Prolog: Verwandlung

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Eine Frage

Wie fühlt es sich an?

Eigentlich ist es wie...fallen.
Stell dir vor, du stehst auf einer Klippe, ohne die Fähigkeit zu sehen. Direkt an der Kante. Du weißt, dass sie da ist, aber du weißt nicht, wie nahe. Du hörst den Ruf des Meeres unter dir, er zerrt an dir wie tausend Hände, doch du weißt, dass es gefährlich ist, sich fallen zu lassen. Deswegen lässt du es. Der Abgrund flüstert zu dir, er weiß um all deine Probleme und verspricht dir eine Lösung dafür, du musst nur fallen. Der Sog wird immer stärker, immer lauter der Ruf. Deine Vernunft kämpft gegen das Verlangen an, dich fallen zu lassen, und du spürst diese Mächte um dich ringen.
Und dann, plötzlich, gewinnt das Verlangen. Du breitest die Arme aus wie ein Drache die Flügel, obwohl du weißt, dass du nicht fliegen kannst, und lässt dich nach hinten kippen. Das Adrenalin schießt durch deinen Körper, du fühlst dich wie im Rausch und weißt, dass der Ruf des Abgrundes recht hatte. Es tut weh, zu fallen, der Sturm schneidet durch deine Kleidung wie tausend Klingen, und gleichzeitig ist es großartig, und dein Schrei, eine Mischung aus Ekstase und Schmerz, wird dir vom Wind von den Lippen gerissen.
Wenn dein Körper ins Meer taucht, tut es so weh, dass du brüllst wie ein Löwe, doch was du hörst, ist ein gedämpftes Heulen, ein Schrei unter Wasser. Deine Sinne sind fast nicht vorhanden, benommen vom Aufprall. Kälte umfängt dich, schwarz und kalt, wie ein Leichentuch.
Dann verschwindet deine Blindheit, gestohlen vom Sog des Meeres, deine Sicht ist so klar wie noch nie, und plötzlich sind deine Sinne scharf wie Messer. Du hörst alles um dich herum, jedes Lebewesen in deiner Nähe, das Meeresrauschen ist beinahe ohrenbetäubend, du siehst die Schwebeteilchen im Wasser, die eisige Kälte wird zu einer angenehmen Wärme, nicht zu warm und nicht zu kalt, genau so, dass du dich perfekt bewegen kannst, du wirst eins mit dem Meer. Wenn du den Mund öffnest, schmeckst du Salz und Tiere, eine Verheißung von Abenteuer und Jagd und Blut, ihr Geruch steigt dir in die Nase und du willst rennen und kämpfen und töten, und du vergisst, dass du jemals auf einer Klippe gestanden bist und dich erst zum Fallen überwinden musstest. Dass du gefallen bist, ist das Beste, das du je getan hast. Du willst nie wieder zurück.
Doch dann meldet sich die Vernunft, die besiegt wurde, doch unsterblich ist, und sagt dir, dass du zurück auf die Klippe musst. Du willst nicht, dein Körper will nicht, alles in dir kämpft gegen die Vernunft an, du versuchst sie zum schweigen zu bringen, doch es gelingt dir nicht. Sie schlägt ihre Krallen in dein Herz und du weißt, dass du dem Schmerz, den dir die Vernunft zufügt, entkommen willst.
Mit schwerem Herzen und Wut über deine Vernunft gleitest du auf die Felsen zu und ziehst dich über die Wasseroberfläche. Sofort erblindest du, deine Sinne schwinden und der Wind verwandelt das Wasser auf deiner Haut in Eis, das sich schmerzhaft um deinen Körper legt. Du fühlst dich schwer, vollgesogen mit Wasser, und das Meer schreit, weil es dich zurückwill, weil die Vernunft dich gestohlen hast. Zu einfach wäre es, sich wieder fallen zu lassen und wieder perfekt zu werden, sich mit der Umarmung des Meeres zu vereinigen, doch du kletterst weiter, immer auf den Gipfel der Klippe zu. Dein Körper beginnt zu schmerzen von den Anstrengungen des Aufstieges, du knurrst wütend die Klage des Abgrundes nieder und erreichst schließlich die Klippe.
Du fühlst dich schrecklich, ausgelaugt, müde, doch gleichzeitig wunderbar, gefüllt von den Erinnerungen als perfektes Wesen. Du kannst es kaum erwarten, wieder zurückzukehren, und stellst dich ruhig wieder an den Abgrund, er singt unter dir, ruft und lockt. Und du versprichst, zu ihm zu kommen, die Umarmung des Meeres zu spüren, doch nicht jetzt. Nicht heute. An einem anderen Tag. Bald.

Brotherhood - Zeit der JagdWhere stories live. Discover now