Abendrot

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Rot.
Alles ist rot. Ein purpurner See auf kalt weißem Grund, eine reißende Flut.
Sie strömt aus ihr heraus und sammelt sich in einer Lache, rinnt einen Weg suchend in alle Richtungen. Ihm kommt der Gedanke, dass es aussieht, als würde eine Spinne ihr Netz durch die Fugen des Küchenbodens weben. Ein rotes Netz. Ein Netz aus Blut.

Auch sie scheint rot, die Luft, die er atmet. Rot wie die Sonne, die nach dem langen Tag am Horizont versinkt und schließlich von der Decke der Nacht erstickt wird. Es ist ihre Sonne, die untergeht, wie ihm plötzlich klar wird. Und sie wird nie wieder aufgehen.

Das Telefon wiegt schwer in seiner Hand. Mit zitternden Fingern wählt er den Notruf.
112.
Wut kocht in ihm hoch; das Handy kracht gegen die Küchenzeile und das Display zerspringt in tausend Teile. So wie ihr Herz zersplittert ist, denkt er. Kein Arzt der Welt kann heilen, was sie zerstört haben, hat sie gesagt, doch mit einem Mal überkommen ihn Zweifel... Ist es wirklich das Richtige gewesen? Hat es keine andere Lösung gegeben? Er schüttelt den Kopf, um die Gedanken zu verscheuchen. Er würde jetzt nicht schwach werden.

Ihre starr auf ihn gerichteten Augen sind grau wie ein Nebeltag und ihr Blick scheint durch ihn hindurchzugehen. Sie kann jetzt sehen, was ihm verborgen bleibt, da ist er sich sicher. Ob auch sie die leuchtenden Farben des Sonnenuntergangs draußen vor dem Fenster betrachten kann? Rot, so viel rot in all seinen Facetten: Die Sonne, die nach dem langen Tag am Horizont versinkt und schließlich von der Decke der Nacht erstickt wird.

Er kniet neben ihr nieder und nimmt ihre kalte Hand in seine. Er bleibt bei ihr, bis auch das letzte bisschen Rot aus ihr heraus gesickert ist.


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