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Das Ende vom Anfang

Boston, Massachusetts

April 1862

In den Straßen war es laut, als sich Claire, tief in Gedanken versunken, vorsichtig einen Weg über das Pflaster bahnte, um dem Schlamm in den Gossen auszuweichen und den Haufen von Unrat, die sich selbst auf den breiteren Hauptstraßen türmten. Die Stadt schien von einer brütenden, lebensfröhlichen Atmosphäre erfüllt, während ihre Bewohner der Arbeit nachgingen. Doch der schrille, schauerliche Schrei ließ sie mit einem Ruck wieder aus ihren Gedanken hochfahren, hellwach und in Alarmbereitschaft blickte sie um sich.

"Großmama, G-Grace, was ist passiert?", schrie sie in Richtung einer älteren Frau, die sich kniend auf dem Boden krümmte. Sie rannte auf sie zu und warf sich neben ihr auf den Boden. Grace rang um Luft, ihr Brustkorb sank und hob sich, ihr Haar hing wirr im Gesicht und ihr Puls raste. Claire und andere Anwesenden versuchten sie aufzurichten, zu denen auch Stefan, ein guter Freund von Claire, gehörte. "Bringen wir sie schnell zu meiner Mutter, Stefan." In der zärtlichen Stimme schwang ein flehender Unterton mit. Stefan erwiderte mit einem Nicken und hob die ältere Frau vorsichtig hoch.

"Die Schüssel mit kaltem Wasser steht auf dem Tisch", wies Victoria ihre Tochter an. "Und das Pulver steht da drüben im Regal." Sie war zu intensiv damit beschäftigt, Grace zu untersuchen, um Claires schockierten, leichenblassen Gesichtsausdruck zu bemerken. Bitte Herr, sie muss es schaffen. Claire drehte sich hastig um, als die Tür aufging und ihre Mutter hereinkam. "Sie hat es geschafft, oder?" "Es sieht leider nicht gut aus, mein Kind. Grace leidet an einer starken Lungenentzündung, die leider das Endstadium erreicht hat." "Nein, Ma...das kann nicht sein, Großmutter hat schon so vieles überstanden und du, du kannst sie heilen, du wirst sie wieder gesundmachen! Ist das nicht so?", verzweifelt schaute Claire ihrer Mutter ins Gesicht. Als sie nichts darauf antwortete, brach Claire heulend zusammen. Victoria nahm sie in die Arme und versuchte sie zu beruhigen. "Es tut mir leid, Schatz."

Die Anzeige der Beerdigung von Grace erschien Ende April in der Gazette, gerade noch rechtzeitig, um für das letzte Gerücht der Saison zu sorgen. Stefan war in diesem Moment tief in Gedanken versunken und grübelte darüber nach, wie er die schweigsame Gestalt an seiner Seite am besten davon überzeugen konnte, das Angebot ihrer Mutter anzunehmen. "Salisbury ist eine tolle Stadt, Claire, dir würden so viele Türen bei deinen wohlhabenden Großeltern offenstehen. Du könntest Mengen an Kleidern und Schmuck besitzen, du könntest auf Bälle gehen und eine andere Umgebung würde dir bestimmt guttun." argumentierte er. "Willst du mich etwa loswerden?", vorwurfsvoll starrte Claire ihn an. "Ich kann nicht gehen. Mum braucht mich hier. Meine Freunde wohnen hier. Meine Großeltern habe ich noch nie kennengelernt. Mum erzählte mir, dass Großvater schon immer etwas gegen Amerikaner hatte. Er hat Dad nie akzeptiert! Und selbst nach dessen Tod, wollte er nichts von uns wissen." Mit einem gereizten Gesichtsausdruck stand Claire auf und lief zu ihrem offenstehenden Zimmerfenster, durch das man den großen, geliebten Garten ihrer Mutter erblicken konnte. Ihre Stimmung erhob sich sogleich, als sie den Anblick sah. Ihre Mutter liebte Blumen, genauso wie Claire. Durch den kleinen, versteckten Fluss hinter den Rosenbüschen, vernahm Claire das leise Plätschern wahr. Der Wind wehte die abgefallenen Blätter hinauf und fort. Die Vögel zwitscherten, Schmetterlingen ließen sich auf verschiedenen Blumenarten nieder, die Sonne schien durch die dichten Baumkronen durch. Diese Sicht könnte sie in Salisbury nicht mehr haben. All das hier könnte sie verlieren. Augenblicklich verdüsterte sich ihr Gesicht und ein leiser Seufzer entwich ihr. Stefans Stimme brachte sie schließlich in die Realität zurück. "Claire, ich verstehe deine Unruhe, aber deine Mutter meint es doch nur gut und sie wird schon wissen, was sie tut. Außerdem Grace hat sich das schon immer für dich gewünscht!" erwiderte er. Langsam drehte sich Claire um und blickte ihn nachdenklich an. Ihr bester Freund seit ihrer Kindheit, versuchte sie tatsächlich in ein Land zu schicken mit dem sie nichts verband. England. Wie sehr wollte sie als Kind ihre Großeltern kennenlernen, Mutters Heimatsland erkunden. Doch mit der Zeit verblasste dieser Wunsch und die Realität holte sie ein. Ihre Großeltern wollten sie nicht. Hier in Boston hatte sie alles. Ihre Freunde und Familie lebten hier. Doch, war es nicht schon immer der Traum von ihrer Großmutter Grace gewesen? Dass sie, Claire Montgomery, in eine gehobene Gesellschaft eingeführt werden soll? "Claire! Träum nicht! Sag mir lieber, wie du dich entscheidest!", äußerte Stefan nervös.

Unterdrückte LeidenschaftWhere stories live. Discover now