Kapitel 6: Aquamarine und Saphire

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Aquamarine und Saphire

»Warum das alles?« Anwen drehte sich nicht zu Kyle um – Huarwor, wie sie sich zwingen musste, ihn zu nennen. Er war nicht Kyle.

Kyle war ein Konstrukt, eine Geschichte, die sie für ihre Eltern erfunden hatte und doch glaubte sie, viel Zeit mit ihm verbracht zu haben, die keine einzige Lüge war. Sie schloss die Augen, als seine Finger sanft über ihre Wirbelsäule fuhren.

»Warum erpresst du mich mit dem Leben meiner Eltern, um mich dann in diesem Loft einzusperren? Wenn du eine Hure ...«

Die Matratze bewegte sich, er richtete sich auf und schob sich in ihren Rücken, die Oberschenkel zu ihrer Linken und Rechten gespreizt, umarmte er sie. Sie wehrte sich nicht gegen seine Berührung und lehnte sich an seine Brust. Die Kühle seiner Haut war nicht mehr so verstörend, fühlte sich sogar angenehm an. Noch bei ihrer ersten Begegnung hatte sie ein unterschwellig süßlicher Geruch abgestoßen, der an Verwesung erinnerte, doch seit sie zusammengezogen waren ...

Sie schloss die Augen und konzentrierte sich darauf, was ihr wirklich widerfahren war: Erpressung und Gefangenschaft – Huarwor, nicht Kyle. Das Erinnerungszentrum in ihrem Gehirn weigerte sich beides zu verarbeiten und verbündete sich lieber mit ihrem Riechzentrum. Weihrauch hatte sich seit einiger Zeit in den Vordergrund gedrängt, als hätte Huarwor in ihrer Gesellschaft zu seinen dämonischen Wurzeln zurückgefunden. Sie rechnete sich diese Entwicklung nicht als Verdienst an und atmete noch bewusster ein, doch der Duft des Meeres setzte sich nicht gegen den Weihrauch durch.

»Ich war nicht auf der Suche nach einer Hure.« Sein Atem brachte ihr Haar in Bewegung. Es schien absurd, sich mit ihm zu unterhalten als wäre er ein One-Night-Stand, nach dem sie sich peinlich berührt fühlte, weil sie eigentlich nicht zu denen gehören wollte, die leicht zu haben waren. Das schlimmste war: sie fühlte sich nicht im Geringsten unwohl in seiner Gegenwart. Sie hatte erwartet, dass er ihr all die schrecklichen Dinge antat, für die seine Art gefürchtet wurde, aber bislang benahm er sich nicht wie ein Monstrum – er war Kyle, nicht Huarwor.

»Hast du eine Enaidh gesucht?« Sie hatte während ihrer Recherchen Hinweise auf das Wesen einer Anamchaith-Enaidh Beziehung ausgegraben, die Fionas Warnung den Boden entzogen hatte. Die Quellen sprachen nicht von Seelenversklavung, sie sprachen von Liebe und davon, dass eine Enaidh die Gefährtin des Anamchaith gewesen war. Leider verschwiegen sie, weshalb sich das im Laufe der Zeit geändert hatte und aus Seelengefährten Herr und Sklavin geworden waren.

»Du weißt sehr viel für eine junge Frau, die mehr in der Welt der Sterblichen lebt als in der, in die sie eigentlich gehört.« Es verunsicherte sie nicht länger, dass er in ihren Gedanken las wie in einem offenen Buch, nicht solange er es nicht gegen sie verwendete und ihr seine aufzwang oder schlimmeres. Es störte sie nicht, sofern er den an die Oberfläche ließ, dessen Augen wie dunkle Saphire waren, wenn er sie zärtlich liebte und auf dessen Haut der Duft des Meeres lag …

»Gehöre ich hierhin?« Es fühlte sich nicht nur in diesem Augenblick so an als würde sie das. Sie wusste sehr wohl um ihren Status als Mischling in seiner Welt, aber er hatte ihr bisher nicht das Gefühl gegeben, dass er wie die Mehrheit der Andersblütigen über die Vermischung der Spezies dachte.

»Für den Augenblick«, umschiffte er eine Antwort. Nicht die erste, seit sie den Mut gefunden hatte, ihn mit Fragen einzukreisen. Viel zu oft hatte sie ihm lediglich ein wissendes Lächeln abgerungen oder diesen Blick, mit dem er sie ansah und gleichzeitig durch sie hindurch als suchte er die Augen einer anderen.

»Wer war sie?«, wagte sie die direkte Frage. Anwen war keine Beziehungsexpertin, aber wenn er auch nur eine Prise Zuneigung zu ihrer mutmaßlichen Vorgängerin empfunden hatte, litt er möglicherweise unter der Trennung oder dem Verlust ... und möglicherweise entwickelte sie eine massive Form des Stockholm Syndroms.

Cathaòir - Das Legat der FiannahWhere stories live. Discover now