.

„Julian", setzte sie noch einmal an, so ungläubig, dass sie fast andächtig klang.

„Cress lebt."

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